Das Thema
Mit seinem Urteil vom 18.10.2.22 (C-677/20; Pressemitteilung des EuGH v. 18.10.2022) stellt der Gerichtshof fest, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt werden soll, vorschreibt (Zur #EFAR-News).
Diesem Urteil voraus ging ein entsprechendes Ersuchen des BAG: Das BAG, das Zweifel in Bezug auf die Frage hat, ob die Richtlinie 2001/86 zur Ergänzung des Statuts der SE hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer nicht ein – gegebenenfalls von allen Mitgliedstaaten in gleichem Maß sicherzustellendes – einheitliches Schutzniveau vorsehe, das geringer sei als nach deutschem Recht, hatte um Unterstützung bei der Auslegung dieser Richtlinie ersucht (Beschl. v. 18.08.2020 – 1 ABR 43/18 [A]).
Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) im Fokus
Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) erfreut sich in Deutschland großer Beliebtheit – ein Erfolg, der von den Experten kaum erwartet wurde als der SE vor etwas mehr als zwanzig Jahren durch das „Wunder von Nizza“ endlich der gesetzgeberische Weg geebnet wurde. Warum sollte ein Unternehmen den dank des obligatorischen Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens mühsamen Weg des Formwechsels in eine SE auf sich nehmen – ohne erkennbaren Nutzen?
Populär ist die SE vor allem bei zwei Kategorien von Unternehmen, und zwar bei paritätisch mitbestimmten Unternehmen einerseits (allein im DAX finden sich aktuell zehn europäische Aktiengesellschaften) und bei eher mittelständischen (Familien-)Unternehmen. Während bei letztgenannten häufig die Möglichkeit, den aktuellen Status bezüglich der unternehmerischen Mitbestimmung „einzufrieren“ ein Motiv sein dürfte, lockt bei bereits paritätisch mitbestimmten Unternehmen u. a. die Möglichkeit, den Aufsichtsrat – freilich unter Beibehaltung der paritätischen Besetzung – zu verkleinern, die „Arbeitnehmerbank“ zu internationalisieren und, last but not least, sich die organisatorisch und finanziell ausgesprochen aufwendigen Aufsichtsratswahlen zu sparen.
Primär zielt die Verkleinerung des Aufsichtsrates sicherlich auf eine höhere Effizienz der Gremienarbeit, manches Unternehmen hat aber die Frage, ob die europäischen Arbeitnehmer bei einer Verkleinerung des Gremiums an der im Mitbestimmungsgesetz (§ 7 Abs. 2 MitbestG) verankerten Garantie von Sitzen zugunsten der deutschen Gewerkschaften festhalten möchten, gerne zum Gegenstand der Verhandlungen mit dem besonderen Verhandlungsgremium gemacht.
Der Fall der Beteiligungsvereinbarung der SAP SE
Und so findet sich in der – von den Vertretern der gesamten europäischen Belegschaft mit großer Mehrheit beschlossenen – Beteiligungsvereinbarung der SAP SE eine Regelung, nach der bei einer Verkleinerung des Aufsichtsrats von 18 auf 12 Mitglieder die Gewerkschaften zwar weiter Wahlvorschläge unterbreiten können, der in § 7 Abs. 2 MitbestG vorgesehene gesonderte Wahlgang für die gewerkschaftlichen Vertreter im Aufsichtsrat entfällt aber. Bemerkenswert daran ist, dass an den Verhandlungen über die Beteiligungsvereinbarung, wie im SEBG vorgesehen, Vertreter der bei SAP vertretenen Gewerkschaften teilgenommen haben – offenbar haben sie es nicht vermocht, die übrigen Vertreter der europäischen Belegschaft von der Notwendigkeit des gesonderten Nominierungsrechts der Gewerkschaften zu überzeugen.
