Das Thema
Der Entscheidung liegt ein Strafverfahren in Italien zugrunde, bei dem zwei in Italien langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige angeklagt wurden, einen Sozialleistungsbetrug begangen zu haben. Der Vorwurf lautete, falsche Angaben in ihren Anträgen auf Sozialhilfeleistungen zur Sicherung des Existenzminimums gemacht zu haben. Die Angeklagten hätten wahrheitswidrige Angaben zur Voraussetzung, mindestens 10 Jahre und davon die letzten beiden Jahre ununterbrochen in Italien gelebt zu haben, gemacht. Damit seien unrechtmäßig Beträge von insgesamt 3.414,40 EUR bzw. 3.186, 66 EUR erlangt worden. Das italienische Gericht in Neapel legte als Vorabentscheidungsersuchen das dargestellte Thema mit der Frage dem EuGH vor, ob diese Bedingung zur Beantragung des „Mindesteinkommens für Staatsangehörige“ mit der Richtlinie 2003/109/EG („Daueraufenthaltsrichtlinie“) vereinbar ist.
Mittelbare Diskriminierung
Der EuGH sieht die genannte Voraussetzung als eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung an. Sozialhilfe für Drittstaatsangehörige mit langfristigem Aufenthaltsrecht darf danach nicht an die Bedingung geknüpft werden, dass diese mindestens zehn Jahre in einem EU-Mitgliedstaat gelebt haben (EuGH, Urt. v. 29.07.2024 – C‑112/22 und C‑223/22).
Das Ergebnis des Gerichtshofs ergibt sich insbesondere aus Artikel 11 Abs. 1 d) der Daueraufenthaltsrichtlinie, der vorsieht, dass langfristig Aufenthaltsberechtigte auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe und beim Sozialschutz im Sinne des nationalen Rechts wie eigene Staatsangehörige behandelt werden. Mitgliedstaaten können die Gleichbehandlung bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die Kernleistungen beschränken (Art. 11 Abs. 4 der Daueraufenthaltsrichtlinie). Die Kompetenz solche Kernleistungen zu bestimmen, liegt nicht beim EuGH, sondern vorrangig beim nationalen Gericht. Bei seinem Vorabentscheidungsersuchen hat sich das italienische Gericht gegen die Anwendung dieser Beschränkung entschieden, da die beantragten Leistungen ausschließlich zur Sicherung des Existenzminimums dienen.
Der Gleichbehandlungsgrundsatz sei hier auch anwendbar, weil die Drittstaatsangehörigen bereits nach einem fünfjährigen Aufenthalt, sofern sie die weiteren Voraussetzungen der Daueraufenthaltsrichtlinie erfüllen, als langfristig Aufenthaltsberechtigte anzusehen sind. Damit ist nach der Richtlinie eine Gleichbehandlung im vorliegenden Fall vorgesehen. Die Argumentation des nationalen Gesetzgebers, dass die Bestimmung für italienische Staatsangehörige und Drittstaatsangehörige gleichermaßen gelte, könne nicht greifen. Es kommt laut EuGH durch die zeitliche Vorgabe der Wohnsitzbedingung zu einer mittelbaren Diskriminierung, da sie für Drittstaatsangehörige deutlich schwerer zu erfüllen sei. Diese „versteckte“ Form der Diskriminierung sei durch den in Art. 11 der Daueraufenthaltsrichtline verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz auch verboten.
Dieser Gedanke der mittelbaren Diskriminierung ist auch dem deutschen Arbeitsrecht hinreichend bekannt. Regelungen des Arbeitgebers, die beispielsweise nur für Vollzeit- und nicht für Teilzeitkräfte eine Prämienzahlung vorsehen, können Frauen gegenüber mittelbar diskriminierend wirken, da Frauen häufiger im Teilzeitarbeitsverhältnis tätig sind.
Rechtfertigung der mittelbaren Diskriminierung
Der EuGH führte weiter aus, dass „eine solche Diskriminierung grundsätzlich verboten ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist.“ Um gerechtfertigt zu sein, müsse eine solche Ungleichbehandlung dazu geeignet, erforderlich und angemessen sein, die Verwirklichung eines legitimen Ziels sicherzustellen.
Der italienische Gesetzgeber führte als Rechtfertigungsgrund auf, dass das im vorliegenden Fall beantragte „Mindesteinkommen für Staatsangehörige“ eine finanzielle Unterstützung darstellt. Diese hängt davon ab, dass die volljährigen Mitglieder eines Haushalts an einem maßgeschneiderten Programm zur Arbeitsvermittlung und sozialen Integration teilnehmen, basierend auf speziellen Vereinbarungen. Es handelt sich also um eine komplexe Maßnahme zur sozialen und beruflichen Eingliederung, die eine administrative Koordination erfordert. Deshalb hat der nationale Gesetzgeber den Zugang zu dieser Unterstützung auf Drittstaatsangehörige beschränkt, die dauerhaft in Italien leben und gut integriert sind.
Diese schriftliche Stellungnahme hat dem EuGH als Rechtfertigungsgrund nicht ausgereicht. Nach europäischem Recht stelle Art. 11 Abs. 2 der Daueraufenthaltsrichtlinie eine abschließende Abweichungsmöglichkeit vom Gleichbehandlungsgrundsatz dar. Danach muss der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt in dem Hoheitsgebiet liegen, in dem der langfristig Aufenthaltsberechtigte die Leistung beansprucht. Insbesondere könne der italienische Staat die 10-jährige Wohnsitznahme nicht mit der Bindung zum Mitgliedstaat begründen, weil eine solche Bindung gemäß der europäischen Richtlinie bereits nach 5 Jahren angenommen werde. Der Europäische Gesetzgeber war der Auffassung, dass ein fünfjähriger Aufenthalt bereits die „Verwurzelung der betreffenden Person in dem Land“ belegt. Die Verlängerung dieses Zeitraums mit der dargelegten Begründung stehe nicht im Einklang mit europäischem Recht. Folglich könne darauf auch keine strafrechtliche Sanktion gestützt werden.
Fazit und Bewertung
Insgesamt ist das Urteil des EuGH für die nationale Gesetzgebung der Mitgliedstaaten wegweisend, da es zeigt, dass europäische Richtlinien auch in Schnittstellenbereichen zu dem eigentlichen Regelungsinhalt eine Rolle spielen können. Der Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 11 der Daueraufenthaltsrichtlinie erwähnt u.a. den Zugang zur unselbstständigen und selbstständigen Erwerbstätigkeit, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen sowie steuerliche Vergünstigungen. Dabei kann der einzelne Mitgliedstaat bei den genannten Themen den Grad der Integrationsleistung, die langfristig Aufenthaltsberechtigte erbringen müssen, um Inländern gleichgestellt zu sein, nicht eigenständig vorgeben. Ziel des europäischen Gesetzgebers ist es, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung der „Verwurzelung im Staat“ an den Vorgaben des europäischen Rechts orientieren.