Das Thema
Vorruhestandsverhältnisse können den Betriebsparteien vielfältige Vorteile und Gestaltungsoptionen als Flexibilisierungsinstrument bieten. Anders als beispielsweise Altersteilzeitarbeitsverhältnisse oder Zeitwertkontenmodelle führen sie zu einer sofortigen einvernehmlichen Aufhebung des bestehenden Arbeitsverhältnisses. Der Mitarbeiter hat bis zum Eintritt in den (gesetzlichen) Rentenbezug und dem damit typischerweise verbundenen Ende des Vorruhestandsverhältnisses Anspruch auf die Zahlung eines Vorruhestandsentgelts. Dabei wird – bei rechtmäßiger Umsetzung – in den meisten Sozialversicherungszweigen der Fortbestand eines Beschäftigungsverhältnisses fingiert.
Wenngleich das Gesetz zur Förderung von Vorruhestandsleistungen (VRG) nach Wegfall staatlicher Förderinstrumente schon seit Langem keine rechtliche Relevanz mehr hat, weisen Vorruhestandsvereinbarungen auch heutzutage erhebliche praktische Bedeutung auf. Insbesondere im Rahmen der komplexen Verhandlung und Durchführung von Interessenausgleichen und Sozialplänen i.S.d. § 112 BetrVG können sie zu einem sozialverträglichen Personalabbau beitragen. Aber auch in Individualvereinbarungen spielen Vorruhestandsverhältnisse eine Rolle. Dabei kommt es immer wieder auch zu rechtlichen Auseinandersetzungen bezüglich der zugrundeliegenden Vereinbarungen. So auch im Sachverhalt, welcher der aktuellen BAG-Entscheidung (Urt. v. 29.04.2025 – 9 AZR 287/24) zugrunde lag.
Sachverhalt
Die Klägerin war von 1982 bis 2023 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Zigarettenindustrie, beschäftigt. Während dieser Zeit arbeitete sie phasenweise in Teilzeit, zuletzt von Juli 2007 bis Ende Dezember 2012 in Höhe von 80 vH. Ab April 2023 trat die Klägerin auf Grundlage eines von der Beklagten mit dem Gesamtbetriebsrat geschlossenen Sozialplans in den Vorruhestand ein. Der Sozialplan nahm Bezug auf den einschlägigen Manteltarifvertrag der Cigarettenindustrie (MTV). Die Betriebsparteien vereinbarten im Sozialplan, dass für Arbeitnehmer, welche die Voraussetzungen des § 14 MTV erfüllen, dessen Vorruhestandsregelung gelten sollten. Zugleich modifizierte der Sozialplan einige Regelungen des MTV. Danach konnten Arbeitnehmer den Beginn des Vorruhestands auf das vollendete 55. Lebensjahr vorziehen, wenn sie bis zum 31.12.2021 das 55. Lebensjahr vollenden, mindestens 15 Jahre Betriebszugehörigkeit und zum Beginn des 63. Lebensalters mindestens 35 Beitragsjahre in der Deutschen Rentenversicherung vorweisen konnten. Der MTV sah für die Zeit des Vorruhestands ein Vorruhestandsentgelt in Höhe von 70 Prozent des zuletzt gezahlten Gehalts vor. Dieser Faktor reduzierte sich gem. § 14 Nr. 4 Abs. 1 MTV durch die Inanspruchnahme von Teilzeit im Umfang der tatsächlich geleisteten Arbeit während der gesamten Beschäftigungsdauer.
Infolgedessen errechnete die Beklagte im Rahmen einer Mischrechnung ein Vorruhestandsentgelt der Klägerin auf Basis eines Faktors in Höhe von 58,84 vH. Dagegen wendete sich die Klägerin unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot gem. § 4 Abs. 1 TzBfG und verlangte die Feststellung, dass ihr ein volles Vorruhestandsentgelt in Höhe von 70 vH zustehe. Das ArbG Hamburg wies die Klage ab, die eingelegte Berufung wies das LAG Hamburg zurück.
