Das Thema
Die Corona-Pandemie und die beinahe täglichen Erlasse der Bundes- sowie Landesregierungen stellen viele Unternehmen und Betriebe vor enorme wirtschaftliche und auch organisatorische Herausforderungen. Dabei gilt es, mitunter fast minütlich neue Entscheidungen zu treffen, um die Arbeitsfähigkeit der Betriebe sowie der Arbeitsplätze der dort Beschäftigten über diese Krise hinaus zu sichern oder jedenfalls tiefergehende Einschnitte zu vermeiden. Nach den jüngsten Beschlüssen der Bundeskanzlerin und den Regierungschefs der Länder vom 22. März 2020 zur Beschränkung sozialer Kontakte gilt dies um so mehr.
Bei der Umsetzung der gebotenen Maßnahmen wird es zunehmend nicht nur schwerer, sondern häufig unmöglich, die auf einen solchen Ausnahmezustand nicht zugeschnittenen Gesetze und Verfahrensvorschriften in jedem Detail einzuhalten, wenn nicht der Gesetz- und Verordnungsgeber, wie beispielsweise bei der Sonntagsarbeit, inzwischen Abhilfe geleistet hat. Deutlich wird dies auch bei der erforderlichen und auch kommunikativ zumeist wichtigen Beteiligung des Betriebsrats, etwa zur Einführung von Kurzarbeit, Regelungen zur Arbeitszeit und Homeoffice oder gar der Anzeige einer unausweichlichen Massenentlassung. Dies in Zeiten, in denen nicht wenige Betriebe qua behördlicher Anordnung vollständig geschlossen sind oder sich der Großteil der Beschäftigten – und somit auch der Betriebsratsmitglieder – in Umsetzung des „Social Distancing“ im Homeoffice befindet. Wie soll da ein ordnungsgemäßer Betriebsratsbeschluss gefasst werden?
Für zusätzliche Verwirrung sorgt derzeit eine aktuelle “Ministererklärung” von BM Hubertus Heil, die zwar einerseits eine zu begrüßende Rechtsauffassung darstellt, allerdings keine Rechtssicherheit für die Praxis bringt.
Die gesetzliche Ausgangslage
Zwingende Voraussetzung für einen wirksamen Beschluss des Betriebsrats ist die Beschlussfähigkeit des Gremiums. Gemäß § 33 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ist hierfür erforderlich, dass mindestens die Hälfte der Betriebsratsmitglieder (oder deren Ersatzmitglieder) an der Beschlussfassung teilnimmt. Die Beschlussfähigkeit muss bei jeder einzelnen Abstimmung gegeben sein und ist unmittelbar vor der Beschlussfassung festzustellen. Wenn dies auch dem Wortlaut nicht eindeutig zu entnehmen ist, so umfasst die Teilnahme an der Beschlussfassung auch die an der dem Beschluss vorgelagerten Sitzung und Diskussion.
Insbesondere in dieser frühen Phase der Beratungen des Betriebsrats stellen sich aktuell erhebliche organisatorische Probleme, die weitreichende Auswirkungen haben können. Sie kreisen insbesondere um die Frage, ob für die Teilnahme die körperliche Anwesenheit der Gremienmitglieder zwingende (Wirksamkeits-)Voraussetzung ist und, wenn ja, wie diesen Anforderungen in Zeiten der Kontaktsperre/-einschränkung bzw. vollständigen Schließung des Betriebs überhaupt entsprochen werden kann. Es dürfte weitgehend Einigkeit bestehen, dass selbst im Falle einer zeitweisen Schließung des gesamten Betriebs die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats im Grundsatz weiterhin gelten und die Beteiligung der Arbeitnehmervertretung zu gewährleisten ist. Dabei wird indes von namhaften Richtern des Bundesarbeitsgerichts vertreten, dass Beteiligungspflichte entfallen können, wenn der Betriebsrat bei einer vorübergehenden Verhinderung sämtlicher seiner Mitglieder funktionsunfähig ist; das Bestehen eines funktionsfähigen Gremiums zähle zur Risikosphäre des Betriebsrats (vgl. APS/Koch, BetrVG § 102 Rdn. 2).
