Das Thema
Ausweislich des Fehlzeiten-Reports 2024 und einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK bewegt sich im Jahr 2024 der Krankenstand der Arbeitnehmer in Deutschland auf höchstem Niveau. Auch die Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen steigen weiter an. Seit 2014 haben die Arbeitsunfähigkeitstage – Stand 08/2024 – aufgrund psychischer Erkrankungen um ca. 47 % zugenommen. In Anbetracht dessen, alternder Belegschaften, rarer Fachkräfte und zunehmender Herausforderungen durch Arbeitsverdichtungen, mobiles Arbeiten und Digitalisierung liegt ein wirksamer betrieblicher Arbeits- und Gesundheitsschutz im besonderen Interesse der Beschäftigten und Arbeitgeber. Einen wichtigen Beitrag zur Förderung und Erhaltung der Gesundheit, der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter sowie zur langfristigen Personalbindung kann das BGM leisten, bei dessen Gestaltung und Implementierung zahlreiche arbeitsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen sind.
Was bedeutet BGM und wie ist die Grundkonzeption?
Der Begriff des BGM ist gesetzlich nicht definiert, jedoch zwischenzeitlich in Literatur und Rechtsprechung weitgehend geklärt. Unter einem BGM wird
„die Entwicklung betrieblicher Rahmenbedingungen, betrieblicher Strukturen und Prozesse, die die gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeit und Organisation und die Befähigung zum gesundheitsfördernden Verhalten der Mitarbeitenden zum Ziel haben“
verstanden. Das BGM führt die drei Bereiche des gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes, des betrieblichen Eingliederungsmanagements und der betrieblichen Gesundheitsförderung zusammen und ist quasi das „Dach“ für alle betrieblichen Maßnahmen zur Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmenden unter Einschluss der betrieblichen Gesundheitsförderung, der Personalentwicklung sowie der Unternehmens- und Führungskultur (vgl. vom Stein/Rothe/Schlegel Gesundheitsmanagement/Wrage/May-Schmidt § 22 Rn. 4-8 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 08.11.2012 – OVG 62 PV 2.12; BSG, Urt. v. 28.06.2022 – B 2 U 8/20 R).
Von Einzelmaßnahmen unterscheidet sich ein BGM danach durch eine systematische und kontinuierliche Steuerung aller betrieblichen Prozesse und Aktivitäten zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Hierzu wird in der Praxis regelmäßig unter Integration der gesetzlichen Verfahrensschritte der Gefährdungsbeurteilung (vgl. § 5 ArbSchG, § 3 ArbStättV), der Wirksamkeitsüberprüfung (§ 3 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG), des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (§ 3 Abs. 1 Sätze 2 und 3 ArbSchG) und der Dokumentationspflichten (§ 6 ArbSchG) ein ganzheitlicher BGM-Prozess implementiert, welcher zumeist folgende Schritte beinhaltet:
- Analyse und Bewertung der Arbeitsbedingungen, des Arbeitsumfeldes und des Gesundheitszustandes etwa anhand von Fehlzeitenanalysen, Gefährdungsbeurteilungen.
- Ableitung von Handlungsthemen (z.B. mobile Arbeit, Suchtprävention, Beruf und Familie, altersgerechte Arbeitsgestaltung) und von konkreten Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung, wobei im Regelfall eine Kombination aus verhältnispräventiven Maßnahmen bezüglich der gesundheitsverträglichen Gestaltung des Arbeitsumfeldes, der Arbeitsmittel und aus verhaltenspräventiven Maßnahmen zur individuellen Gesundheitsförderung (z.B. Rückenschule, Ernährungsberatung, Stressbewältigung) zielführend ist.
- Betriebliche Umsetzung der Maßnahmen.
- Evaluation durch Wirkungskontrollen, kontinuierliche Verbesserung und Dokumentation.
Welche Bereiche umfasst ein BGM?
Das BGM lässt sich in die drei großen Bereiche
- gesetzlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz,
- betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und
- betriebliche Gesundheitsförderung (BGF)
strukturieren. Die Bereiche des gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes und des BEM sind für die Arbeitgeber gesetzlich verpflichtend vorgeschrieben; der Bereich der BGF ist für Unternehmen hingegen freiwillig.
Gesetzlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz
Der gesetzliche Arbeits- und Gesundheitsschutz ist grundlegend im Arbeitsschutzgesetz und im Arbeitssicherheitsgesetz statuiert und liegt in der Verantwortung des Arbeitgebers (§ 13 ArbSchG). Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von weiteren Arbeitsschutzvorschriften in Spezialgesetzen, Verordnungen sowie Unfallverhütungsvorschriften. Nach der Generalklausel des § 3 Abs. 1 ArbSchG ist ein Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat zur Durchführung der Maßnahmen nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Zentrales Element des Arbeitsschutzes bildet dabei die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG, da mit ihrer Hilfe durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung ermittelt wird, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind. § 5 Abs. 3 ArbSchG enthält einen nicht abschließenden Katalog von Gefährdungsquellen, in dem u.a. explizit psychische Belastungen bei der Arbeit benannt sind. Die Gefährdungsbeurteilung kann auch durch fachkundige Dritte durchgeführt werden (§ 13 Abs. 2 ArbSchG) und ist zu dokumentieren (§ 6 ArbSchG). Jeder Arbeitnehmende hat nach § 5 Abs. 1 ArbSchG i.V.m. § 618 BGB einen Anspruch auf Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung, nicht jedoch auf Vorgabe von einzelnen Beurteilungskriterien und -methoden (BAG, Urt. v. 12.08.2008 – 9 AZR 1117/06).