Entscheidungsgründe
Mit Blick auf den Beurteilungsmaßstab hinsichtlich des Sozialplans führt das BAG zunächst aus, dass nicht die für Tarifvertragsparteien geltende eingeschränkte gerichtliche Kontrolldichte maßgeblich sei. Vielmehr seien die Sozialplanbestimmungen gem. § 75 BetrVG anhand von Recht und Billigkeit zu beurteilen, da es sich um eine erzwingbare Betriebsvereinbarung handele, die eine eigenständige Regelung neben dem Tarifvertrag darstelle. Grund für die Annahme einer eigenständigen Regelung war, dass der Sozialplan zwar auf § 14 MTV verweise, diesen jedoch so intensiv abändere, dass eine eigenständige Regelung anzunehmen sei.
Normativer Maßstab für die Beurteilung des den Betriebsparteien zustehenden Gestaltungsspielraums sei der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Gleichheitsgrundsatz. Zusätzlich sei das in § 4 Abs. 1 TzBfG normierte Benachteiligungsverbot zu berücksichtigen. Danach dürften Teilzeitbeschäftigte nicht ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes benachteiligt werden. Zur Anwendung gelange gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 TzBfG der „Pro-rata-temporis-Grundsatz“, wonach entgeltwerte Leistungen der Teilzeitbeschäftigten mindestens den Umfang des Anteils der geleisteten Arbeit betragen müssen. Eine Ungleichbehandlung soll insbesondere dann vorliegen, wenn die Dauer der Arbeitszeit maßgebliches Kriterium für die Unterscheidung sei. Ein sachlicher Grund liege vor, wenn sich aus dem Verhältnis von Leistungszweck und Umfang der Teilzeitarbeit die sachliche Rechtfertigung herleiten lasse. Maßgeblich sei insofern der Zweck der Leistung, im hiesigen Falle die Schaffung eines zukunftsbezogenen Ausgleichs, um die (vorzeitige) Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu kompensieren.
Jedoch kam das BAG – im Gegensatz zu den Vorinstanzen – nicht zu der Überzeugung, dass die im Sozialplan angelegte Ungleichbehandlung durch einen Sachgrund gerechtfertigt werden könne. Insbesondere sei dies nicht der Fall, da die vom BAG entwickelten Grundsätze zur betrieblichen Altersversorgung (bAV) nicht auf eine Vorruhestandsregelung übertragen werden können. Zudem stehe den Betriebsparteien zwar ein gewisser Gestaltungsspielraum zu, § 4 Abs. 1 TzBfG schließe es aber aus, per Mischrechnung die gesamte Beschäftigungsdauer zugrunde zu legen. Die Überbrückungsfunktion und damit die Sicherung des Lebensstandards könne nur mit einem „einheitlichen Referenzzeitraum“, der allgemein als Berechnungsgrundlage herangezogen wird, gewährleistet werden.
Mit Blick auf die Rechtsfolge entschied der 9. Senat jedoch, dass die Regelung des Sozialplans trotz des Rechtsverstoßes lediglich teilweise unwirksam und daher gem. § 139 BGB aufrechtzuerhalten sei, soweit die Betriebsparteien einen (zulässigen) Referenzzeitraums festgelegt haben. Einer gesetzeskonformen Auslegung stand indes – was überzeugt – der eindeutige Wortlaut des Sozialplans entgegen. Die Bestimmung von 15 Jahren als Referenzzeitraum, die im Sozialplan das Eingreifen der Vorruhestandsregelung an sich bedingte, sei vom Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien gedeckt.
Einordnung und Würdigung der Entscheidung
Die Entscheidung des BAG ist dogmatisch und inhaltlich nachvollziehbar und gut begründet. Die Betriebsparteien werden die Erwägungen bei künftigen Gestaltungen zu berücksichtigen haben.
