Das Thema
Mit Urteil vom 13.07.2023 (C-134/22) entschied der EuGH in der Rechtssache G GmbH, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, bei einer Massenentlassung der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 Abs. 3 Unterabsatz. 1 Buchst. b Nr. i bis v RL 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Im Nachgang an die Entscheidung kündigte der Sechste Senat des BAG an, seine Rechtsprechung in Bezug auf die Frage, wie sich Verstöße gegen die Anzeigepflicht einer Massenentlassung auf die Wirksamkeit von Kündigungen auswirken, ändern zu wollen. Der Senat möchte von nun an die Rechtsauffassung vertreten, dass Fehler oder auch das gänzliche Fehlen einer Massenentlassungsanzeige keine Folgen für ausgesprochene Kündigungen hervorrufen sollen. Da diese Auffassung im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Zweiten BAG-Senats steht, wonach eine ausgesprochene Kündigung ohne vorherige Massenentlassungsanzeige i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG nach § 134 BGB nichtig ist, stellte der Sechste Senat an den Zweiten Senat eine Divergenzanfrage. Mit dem Hinweis, sich voraussichtlich der neuen Auffassung anschließen zu wollen, legte der Zweite Senat indes zunächst dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen vor, um klären zu lassen, ob Art. 4 RL 98/59EG in diesen Fällen nicht doch unweigerlich die Unwirksamkeit der Kündigung verlangt.
Ausgangsfall
Im dem Beschluss des Sechsten Senats (v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 [B]) zugrunde liegenden Fall beendete im Zuge der im Dezember 2020 eröffneten Insolvenz einer Handelsgesellschaft der beklagte Insolvenzverwalter sämtliche noch bestehende Arbeitsverhältnisse, unter anderem das des seit dem Jahr 1994 im Betrieb beschäftigten Klägers. Innerhalb von 30 Tagen entließ der Beklagte mehr als fünf Mitarbeiter, ohne dies vorher der Agentur für Arbeit entsprechend § 17 Abs. 1 KSchG anzuzeigen. Der Kläger machte daraufhin geltend, dass die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses nichtig sei, da die erforderliche Massenentlassungsanzeige durch den Beklagten unterblieben war. Sowohl das ArbG als auch das LAG gaben seiner Klage statt.
Die Entscheidung des Sechsten BAG-Senats – Rechtsprechungsänderung
Nach Auffassung des Sechsten BAG-Senats stelle die Regelung in § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG kein Verbotsgesetz dar. Den darin enthaltenen Arbeitgeberpflichten sei kein Verbotscharakter zu entnehmen. Selbst wenn man die Regelungen als Verbotsgesetz ansehen wolle, sei diesen jedoch nicht die Forderung der daraus folgenden Nichtigkeit der ausgesprochenen Kündigung zu entnehmen. Vielmehr handele es sich um eine Vorschrift mit reiner Ordnungsfunktion, die dem Arbeitgeber lediglich Verfahrenspflichten rein arbeitsmarktpolitischer Natur auferlege. Die Kündigung selbst sei als Rechtgeschäft dabei jedoch unbedenklich. Eine verpflichtende Unwirksamkeit und damit Nichtigkeit der Kündigung, stelle einen Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers dar. Das eigentliche Ziel des Anzeigeverfahrens, d.h. die Milderung sozio-ökonomischer Auswirkungen von Massenentlassungen, mache nicht die Rechtsfolge der Nichtigkeit der Kündigung erforderlich. Der Senat beabsichtige daher, seine bisherige Rechtsprechung aufzuheben, wonach eine Kündigung ohne vorherige Massenentlassungsanzeige gegen § 134 BGB verstößt und mithin unwirksam ist.
