Das Thema
Es gibt derzeit kaum noch Betriebe, die von den Folgen der Corona-Krise nicht in irgendeiner Weise betroffen sind. Zeitgleich mit dem Virus breitet sich auch die Unsicherheit der Arbeitgeber darüber aus, wie mit der Ansteckungsgefahr umzugehen ist und welche Pflichten sie in dieser außergewöhnlichen Phase treffen.
Für Aufsehen sorgte insofern der Online-Händler Amazon, indem er seine Mitarbeiter mithilfe von Überwachungskameras auf die Einhaltung der betrieblich vorgeschriebenen Mindestabstände von 2 Metern kontrollierte. Hiergegen hat nun Amazons Betriebsrat eine einstweilige Verfügung vor dem Arbeitsgericht Wesel erwirkt. Das Gericht sah durch die Speicherung der Aufnahmen auf im Ausland gelegenen Servern eine Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 und 7 BetrVG.
Schutz der Mitarbeiter: Wie weit muss und darf ein Arbeitgeber gehen?
Der Arbeitgeber befindet sich in dieser Situation in einem Dilemma. Einerseits muss er aufgrund seiner Fürsorgepflicht seine Mitarbeiter vor einer weiteren Ausbreitung des Krankheitserregers mit drohender tödlicher Folge schützen. Andererseits ist er dadurch nicht von seiner Pflicht befreit, die Selbstbestimmungs- und Freiheitsrechte der Arbeitnehmer zu achten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie weit ein Arbeitgeber gehen muss und darf, um seine Arbeitnehmer, möglicherweise auch gegen deren Willen, zu schützen.
Rechte des Arbeitgebers
Grundsätzlich darf der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer zur Befolgung von angemessenen Schutzmaßnahmen verpflichten. Dies folgt aus dem in § 106 GewO verankerten arbeitgeberseitigen Direktionsrecht. Auf Arbeitnehmerseite besteht spiegelbildlich hierzu eine Mitwirkungspflicht an arbeitgeberseitig angeordneten präventiven Gesundheitsmaßnahmen. Das arbeitgeberseitige Direktionsrecht sowie die arbeitnehmerseitige Mitwirkungspflicht enden jedoch dort, wo die Grenzen der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit überschritten werden. Ob eine konkrete Schutzmaßnahme noch verhältnismäßig ist oder nicht, hängt insbesondere davon ab, wie schwerwiegend diese in die Arbeitnehmerrechte eingreift und ob der Eingriff durch ein überwiegendes berechtigtes Interesse des Arbeitgebers gerechtfertigt ist. Der Arbeitgeber muss sein berechtigtes Interesse anhand objektiv-konkreter Kriterien nachweisen. Innerhalb dieser Interessenabwägung ist auch zu berücksichtigen, welchen konkreten Gefahren die Arbeitnehmer bei der jeweiligen Tätigkeit ausgesetzt sind (insbesondere bei Berufen mit engem Kundenkontakt). Auch das Interesse an der Aufrechterhaltung des Betriebes und die Frage der Systemrelevanz des Betriebes ist mit einzubeziehen.
Zulässigkeit von arbeitnehmerseitigen Schutzmaßnahmen am Beispiel Amazon
Im Fall von Amazon greifen die angekündigten bzw. durchgeführten Maßnahmen in das Persönlichkeitsrecht und Recht auf körperliche Unversehrtheit der Arbeitnehmer ein. So hat jeder Arbeitnehmer im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts auch das Recht, einen Arzt nicht aufzusuchen. In der Rechtsprechung werden verpflichtende Gesundheitstests bisher nur dann als zulässig erachtet, wenn im konkreten Einzelfall tatsächliche Verdachtsmomente für eine Arbeitsunfähigkeit vorliegen, die zu einer Gefahr für Leben und Gesundheit Dritter führen kann.
Anhaltspunkte können sich etwa aus dem Auftreten mehrerer typischer Krankheitssymptome oder aufgrund eines Kontakts mit einem bestätigt Infizierten ergeben. Ein verpflichtender allgemeiner und anlassloser Test ist dem Arbeitnehmer aber nach der bisherigen Rechtsprechung nicht zuzumuten. Ob eine erhöhte Körpertemperatur einen hinreichenden Verdachtsmoment begründet, um einen Corona-Test zu rechtfertigen, ist zweifelhaft. Dies dürfte zumindest dann zu verneinen sein, wenn daneben keine Anhaltspunkte für eine Infektion zu verzeichnen sind, da eine erhöhte Temperatur auch anderweitige Ursachen haben kann und nicht zwangsläufig auf eine COVID-19-Infektion schließen lässt.