Praktisch bedeutet diese Regelung in der Beteiligungsvereinbarung von SAP das Ende der Sitzgarantie, die Kandidaten der Gewerkschaften hätten sich im freien Wettbewerb um die Gunst der Arbeitnehmer bemühen müssen. Gegen diese Regelung haben die beiden bei SAP vertretenen Gewerkschaften, ver.di und die IG Metall, geklagt. Das Arbeitsgericht Mannheim und das LAG Baden-Württemberg haben die entsprechenden Anträge zurückgewiesen. Das BAG hat demgegenüber auf die Unwirksamkeit der betreffenden Regelung der Beteiligungsvereinbarung erkannt, diese Beurteilung jedoch zunächst dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 18.10.2022 (C-677/20) entschieden, dass eine Beteiligungsvereinbarung einen getrennten Wahlgang für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten vorsehen muss, sofern das nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft vorschreibt.
Der EuGH hat es aber nicht dabei belassen, nur die Vorlagefrage des BAG zu beantworten, sondern er ist in zweifacher Hinsicht darüber hinaus gegangen. Zum einen hat er klargestellt, dass das Recht, Kandidaten für den Aufsichtsrat zu nominieren nicht nur den deutschen Gewerkschaften zusteht, sondern auch allen europäischen Gewerkschaften, die in den Tochtergesellschaften und den Betrieben der SE vertreten sind. Vor allem aber hat er dargelegt, dass sämtliche „prägenden Vorschriften und Gepflogenheiten der Arbeitnehmerbeteiligung“ betreffend die umzuwandelnde Gesellschaft in der Beteiligungsvereinbarung zu berücksichtigen sind.
Eine rechtliche Einordnung und Bewertung
Die Entscheidung des EuGH überzeugt ebenso wenig wie der Vorlagebeschluss des BAG, eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Entscheidungen ist diesbezüglich bereits an anderen Stellen erfolgt.
Deshalb dazu nur ein Gedanke: der EuGH liest in Art. 4 IV RL 2001/86/EG eine weitgehende Pflicht zur Übernahme der im Land, in dem die umzuwandelnde Gesellschaft ihren Sitz hat, geltenden Vorschriften und Gepflogenheiten bezüglich der Arbeitnehmerbeteiligung hinein – und schwächt damit die Idee einer supranationalen Rechtsform mit einer von der europäischen Belegschaft privatautonom verhandelten, maßgeschneiderten Mitbestimmung, also genau die Idee, die der SE zum gesetzgeberischen Durchbruch verholfen hat.
Die Folgen: Handlungsempfehlungen und Ausblick
Die weit verbreitete Kritik an den Entscheidungen von EuGH und BAG ändert freilich nichts daran, dass sie Folgen für die Praxis haben:
- Das BAG stellt klar, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Wirksamkeit einer abgeschlossenen Beteiligungsvereinbarung bei der Arbeitsgerichtsbarkeit liegt, eine inzidente Prüfung im Rahmen eines aktenrechtlichen Statusverfahrens ist den Zivilgerichten verwehrt. Anders als das Statusverfahren setzt ein arbeitsgerichtliches Verfahren aber keine gesonderte Antragsbefugnis voraus, konsequent weitergedacht könnte demnach also jeder Arbeitnehmer einer SE – ein Feststellungsinteresse vorausgesetzt – die Unwirksamkeit der jeweiligen Beteiligungsvereinbarung geltend machen.
- Entgegen einer gelegentlich anzutreffenden Auslegung bedeutet die Entscheidung des EuGH offenbar nicht, dass im Zuge der Umwandlung in eine SE keine Verkleinerung des Aufsichtsrats erfolgen kann – die Größe des Aufsichtsrats ist kein tauglicher Gegenstand für die Beteiligungsvereinbarung, sondern fällt in die Zuständigkeit der Hauptversammlung als Satzungsgeberin.
- Wichtig: ein Verstoß gegen § 21 Abs. 6/Art. 4 IV RL 2001/86/EG führt anscheinend nicht zur Unwirksamkeit der Beteiligungsvereinbarung im Ganzen – und schon gar nicht zu einer Neuverhandlungspflicht über die Beteiligungsvereinbarung. Stattdessen ist die entstehende Lücke im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen, unter Zugrundelegung der Regelung, deren Missachtung Lücke in der Beteiligungsvereinbarung hat entstehen lassen. Dies muss richtigerweise ex nunc erfolgen, so dass Aufsichtsratswahlen, die vor Feststellung der Unwirksamkeit erfolgt sind, ihre Gültigkeit behalten, und mit ihnen auch die Beschlüsse des auf Grundlage dieser Wahlen zusammengesetzten Aufsichtsrats.