Corona-Lage führt zur Funktionsunfähigkeit der Mitbestimmungsrechte?
Wenn ein zusammentreten der Betriebsratsmitglieder beispielsweise wegen einer nahezu vollständigen Kontaktsperre ausgeschlossen ist, kann dies in der Tat zur Funktionsunfähigkeit und damit zur zeitweisen Suspendierung der Mitbestimmungsrechte führen. Allerdings wird man dies nicht annehmen können, wenn ein Zusammentreten des Betriebsrats auf andere Weise als das persönliche „Zusammensein“ möglich ist oder sich die Betriebsratsmitglieder „nur“ im Homeoffice befinden.
Die gesetzlichen Vorschriften zur Beschlussfassung sind so auszulegen, dass sie nach Möglichkeit eine Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung – auf die der Arbeitgeber wie bspw. bei der Kurzarbeit sogar angewiesen ist – gewährleisten. Ist die Einhaltung gesetzlicher (Form-)Vorgaben im Einzelfall der derzeitigen Ausnahmesituation nicht möglich, ist die Variante vorzuziehen, die einerseits die Funktionsfähigkeit der Betriebsverfassung gewährleistet und andererseits den geringsten „Konflikt“ mit gesetzlichen Vorgaben bedeutet.
Alternativen zur „konventionellen“ Betriebsratssitzung
Nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen hinsichtlich des gleichzeitigen Aufenthalts mehrerer Personen in einem Raum werden mögliche Alternativen zur konventionellen Betriebsratssitzung und deren rechtliche Zulässigkeit diskutiert (siehe etwa Thüsing/Beden, BB 2019, 372; Fündling/Sorber, NZA 2017, 552). Dazu gehören insbesondere:
- Betriebsratssitzung via Videokonferenz
- Betriebsratssitzung via Telefonkonferenz
- Beschlussfassung im Wege der E-Mail-Korrespondenz
- Delegation von Aufgaben zur selbständigen Erledigung an (zahlenmäßig kleinere) Ausschüsse
Betriebsratssitzung via Videokonferenz
Die Option, die wohl am häufigsten genannt und zudem am kontroversesten diskutiert wird, ist die der Betriebsratssitzung per Videokonferenz. Gegen die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise wird zwar eingewandt, sie erfülle nicht das Anwesenheitserfordernis (§ 33 Abs. 1 Satz 1 BetrVG) und sei überdies nicht mit dem Nichtöffentlichkeitsgrundsatz (§ 30 Satz 4 BetrVG) vereinbar, weil nicht gewährleistet werden könne, dass kein Betriebsratsfremder von den Inhalten der Sitzung Kenntnis erlange. Diesen Einwänden kann indes mit überzeugenden Argumenten begegnet werden, wobei bspw. auch der „Fitting“ in Ausnahmefällen eine Videokonferenz durchaus erlaubt, wenn eine Betriebsratssitzung an einem Ort nicht oder nur unter schwierigen Bedingungen möglich wäre (Fitting, BetrVG, § 33 Rdn. 21c).
Angesichts der beschränkten technischen Möglichkeiten zur Zeit der Entstehung des § 33 BetrVG in seiner jetzigen Fassung (1952) lässt sich gut vertreten, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff der Anwesenheit nicht die Durchführung von Videokonferenzen ausschließen, sondern vor allem den wechselseitigen Austausch vor einer Beschlussfassung sicherstellen wollte. Dieses Ziel ist auch im Wege der Videokommunikation erreichbar. Zudem kann auch bei einer „analogen“ Gremiumssitzung nicht ausgeschlossen werden, dass Dritte eigenmächtig (etwa durch Lauschen an der Tür) oder über ein Betriebsratsmitglied Kenntnis von dem Inhalt der Betriebsratssitzung erhalten. Ferner führt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit nicht per se zur Unwirksamkeit des Betriebsratsbeschlusses (vgl. insoweit BAG, Beschl. vom 30. September 2014 – 1 ABR 32/13).
