Das Thema
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist ein wesentlicher Baustein des Betrieblichen Gesundheitsmanagements und in § 167 SGB IX verpflichtend geregelt. In der Praxis stellt das Betriebliche Eingliederungsmanagement insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen vor Herausforderungen.
Das BAG hat in einem Ende Januar 2022 veröffentlichten Urteil (BAG vom 07.09.2021, 9 AZR 571/20) klargestellt, dass der einzelne Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber keinen Anspruch auf Durchführung des BEM hat. Damit knüpft das BAG an seine bisherige Rechtsprechung an und betont, dass das BEM ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener „Suchprozess“ ist, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Zu beachten ist jedoch, dass sowohl die zuständige Interessenvertretung als auch die Schwerbehindertenvertretung die Durchführung des BEM verlangen können.
Der #EFAR-Beitrag zeigt auf, welche rechtlichen Rahmenbedingungen beim BEM zu beachten sind und gibt Praxistipps, wie ein BEM erfolgreich gestaltet werden kann.
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) in der neuen Arbeitswelt
Rund 265 Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Versicherte aufgrund psychischer Erkrankungen zählt der DAK-Psychreport 2021. Damit hat die Fehltagestatistik aufgrund psychischer Erkrankungen im (ersten) Corona-Jahr einen neuen Höchststand erreicht. Fakt ist auch, dass die psychischen Erkrankungen bereits seit vielen Jahren kontinuierlich ansteigen. Ein Ziel von Unternehmen sollte es daher sein, den betroffenen Mitarbeitenden mit passenden Angeboten und Führungskräften mit entsprechenden Schulungen zur rechtzeitigen Intervention zu helfen. Abgeleitet aus den vorliegenden Statistiken ist ein weiterer Anstieg möglicher psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz zu erwarten.
Durch die Zunahme des Führens und Arbeitens auf Distanz benötigt es teils neue Wege im BEM und im Umgang mit (psychischen) Belastungen am Arbeitsplatz. Eine der größten Herausforderungen der neuen Arbeitswelt nennt sich „Work-Life-Blending“. Leben und Arbeiten sind oft nur noch schwer zu trennen und dies führt neben vieler Vorteile auch zu einer Reihe von Herausforderungen. Unter anderem auch dazu, dass Mitarbeitende im Home Office eher dazu neigen könnten, während einer Krankheit zu arbeiten oder sich womöglich weniger krankschreiben lassen. Spiegelbildlich dazu gewinnen viele Führungskräfte auf die Distanz nicht genügend Eindruck über die vorliegenden Auffälligkeiten oder bestehenden Belastungen ihrer Mitarbeitenden oder haben hierfür noch keine ausreichenden Routinen entwickelt. Bereits im DGB-Index Gute Arbeit 2019 wurde angegeben, dass 65 % der Arbeitnehmer trotz Krankheit arbeiten. Die Zahl der gesamten Krankmeldungen ist im Jahr 2020 laut einer Auswertung der AOK (WIdO) im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen.
Die Gesamtkosten aufgrund psychischer Erkrankungen inklusive direkter Kosten für die medizinische Versorgung und Sozialleistungen sowie indirekter Kosten, z. B. durch Produktivitätseinbußen, werden für Deutschland auf rund 147 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Das entspricht einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 4,8 % (Quelle: DGPPN e.V. August 2021).Ein gelingendes, gut durchdachtes BGM und eine gelingende Gesprächsführung im BEM haben hier einen klaren Return on Investment.
Die rechtlichen Grundlagen des BEM – Wer ist zu beteiligen?