Der Arbeitnehmer ist auch im Übrigen nicht zur Auskunft über seinen Gesundheitszustand verpflichtet, sofern nicht im Einzelfall ein überwiegend berechtigtes Interesse besteht. Einer Aufforderung durch den Arbeitgeber, eine Bescheinigung über einen negativen Corona-Befund vorzulegen, muss der Arbeitnehmer daher im Grundsatz nicht nachkommen. Eine Ausnahme kann sich jedoch aus dem Rechtsgedanken des § 1 CoronaVMeldeV in Verbindung mit der Rücksichtnahmepflicht des Arbeitnehmers ergeben, wenn nach dieser Vorschrift eine Meldepflicht besteht. In einem solchen Fall kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass ein überwiegendes Arbeitgeberinteresse vorliegt.
Was die Überwachung von Arbeitnehmern mit Hilfe von Kameras betrifft, darf diese nur unter den Voraussetzungen des § 26 BDSG erfolgen. Während eine heimliche Videoüberwachung aufgrund der hohen Eingriffsintensität nur unter sehr strengen Voraussetzungen zulässig ist, wird die offene Videoüberwachung von der Rechtsprechung überwiegend als zulässig erachtet. Auch hier kommt es jedoch, wie auch der vorgenannte Beschluss des Arbeitsgerichts Wesel zeigt, darauf an, zu welchem Zweck, mit welchen Mitteln und für welche Dauer die persönlichen Arbeitnehmerdaten verarbeitet werden.
Pflichten des Arbeitgebers
Andererseits ist der Arbeitgeber durch die aus § 611 in Verbindung mit § 241 Abs. 2 BGB abgeleitete arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht zur arbeitsbezogenen Gesundheitsfürsorge für seine Arbeitnehmer verpflichtet. Die vom Arbeitgeber im Allgemeinen zu treffenden Schutzmaßnahmen werden dabei insbesondere in den Vorschriften des § 618 BGB sowie der §§ 3 und 4 ArbSchG konkretisiert. Im Rahmen dieser Fürsorgepflicht ist der Arbeitgeber gehalten, alle ihm zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Arbeitnehmer individuell möglichst effektiv vor einer Ansteckung mit COVID-19 zu schützen.
Diese Verpflichtung trifft jeden Arbeitgeber im Bundesgebiet gleichermaßen, und zwar unabhängig davon, in welchem Bundesland der Arbeitgeber tätig ist. Sie ist als Ausfluss des arbeitsrechtlichen Arbeitsschutzes Teil der konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 72 Abs. 1, Art. 74 I Nr. 12 GG und gilt wegen der Verankerung durch den Bundesgesetzgeber im BGB grundsätzlich für alle Bundesländer.
Der konkrete Umfang der Fürsorgepflicht ist für jeden Arbeitnehmer gesondert nach den jeweiligen Umständen zu beurteilen, sodass sich vor allen Dingen je nach Art, Größe und Lage des Arbeitsplatzes und konkreter Gesundheitsbedrohung auch innerhalb des Betriebs Unterschiede ergeben können. Eine Hilfe zur Konkretisierung kann sich durch Vorgaben öffentlich-rechtlicher Arbeitsschutzvorschriften, insbesondere aus den Umsetzungshilfen der Bundesagentur für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und speziell für die Corona-Pandemie aus dem „Arbeitsschutzstandard COVID-19“ des Bundesarbeitsministers ergeben.