Betriebliches Eingliederungsmanagement
§ 167 Abs. 2 SGB IX verpflichtet alle Arbeitgeber, unabhängig von Größe und Existenz einer Interessenvertretung, ihren Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, die Durchführung eines BEM anzubieten. Das BEM dient der Klärung der Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Ein Anspruch der Beschäftigten auf Durchführung eines BEM besteht nicht (BAG, Urt. v. 07.09.2021 – 9 AZR 571/20). Das BEM ist jedoch für die Arbeitgeber verpflichtend, wohingegen die Teilnahme für die Betroffenen in Gänze sowie in jedem Verfahrensstadium eines BEM freiwillig ist.
Betriebliche Gesundheitsförderung
Unter der BGF werden alle freiwilligen Maßnahmen des Arbeitgebers verstanden, die zum Erhalt und zur Förderung der Arbeitsfähigkeit beitragen können. Die BGF-Maßnahmen sollten sowohl an den Verhältnissen des Arbeitsumfeldes als auch am individuellen Verhalten der Beschäftigten ansetzen und beziehen sich oft auf die Themenbereiche Ernährung, Stressbewältigung, Bewegung/Ergonomie, Suchtprävention, Arbeitsgestaltung und Führungskultur. Gesetzlich verankert ist die BGF in §§ 20, 20b SGB V. Diese Normen verpflichten nicht den Arbeitgeber, sondern nur die Krankenkassen, Leistungen zur Gesundheitsförderung in Betrieben zu erbringen und diese zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist regelmäßig § 3 Nr. 34 EStG von Bedeutung. Danach sind zusätzlich zum geschuldeten Arbeitslohn erbrachte Leistungen des Arbeitgebers zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands und der betrieblichen Gesundheitsförderung, die hinsichtlich Qualität, Zweckbindung und Zielgerichtetheit den Anforderungen der §§ 20, 20b SGB V genügen, bis zu derzeit 600 Euro pro Beschäftigten und Jahr steuerfrei.
Welche Mitbestimmungsrechte hat der Betriebsrat beim BGM?
Besteht ein Betriebsrat, sind bei der Implementierung eines BGM weitreichende Beteiligungsrechte zu wahren. Dabei ist neben den §§ 80, 89 BetrVG die zentrale Norm das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Danach hat der Betriebsrat bei Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber diese aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Rahmenvorschrift zu treffen hat und ihm bei der Gestaltung Handlungsspielräume verbleiben (BAG, Beschl. v. 28.03.2017 – 1 ABR 25/15). So unterliegen auch die wesentlichen ausfüllungsbedürftigen Rahmenvorschriften des ArbSchG der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG insbesondere
- § 5 ArbSchG hinsichtlich der Vorgaben zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung (Art und Weise, Methoden, Verfahren, Prioritäten, zeitliche Abstände, Dokumentation),
- § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG bei einer Auswahlentscheidung unter mehreren Schutzmaßnahmen,
- § 3 Abs. 1 Satz 2 ArbSchG hinsichtlich der Gestaltung der Wirksamkeitskontrolle und
- § 3 Abs. 2 ArbSchG bezüglich des Aufbaus einer Organisationsstruktur
(vgl. BAG, Beschl. v. 07.12.2021 – 1 ABR 25/20; v. 18.03.2014 – 1 ABR 73/12).
Beim BEM ist der Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG über die Mitarbeiter zu informieren, bei denen die Voraussetzungen für ein BEM vorliegen (BAG, Beschl. v. 07.02.2012 – 1 ABR 46/10). Da die Regelung des BEM in § 167 Abs. 2 SGB IX ebenfalls eine Rahmenvorschrift i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ist, hat der Betriebsrat grundsätzlich hinsichtlich der Ausgestaltung des Verfahrens mitzubestimmen. Nicht mitbestimmt ist die Umsetzung der sich anschließenden konkreten Maßnahmen (BAG, Beschl. v. 22.03.2016 – 1 ABR 14/14). Auch beim BEM ist für jede einzelne Regelung genau zu prüfen, ob ein Mitbestimmungsrecht in Betracht kommt. Ein solches kann sich bei Verfahrensfragen aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, bezüglich der Verarbeitung von Gesundheitsdaten aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und hinsichtlich der weiteren Ausgestaltung des Gesundheitsschutzes aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ergeben (BAG. v. 22.03.2016 – 1 ABR 14/14).
Über die zwingende Mitbestimmung beim Arbeits- und Gesundheitsschutz nach 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG hinaus erlangt in der Praxis vor allem bei den Maßnahmen der BGF auch die freiwillige Mitbestimmung Relevanz. Nach § 88 Nr. 1 BetrVG können die Betriebsparteien einvernehmlich zusätzliche Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Gesundheitsbeschädigungen in freiwilligen Betriebsvereinbarungen treffen.
Fazit und Handlungsempfehlung
Die Etablierung eines prozessorientierten BGM kann einen entscheidenden Beitrag zur Förderung der Gesundheit, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und damit zur Personalbindung und zum Unternehmenserfolg leisten. Grundlage für den Aufbau eines effektiven BGM sollten dabei stets die vom Arbeitgeber einzuhaltenden Vorschriften zum gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie zum BEM sein, in welche die freiwillige BGF zu integrieren ist. Bei Bestehen eines Betriebsrats kann eine wirksame Einführung eines BGM nur mit diesem gemeinsam erfolgen. Die Unternehmen sollten daher das Thema angehen und mit dem Betriebsrat ein unter Berücksichtigung der betriebsspezifischen Besonderheiten ausbalanciertes BGM-Betriebsvereinbarungsmodell erarbeiten.