- Eine gewisse Ratlosigkeit ruft die Entscheidung des EuGH insofern hervor als sie statuiert, dass „das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat […] vorzuschlagen, nicht nur den deutschen Gewerkschaften vorbehalten“ ist, sondern „auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften ausgeweitet werden [muss], so dass die Gleichheit dieser Gewerkschaften in Bezug auf dieses Recht gewährleistet ist“. Solange – wie in der Vereinbarung der SAP SE vorgesehen – die den Arbeitnehmern zustehenden Aufsichtsratssitze proportional nach Belegschaftsgröße auf die verschiedenen Länder verteilt werden und diese Verteilung dazu führt, dass die Sitze für die Gewerkschaften auf das Deutschland zustehende Kontingent entfallen, müsste es nach wie vor auch zulässig sein, dass das Vorschlagsrecht für diese Sitze den deutschen Gewerkschaften vorbehalten ist. Erfolgt hingegen die Verteilung der Sitze nicht proportional, sondern einheitlich beispielsweise durch den SE-Betriebsrat, müsste konsequenterweise das Vorschlagsrecht für die separat zu bestimmenden Sitze der Gewerkschaftsvertreter allen europaweit im Konzern vertretenen Gewerkschaften zustehen.
- Die Entscheidung des EuGH gewährleistet aber nicht nur die europaweite Teilhabe der Gewerkschaften, sondern auch die der Arbeitnehmer. Daraus kann man aber nicht herauslesen, dass eine proportionale Verteilung der den Arbeitnehmern zustehenden Sitze im Aufsichtsrat nach Belegschaftsgröße, etwa durch eine Verteilung der Sitze auf die eine nach dem d’Hondt’schen Höchstzahlverfahren, nicht (mehr) zulässig ist. Und auch die durchaus verbreitete Nominierung der Aufsichtsratsmitglieder durch den SE-Betriebsrat dürfte jedenfalls dann zulässig sein, wenn der SE-Betriebsrat unmittelbar oder mittelbar von der gesamten europäischen Konzernbelegschaft gewählt wurde.
EuGH schafft Klarheit, aber auch weitere Unklarheit
Last, but unfortunately not least: die Entscheidung des EuGH hat zwar für Klarheit hinsichtlich der Vorlagefrage gesorgt, zugleich aber weitere Unklarheit geschaffen – was, so fragt sich die Praxis, gehört denn nun noch alles zu den von § 21 Abs. 6 SEBG/Art. 4 IV RL 2001/86/EG geschützten „prägenden Vorschriften und Gepflogenheiten der Arbeitnehmerbeteiligung“? Gehören dazu auch die – bisweilen folkloristischen – Elemente des Mitbestimmungsgesetzes wie das Wahlverfahren zur Bestimmung des AR-Vorsitzenden oder das Verfahren zur Bestellung der Vertretungsorgane? Und wie verhält es sich mit dem äußert komplexen Verfahren zur Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat?
Der letztgenannte Punkt ist für viele bereits paritätisch mitbestimmte Unternehmen ein maßgeblicher Grund, den Formwechsel in eine SE zu beschreiten. Ein alternatives Verfahren zur Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat kann auch nach der Entscheidung des EuGH immer noch in der Beteiligungsvereinbarung vereinbart werden – bis zu einer abschließenden Klärung allerdings verbunden mit der Ungewissheit, ob der in der Vereinbarung gefundene Modus nicht vielleicht doch durch das im Mitbestimmungsgesetz vorgesehene Verfahren ersetzt werden muss – allerdings dann übertragen auf die gesamte europäische Belegschaft. Und das wäre dann zweifelsohne das Ende der formwechselnden Umwandlung paritätisch mitbestimmter deutscher Aktiengesellschaften in eine SE…