Die Grundsätze zum Diskriminierungsverbot, die das BAG in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH (vgl. dazu Urt. v. 19.10.2023 – C-660/20) ausbreitet, überzeugen. Danach erfolgt die Überprüfung auf zwei Ebenen:
- Auf erster Ebene sei zu überprüfen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt. Entscheidend dafür ist, dass das maßgebliche Kriterium der Unterscheidung die Dauer der Arbeitszeit war. Sowohl das LAG als auch das BAG kamen zu dieser Auffassung, da § 14 MTV danach differenzierte, welchen Beschäftigungsgrad die Arbeitnehmer während ihres gesamten Beschäftigungsverhältnisses aufwiesen.
- Auf zweiter Ebene ist zu prüfen, ob ein sachlicher Grund diese Ungleichbehandlung rechtfertigt. Der EuGH verlangt für das Vorliegen eines sachlichen Grundes konkrete Umstände, welche die Leistung in ihrem speziellen Zusammenhang bedingen und auf Grundlage objektiver und transparenter Kriterien kennzeichnen, um sicherzustellen, dass die unterschiedliche Behandlung einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet und erforderlich ist. Dabei ist hervorzuheben, dass das BAG den Betriebsparteien grundsätzlich einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum gewährt. Sodann stellt der 9. Senat fest, dass Zweck des Vorruhestandes ist, den Lebensstandard zu erhalten. Da dieser sich anhand des (bislang) verdienten Entgelts bemisst, sei daher eine Differenzierung möglich, sofern nur ein „einheitlicher“ Referenzzeitraum gewählt wird.
Es leuchtet auch ein, dass das BAG davon ausgeht, dass allein ein „einheitlicher“ Referenzzeitraum geeignet sei, um den erworbenen und abzusichernden Lebensstandard verlässlich zu beurteilen. Auch wenn sich „Beschäftigungslebensläufe“ individuell und unterschiedlich gestalten, ist es gerade nicht Zweck des Vorruhestandsentgelts, die gesamte „Lebensleistung“ im Arbeitsverhältnis zu honorieren, sondern eine „Übergangsversorgung“ für einen klar zu umreißenden Zeitraum zu gewähren.
Insofern überzeugen auch die Ausführungen des BAG hinsichtlich der Abgrenzung zur Rechtsprechung zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung bei der bAV (vgl. insoweit Urt. v. 20.06.2023 -3 AZR 221/22). Dies hatte die Vorinstanz noch anders beurteilt. Die bAV verfolgt, wie der 9. Senat zutreffend ausführt, u.a. den Zweck die Betriebstreue umfassend zu honorieren und auf dieser Basis den Versorgungsbedarf festzustellen. Anders hingegen das Vorruhestandsentgelt, welches dazu dient, den Lebensstandard bis zum Eintritt in die gesetzliche Altersrente zu sichern. Das LAG hingegen übernahm die Grundsätze zur bAV und nahm aus diesem Grund eine Rechtfertigung an. Hierdurch wurden die unterschiedlichen Zwecke der jeweiligen Leistungen verkannt.
Fazit und Handlungsempfehlung
Die Entscheidung verdeutlicht die unterschiedlich stark ausgeprägten Gestaltungsspielräume für Tarifvertrags- und Betriebsparteien. Offen bleibt, ob das BAG diese Entscheidung mit Blick auf die Besonderheiten des Art. 9 Abs. 3 GG auch bei lediglich tarifvertraglicher Rechtsgrundlage getroffen hätte.
Ungeachtet dessen werden Arbeitgeber ihre bestehenden Vorruhestandsvereinbarungen und Sozialpläne, die vergleichbare Regelungen enthalten, überprüfen, anpassen und sich gegebenenfalls auf Nachzahlungen einstellen müssen. Dies gilt umso mehr, als dass sich diese Rechtsprechung auch auf Individualverträge übertragen lassen dürfte.
Der Co-Autor Hendrik Gellermann ist bei Allen Overy Shearman Sterling LLP, Frankfurt a. M., als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig und Rechtsreferendar am LG Bielefeld.