Auch § 18 Abs. 1 KSchG führe im Übrigen nicht zur Nichtigkeit der Kündigung. Massenentlassungen stünden nicht unter einem staatlichen Genehmigungsvorbehalt, da durch Sperrzeitbescheide der Arbeitsverwaltung lediglich über die Dauer der Sperrfrist entschieden werde. Zudem stelle die Nichtigkeitsfolge der Kündigung einen Verstoß gegen den in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRC verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar. Da die Nichtigkeitsfolge nicht den verfolgten Zweck der Massenentlassungsanzeige fördere, stünden die daraus resultierenden Nachteile für die betroffenen Arbeitgeber nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten arbeitsmarktpolitischen Zielen. Daraus resultiere auch kein Widerspruch zum differenzierenden Sanktionssystem von Fehlern bei den Muss- und Sollangaben gem. § 17 Abs. 3 KSchG, da das System selbst nicht durchgängig schlüssig sei. Nur wenn alle potenziell auftretenden Fehler im Rahmen des Anzeigeverfahrens keine Nichtigkeit der Kündigung zur Folge hätten, würde ein in sich schlüssiges Sanktionssystem erreicht.
In Antwort auf die Anfrage des Sechsten Senats erklärte der Zweite BAG-Senat, dass er sich dieser Auffassung anschließen wolle. Vorab sei jedoch zu klären, ob Art. 4 RL 98/59/EG bei einer Massenentlassung ohne vorherige Anzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG nach der „unrettbaren“ Unwirksamkeit der Kündigung verlange (BAG, Beschl. v. 01.02.2024 – 2 AS 22/23 [A]). Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 RL 98/59/EG werden die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten Massenentlassungen frühestens 30 Tage nach Eingang der Massenentlassungsanzeige wirksam.
Konsequenzen für die Praxis
Das Sanktionssystem rund um die Massenentlassungsanzeige gem. § 17 KSchG erfuhr in letzter Zeit eine dynamische Entwicklung. So kam zuletzt bereits durch die eingangs erwähnte, ablehnende Entscheidung des EuGH zur Vorlagefrage des Sechsten BAG-Senats, ob Art. 2 Abs. 2 RL 98/59/EG Individualschutz gewähre, Bewegung in die Thematik. Der Senat nahm dies unmittelbar zum Anlass, seine bisherige Rechtsauffassung diesbezüglich zu überdenken. Die neuen Tendenzen sind aus Arbeitgebersicht sehr erfreulich, da es in der Vergangenheit immer komplizierter wurde, Personalabbaumaßnahmen im Einklang mit sämtlichen Vorgaben des Massenentlassungsverfahrens durchzuführen und stets die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen zu drohen schien.
Auch der weitere Fortgang der Materie bleibt spannend, da zwischen den beiden BAG-Senaten augenscheinlich noch keine vollkommene Einigkeit herrscht. So brachte der Zweite Senat in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH zum Ausdruck, mit Blick auf die Rechtsfolge einer vollständig unterbliebenen oder nur fehlerhaften Massenentlassungsanzeige eine differenzierte Bewertung vornehmen zu wollen. Der Sechste Senat hat eine solche Differenzierung bislang nicht angedeutet, allerdings gerade jüngst zu einem weiteren interessanten Punkt noch eine Vorlage an den EuGH gerichtet (BAG, Beschl. v. 23.05.2024 – 6 AZR 152/22 [A]). In dieser geht es um die Frage, ob bei einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige auch dann von einer Nichtigkeit der Kündigung auszugehen ist, wenn die zuständige Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet hat. Bislang ist dies der Fall.
Fazit
Zunächst bleibt nun die ausstehende Entscheidung des EuGH bezüglich der Auslegungsfrage der Massenentlassungsrichtlinie abzuwarten. Festgehalten werden kann bis hierhin jedoch bereits, dass auch eine Rechtsprechungsänderung dahingehend, dass bloße Fehler im Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen, bereits eine enorme Erleichterung für das komplexe und ohnehin fehleranfällige Massenentlassungsverfahren bedeuten würde.