Der Arbeitgeber ist nach § 167 Abs. 2 SGB IX verpflichtet, einem Arbeitnehmer, der innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt ist, ein BEM anzubieten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Arbeitsunfähigkeit ununterbrochen oder wiederholt aufgetreten ist. Zu klären ist, welche Möglichkeiten es gibt, um die Arbeitsunfähigkeit möglichst zu überwinden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
Das BEM ist zunächst einmal dem Mitarbeitenden selbst anzubieten, der seine Zustimmung erteilen muss. Weiterhin sind der Betriebsrat (genau genommen: die zuständige Interessenvertretung i.S.d. § 176 SGB IX) sowie die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen. Zudem ist im Gesetz angelegt, dass der Werks- oder Betriebsarzt hinzuzuziehen ist, wenn dies erforderlich ist. Dies kann sinnvoll sein, um zu ermitteln, welche Maßnahmen geeignet sind hinsichtlich der künftigen Gestaltung des konkreten Arbeitsplatzes.
Neu eingefügt wurde im Jahr 2021 die Möglichkeit des Arbeitnehmers, eine Vertrauensperson seiner Wahl hinzuzuziehen. Hintergrund ist, dass die Rechtsprechung bisher für den Arbeitnehmer keine Möglichkeit sah, eine weitere Person wie etwa einen Rechtsbeistand zu dem Gespräch mitzunehmen (statt vieler: LAG Köln, Urteil vom 23.01.2020 – 7 Sa 471/19). Dies ist dem Arbeitnehmer künftig möglich. Alternativ zum Rechtsbeistand wird er künftig jede andere Person mitnehmen können, die für ihn eine Vertrauensperson darstellt. Der Kreis ist gesetzlich nicht weiter eingeschränkt.
BAG aktuell: Kein individueller Anspruch auf Durchführung eines BEM
Das BAG hat in einer ganz aktuellen Urteil vom 07.09.2021 (9 AZR 571/20) klargestellt, dass der einzelne Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber keinen Anspruch auf Durchführung des BEM hat. Der Arbeitnehmer hatte beantragt, den Arbeitgeber zu verurteilen, mit ihm ein BEM gemäß § 167 SGB IX unter Beteiligung des Personalrats und der Schwerbehindertenvertretung durchzuführen. Das BAG knüpft an seine bisherige Rechtsprechung an und betont, dass das BEM ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener „Suchprozess“ ist, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Sodann legt es jedoch § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX dergestalt aus, dass diese Norm dem einzelnen Arbeitnehmer keinen Individualanspruch auf Durchführung des BEM gibt. Zu beachten ist jedoch, dass sowohl die zuständige Interessenvertretung als auch die Schwerbehindertenvertretung die Durchführung des BEM verlangen können.
Formalitäten des BEM: Das Einladungsschreiben
Grundsätzlich sieht das Gesetz keine Verpflichtung vor, schriftlich zum BEM einzuladen. Allerdings muss der Arbeitgeber in einem etwaigen Prozess darlegen und beweisen, dass er den Arbeitnehmer ordnungsgemäß dazu eingeladen hat. Denn der Arbeitgeber muss die Initiative zur Durchführung eines gesetzlich gebotenen BEM ergreifen (so ausdrücklich: BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 755/13).
Dies bedeutet, dass er den Zugang des Schreibens im Zweifel beweisen muss. Nicht ausreichend ist es daher, die BEM-Einladung z. B. in ein betriebliches Postfach des Arbeitnehmers einzulegen. Denn dieses leert er während einer Krankheit ja in der Regel gerade nicht. In allen Fällen, in denen ein Arbeitgeber einen späteren Prozess für möglich hält, ist es daher empfehlenswert, dass BEM-Einladungsschreiben „wie eine Kündigung“ zuzustellen, das heißt mit Nachweis über die Zustellung durch einen Boten.
Nach § 167 Abs. 2 S. 4 SGB IX ist die betroffene Person vor dem BEM auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen. All dies sollte durch das sorgfältig formulierte BEM-Einladungsschreiben erfolgen, da nur dann sichergestellt ist, dass der Arbeitnehmer der Durchführung wirksam zustimmen oder sich dem BEM verweigern kann.
Dabei muss die betroffene Person u. a. auch darüber aufgeklärt werden, dass sie dem BEM mit der Maßgabe zustimmen kann, dass der Betriebsrat nicht beteiligt werden soll (BAG, Beschluss vom 22.3.2016 – 1 ABR 14/14). Auch wird nunmehr eine Information dahingehend benötigt, dass eine Vertrauensperson an dem Gespräch teilnehmen kann.