Beschlussfassung im Rahmen einer Telefonkonferenz und E-Mail-Korrespondenz
In der heutigen Zeit kommt es jedoch wegen der Überlastung nicht selten vor, dass selbst eine Videokonferenz ausscheidet. Daher wird die Möglichkeit diskutiert, Betriebsratssitzungen im Rahmen einer Telefonkonferenz abzuhalten. Eine solche Vorgehensweise wird zum jetzigen Zeitpunkt zwar weit überwiegend für unzulässig gehalten (vgl. etwa Fitting, BetrVG, § 33 Rdn. 21 f. mwN). Gleiches gilt für die Beschlussfassung im Wege des Umlaufverfahrens etwa per E-Mail. Als Gründe werden neben den oben bereits erwähnten Erfordernissen der persönlichen Anwesenheit sowie der Sicherstellung der Nichtöffentlichkeit bezüglich der telefonischen Abstimmung u. a. die mit der fehlenden Bildübertragung verbundene Nichtüberprüfbarkeit der Identität des Gesprächspartners sowie die Gefahr einer eingeschränkten Beteiligungsbereitschaft der einzelnen Teilnehmer genannt. Bei einer Beschlussfassung per E-Mail-Korrespondenz bestehe das Risiko, dass gar kein richtiger Austausch mehr stattfinde.
In der aktuellen Situation wird man hiervon dann jedoch Ausnahmen machen können und müssen, wenn auf andere Weise die Funktionsfähigkeit des Gremiums nicht mehr gewährleistet werden kann, etwa weil auch eine Videokonferenz wegen Überlastung ausscheidet. Ist also weder die persönliche Beschlussfassung noch der Austausch und eine Beschlussfassung über eine Videokonferenz möglich, muss auch die Beschlussfassung über eine Telefonkonferenz (bestenfalls im Anschluss per E-Mail bestätigt) möglich sein.
Um einen möglichst regen, fruchtbaren Diskurs sicherzustellen, könnte vor der Abstimmung zum jeweiligen Thema die individuelle Stellungnahme eines jeden Mitglieds durch Einzelabfrage eingeholt werden. Die Beschlussfassung per E-Mail hat den Vorteil, dass die Beiträge der einzelnen Mitglieder in verschriftlichter Form vorliegen.
Delegation von Aufgaben des Betriebsrats auf einen Ausschuss
Es besteht ferner die Möglichkeit, dass der Betriebsrat Teile seiner Aufgaben zur selbständigen Erledigung auf einen zahlenmäßig kleineren Ausschuss überträgt. Dies hat den Vorteil, dass mit weniger Anwesenden Beschlüsse gefasst werden und diese sich, beispielsweise entfernt voneinander sitzend, auch in der heutigen Zeit treffen können. Zwar kann ein Ausschuss keine Betriebsvereinbarungen abschließen, diese jedoch so vorbereiten, dass über eine Beschlussfassung (gegebenenfalls per Video- bzw. Telefonkonferenz und E-Mail) sodann das Gremium einfacher entscheiden kann. Ferner bietet dies den erheblichen Vorteil, dass Entscheidungen schneller getroffen und bei einzelnen Betriebsräten gebündelt werden können. Dies ist wesentlich, denn in der heutigen Zeit geht es zumeist darum, Entscheidungen fortlaufend neu zu treffen bzw. zu justieren. Diskussionen mit dem gesamten Gremium führen hierbei nicht selten zu schwerwiegenden Verzögerungen.
Handlungsempfehlungen und “Ministererklärung”
Zu den dargestellten Möglichkeiten zur Sicherstellung der Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Betriebsrats gibt es zum jetzigen Zeitpunkt noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung, erst recht nicht zu der aktuellen Situation. Aufgrund dieses Umstands verbleibt demnach hinsichtlich sämtlicher Varianten eine gewisse Rechtsunsicherheit. Dennoch sollte auch in Zeiten wie den aktuellen, in denen der Ausnahmefall die Regel ist, der jeweilige Gesetzeszweck berücksichtigt und soweit als möglich umgesetzt werden. Ziel des BetrVG ist es, die Existenz des Betriebs unter Berücksichtigung der Belange und zum Wohl beider Betriebsparteien sicherzustellen.