Arbeitsschutz: Mögliche Handlungserfordernisse für Arbeitgeber
Aus dieser Betrachtung ergibt sich für die aktuelle Situation eine Reihe von denkbaren, im Einzelfall möglicherweise gebotenen Maßnahmen:
- Betriebliche Gefahreinschätzung, insbesondere unter Heranziehung der öffentlichen Beurteilung der Infektionsgefahr etwa durch das RKI
- Aufklärung und Information des Arbeitnehmers, insb. über die Ansteckungsgefahr während der Arbeit und die gesundheitlichen Folgen
- Sich daraus ergebende Abstandsregeln untereinander und im Kundenverkehr; Einführung von Telearbeit und sog. „Homeoffice“
- Anhalten oder Verpflichtung zur Einhaltung der Hust- und Niesetikette
- Dokumentation persönlicher Kontakte
- Intensivierung der Reinigung des Arbeitsplatzes
- Vorschriften über Schutzbekleidung, insb. dem Tragen von Mund-Nasen-Schutz während der Arbeitszeit
- Freistellung unter Entgeltfortzahlung bei besonders gesundheitsgefährdeten Arbeitnehmern mit Vorerkrankung
Für all diese und weitere denkbare Maßnahmen, die für den Arbeitnehmer einen Eingriff darstellen, gilt aber, dass sie verhältnismäßig sein müssen. Zudem hat der Betriebsrat bei der Gefährdungsbeurteilung, der Arbeitnehmerunterweisung und hinsichtlich der Hygieneregelungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 7 BetrVG in Verbindung mit § 12 Abs. 1 ArbSchG ein Mitbestimmungsrecht, das der Arbeitgeber zu wahren hat.
Weitere problematische Maßnahmen
Viel diskutiert und noch nicht obergerichtlich entschieden ist auch das Thema Homeoffice: Teilweise wird vertreten, dass sich das Weisungsrecht des Arbeitgebers nicht darauf erstreckt, die Wohnung des Arbeitnehmers einseitig als Arbeitsort zu bestimmen. Dies verstieße gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung des Arbeitnehmers.
Anders entschied das VG Berlin in einem Eilrechtsbeschluss auf Antrag einer Beamtin gegen die Direktion ins Homeoffice: Diese sei zu dulden, wenn sich nur der Ort der Arbeit für einen absehbaren Zeitraum und unter Zurverfügungstellung von Arbeitsmitteln und Arbeitsaufträgen ändere. In der derzeitigen Krisensituation gilt dies aufgrund der arbeitnehmerseitigen Rücksichtnahmepflicht auch für Arbeitnehmer der Privatwirtschaft: Solange es zumutbar ist, steht dem Arbeitgeber ein erweitertes Direktionsrecht zu, infolge dessen er auch die Wohnung als Arbeitsort bestimmen kann, wenn sich darüber hinaus das Wesen des Arbeitsverhältnisses nicht grundlegend ändert. Eine Berufung auf die Begrenzung des Direktionsrechts wäre bei geringen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers und gleichzeitigen erheblichen Nachteilen für den Arbeitgeber treuwidrig.
Zusätzlich kommt auch eine einseitige Anordnung von Zwangsurlaub in Betracht. Bei corona-bedingten Auftragsrückgängen und Lieferausfällen liegen in der Regel „dringende betriebliche Belange“ im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG vor, sodass der Arbeitgeber nicht auf Wünsche des Arbeitnehmers einzugehen hat und ausnahmsweise auch Betriebsferien für einzelne Arbeitnehmer oder ganze Abteilungen einseitig anordnen kann.
Fazit: “Lieber zu viel Schutz als zu wenig”
Wie lange Schutzmaßnahmen aufgrund der Corona-Pandemie noch erforderlich sein werden und ab wann sich die Fürsorgepflicht (zumindest stufenweise) wieder auf ein „normales“ Maß reduzieren wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt kaum absehbar. Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Pandemieeindämmung gilt für Arbeitgeber aber bis auf Weiteres das Motto „Lieber zu viel Schutz als zu wenig.“ Dies gebietet die arbeitgeberseitige Fürsorge- und Rücksichtnahmepflicht.
Um aber nicht über das Ziel hinauszuschießen und den Betriebsfrieden zu wahren, sollten Maßnahmen und deren angedachter Zweck und Dauer möglichst offen kommuniziert werden, um bei der Belegschaft Verständnis und Akzeptanz zu schaffen. Denn letztlich liegt der Infektionsschutz maßgeblich auch im Interesse der Beschäftigten, sodass Schutzmaßnahmen in der Praxis nur selten auf einen ernsthaft entgegenstehenden Willen stoßen dürften.