Datenschutz nicht vergessen!
Daneben ist auch das Thema Datenschutz, genauer gesagt die konkrete Art und Weise der Datenerhebung und Datenverwendung, anzusprechen.
Grundsätzlich dürfen nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist. Darüber hinaus sind die Inhalte des BEM-Gesprächs streng vertraulich zu behandeln. Daher sind alle damit verbundenen Informationen und Dokumente auch in einer sog. BEM-Akte aufzubewahren, die streng von der Personalakte zu trennen ist.
Diese Trennung führt insbesondere in kleineren und mittelständischen Unternehmen nicht selten zu Herausforderungen, da dort die BEM-Gespräche oft durch die Personalabteilung als Vertreter des Arbeitgebers geführt werden.
Wichtig: Die Gesprächsführung im BEM-Gespräch
Die Beziehungsebene im Gespräch ist oft Teil der non-verbalen Kommunikation – durch Körpersprache, Mimik und Gestik. Auch im BEM-Gespräch gilt es, die nonverbale Kommunikation zu berücksichtigen.
Stellen wir uns einmal vor, Sie geben das Wort „Problem“ bei Google ein. Hier erhalten Sie ca. 3 Milliarden Ergebnisse – Ähnliches passiert in unserem Kopf (zu 99 % unbewusst) und je älter wir werden umso mehr Assoziationen finden sich. Aus diesem Beispiel können wir uns vorstellen, wie wichtig es ist, insbesondere im BEM-Gespräch das Thema „Neurokommunikation“ zu berücksichtigen. Die „gehirngerechte Gesprächsführung“ sorgt dafür, dass mein Gegenüber eher positive Ergebnisse in seiner/ihrer inneren Suchmaschine erhält und somit offen ist, dem Gespräch zu folgen, und eher in der Lage ist, selbst Lösungen ins Gespräch mit einzubringen. Statt „Problem“ würde sich beispielsweise das Wort „Herausforderung“ besser eignen. Achten Sie hierbei auch auf Verneinungen wie z.B. „kein Problem“ denn das Wörtchen „kein“ oder „nicht“ kann unser Gehirn nicht wahrnehmen. Probieren Sie es doch einmal selbst aus: Denken Sie jetzt bitte nicht an einen rosa Elefanten! – Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie den rosa Elefanten direkt vor Ihrem inneren Auge sehen.
Umgang mit Widerstand im BEM Gespräch
Wenn wir uns mitten in einem Veränderungsprozess befinden – wie z. B. die Rückkehr an den (veränderten) Arbeitsplatz – ist oft ein Widerstand gegen die Veränderung zu spüren. Widerstand ist die Regel, nicht die Ausnahme, und folgt dem Leitsatz: „Ein unerhörtes Verhalten hat ein unerhörtes Bedürfnis.“
Widerständen im BEM können wir auf unterschiedliche Arten begegnen. Dies beginnt bereits mit der Gesprächsvorbereitung. Hier können wir uns an den psychischen Grundbedürfnissen des Menschen orientieren. Wenn die Grundbedürfnisse gestillt sind, sendet unser Gehirn ein beruhigendes Signal, wir sind offen, eher entspannt und aufnahmebereit. Wenn die Grundbedürfnisse nicht gestillt sind, könnten Angriffe (Vorwürfe, Gegenargumente oder sturer Formalismus), Fluchtverhalten (z. B. ständiges aufs Handy schauen, häufig den Raum verlassen, erneutes Erkranken) oder auch Erstarren (z. B. leeres vor sich Hinstarren und Teilnahmslosigkeit) die Reaktion im BEM-Gespräch sein. Unser Gehirn folgt dem Prinzip: Bedrohungen minimieren – Belohnungen maximieren. Hierfür könnten wir z.B. das SCARF Modell zur Gesprächsvorbereitung nutzen. SCARF steht für die 5 psychischen Grundbedürfnisse: Status, Certainty, Autonomy, Relatedness und Fairness.