Dies hat inzwischen erfreulicherweise auch die Politik erkannt. In einer Stellungnahme vom 20. März 2020 – vertieft am 23. März 2020 – rief Bundesarbeitsminister Heil dazu auf, die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Betriebsräte auch während der Coronakrise sicherzustellen und teilte zugleich mit, dass nach Meinung des Ministeriums in der aktuellen Situation die Teilnahme an einer Betriebsratssitzung mittels Video- oder Telefonkonferenz zulässig sei.
Würden Beschlüsse unter Zuschaltung einzelner Betriebsratsmitglieder oder sogar im Rahmen einer vollständig virtuellen Sitzung gefasst, müssten diese wirksam sein. Diese klare Positionierung des Bundesarbeitsministers ist zu begrüßen und zeigt, dass die Politik sich auch auf dieser Ebene des aktuellen Handlungsbedarfs bewusst ist. Klar ist, dass Äußerungen eines Ministers die Rechtsunsicherheit nicht beseitigen; dies kann nur der Gesetzgeber.
Für die Praxis können während der Corona-Pandemie folgende Handlungsempfehlungen gelten:
- Von dem konventionellen Prozedere der Beschlussfassung bei persönlicher Anwesenheit der Gremienmitglieder kann dann abgewichen werden, wenn aufgrund der konkreten Situation dies ausgeschlossen ist, ohne bspw. gegen behördliche Vorgaben des „Social Distancing“ zu verstoßen. Dies hängt nicht zuletzt von der aktuellen Situation in dem jeweiligen Betrieb ab (keine Räumlichkeiten, die ausreichende Distanz zulassen; Betrieb unter Quarantäne; Infektionsverdacht bei einem der Betriebsratsmitglieder; Schließung des Betriebs auf behördliche Anordnung). Darüber hinaus kommt es auf die Dringlichkeit der zu treffenden Entscheidung an.
- Sofern die persönliche Zusammenkunft der Betriebsratsmitglieder aus den vorgenannten Gründen nicht möglich ist, stellt der Rückgriff auf eine Beratung und Abstimmung per Videokonferenz das vorzugswürdige Mittel dar. Es obliegt dem Betriebsratsvorsitzenden, die technischen Rahmenbedingungen zur Teilnahme aller BR-Mitglieder an der – möglichst verschlüsselten – Videokonferenz und der ordnungsgemäßen vorherigen Ladung mit Tagesordnung sicherzustellen. Dabei sollte dieser, etwa durch die erst kurzfristige Versendung des Einwahl-PINs, dafür Sorge tragen, dass das Risiko einer Einwahl Unbefugter auf ein Minimum reduziert ist. Ist eine Videokonferenz (z. B. Überlastung des Servers) nicht möglich, kann in der aktuellen Situation auch auf die Telefonkonferenz mit anschließender Dokumentation der Beschlussfassung per E-Mail-Korrespondenz zurückgegriffen werden.
- Insgesamt bietet es sich an, einen oder mehrere Ausschüsse zu bilden. Diese Betriebsratsmietglieder können sich – entfernt sitzend – dennoch zu Beratungen treffen und insbesondere die Beratungen und Beschlussfassungen des Gesamtgremiums vorbereiten.
- In den Fällen, in denen der Vereinbarung der Betriebsparteien eine besondere wirtschaftliche Bedeutung zukommt (Betriebsvereinbarung Kurzarbeit, Interessenausgleich mit Namensliste, Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG sowie insbesondere Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung), sollte nochmals kritisch geprüft werden, ob eine Beschlussfassung des Betriebsrats nach der konventionellen Methode herbeigeführt werden kann, um die Gefahr einer nachträglichen Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung und damit verbundene Risiken auszuschließen. Sollte dies nicht umsetzbar sein, kann dennoch auf die oben dargestellten Methoden zurückgegriffen werden, bis die Bundesregierung in Umsetzung der Äußerung von Bundesarbeitsminister Heil, der als ministerielle Stellungnahme in dieser Form keine rechtliche Bindungswirkung zukommt, auch gesetzgeberisch tätig geworden ist. Bis dahin gilt es, die Zukunft mit vereinten Kräften und dem gemeinsamen Ziel anzugehen, die sich stellenden Herausforderungen im Sinne aller zu bewältigen.