Der betroffene Mitarbeitende stellt sich unbewusst folgende Fragen im BEM-Gespräch, anhand derer Sie die dazu passenden Aussagen oder Antworten bereits vorab vorbereiten können.
- Status: Was bedeutet die Erkrankung für meinen Status und meine Karriere?
- Certainty: Kann ich mich auf die Vertraulichkeit und die Absprachen im BEM Gespräch verlassen?
- Autonomy: Darf ich selbst eigene Wünsche und Entscheidungen in den BEM Prozess mit einbringen?
- Relatedness: Wie werde ich jetzt wegen meiner Erkrankung betrachtet? Wie stehen die Personen nun zu mir? Werde ich noch als wertvoll und guter Kollege angesehen?
- Fairness: Sind alle anderen von der Veränderung genauso betroffen? Werden meine Lebensumstände ausreichend berücksichtigt?
Derartige Überlegungen können in eine Betriebsvereinbarung zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement oder in einen Gesprächsleitfaden einfließen, um so den erfolgreichen Ablauf des BEM-Gesprächs strukturiert zu fördern.
Kein BEM durchgeführt: Die Folgen für eine krankheitsbedingte Kündigung
Das BEM ist streng genommen keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine personenbedingte Kündigung. Dies bedeutet, dass eine krankheitsbedingte Kündigung nicht deswegen unwirksam ist, nur weil zuvor kein BEM durchgeführt wurde.
Allerdings hat die Durchführung oder Nichtdurchführung sehr wohl erhebliche Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast in einem späteren Kündigungsschutzprozess. Wird ein BEM ordnungsgemäß durchgeführt und kommt es zu einem negativen Ergebnis, so reicht für den Arbeitgeber im Prozess der Hinweis, dass keine andere Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer besteht. Ihn trifft dann eine vereinfachte Darlegungslast. Anders hingegen, wenn das BEM nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. In diesem Fall kann sich der Arbeitgeber in einem Prozess nur noch darauf stützen, dass das BEM zu keinem positiven Ergebnis hätte führen können. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber in diesem Fall die objektive Nutzlosigkeit eines BEM darlegen müsste. Diese Hürde ist in der Praxis derart hoch, dass Arbeitgeber gut beraten sind, im ureigenen Interesse ein BEM-Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen, bevor sie eine krankheitsbedingte Kündigung erwägen.
Auch die Ablehnung der Durchführung eines BEM durch den Arbeitnehmer hat prozessuale Auswirkungen. Hat er die Teilnahme am BEM oder an einzelnen Maßnahmen verweigert, so kann er sich in einem späteren Kündigungsschutzprozess nicht darauf berufen, dass eine leidensgerechte Anpassung seines Arbeitsplatzes möglich gewesen sei.
Betriebliches Eingliederungsmanagement: Professionalisierung notwendig
Bei der erfolgreichen Einführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements gehen juristische und wissenschaftliche Erkenntnisse z.B. aus der Neurokommunikation Hand in Hand. In der Praxis sind Verantwortliche gut beraten, die verschiedenen Seiten zu einem gelungenen Prozess zusammenzuführen.
Unternehmen leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit ihrer Mitarbeitenden, der Arbeitnehmerzufriedenheit und nicht zuletzt auch zum Unternehmensimage, wenn sie sich um Prävention im Rahmen eines professionellen Betrieblichen Gesundheitsmanagements einsetzen.
Professionelles Betriebliches Eingliederungsmanagement als Teil des Betrieblichen Gesundheitsmanagements ist eine wichtige Voraussetzung für die Gesundhaltung der Beschäftigten, gibt Führungskräften Sicherheit im Umgang mit Betroffenen und ist ein klarer Return on Investment. Hier greifen sowohl die genannten rechtlichen Säulen als auch die effektive und ressourcenorientierte Gesprächsführung als wichtige Eckpfeiler ineinander.