Das Thema
Im Zuge der Emmely-Entscheidung des BAG war eine breite Debatte um die Frage entstanden, ob die Zueignung von Gütern mit geringem Wert eine Kündigung rechtfertigen kann. Bei vom Wert des Diebstahlgutes her ähnlich gelagerten Kündigungssachverhalten machte zuletzt etwa das LAG Nürnberg noch weitere wichtige Punkte klar, die es – eigentlich immer – zu beachten gilt.
Die Entscheidung vom 08.12.2020 (LAG Nürnberg 7 Sa 226/20) behandelte daher nicht nur die Problematik des Diebstahls geringwertiger Güter, sondern auch die Verwertbarkeit heimlicher Videoaufnahmen, die Abgrenzung zwischen der Tat- und Verdachtskündigung sowie die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Betriebsratsanhörung.
Zwei kleine Jägermeister…waren plötzlich weg
Der Arbeitgeber betrieb ein Großhandelslager. Da es im Bereich der Spirituosen häufiger zu Schwund gekommen war, brachte der Arbeitgeber dort eine verdeckte Kamera an, die zu einem Zeitpunkt, als dort nicht gearbeitet wurde, Aufnahmen von dem Arbeitnehmer und seinem Kollegen machte. Die Aufnahmen zeigten, wie sich der Arbeitnehmer in einem abgedunkelten Gang bückte. Später stellte der Arbeitgeber fest, dass an dieser Stelle zwei kleine Fläschchen Jägermeister entwendet worden waren.
Am 04.01.2020 kündigte er nach Anhörung des Arbeitnehmers und des Betriebsrates zu einer beabsichtigten Tatkündigung das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos, hilfsweise fristgerecht. Weitere Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung ergriff der Arbeitgeber nicht. Am 13.01.2020 kündigte der Arbeitgeber noch einmal vorsorglich ordentlich. Diese Kündigungen waren Gegenstand des Rechtsstreites. Nachdem die erste Instanz der Klage stattgegeben hatte, hörte der Arbeitgeber den Betriebsrat Ende Juni 2020 zu einer weiteren Kündigung auch unter dem Gesichtspunkt der Verdachtskündigung an und kündigte am 02.07.2020 nochmals ordentlich.
Die Entscheidung des Gerichts
Das LAG Nürnberg gab der Klage statt. Auch der rechtswidrige Zugriff auf Eigentum des Arbeitgebers von geringem Wert stelle regelmäßig einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB dar. Die Tat sei jedoch nicht bewiesen. Die Videoaufzeichnungen seien nicht verwertbar, da das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers in der Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung entgegenstehe. Eine Verwertung komme nur in Betracht, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers bestehe, weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachts ergebnislos ausgeschöpft seien, die verdeckte Kameraüberwachung damit praktisch das einzig verbleibende Mittel darstelle, und die Überwachung insgesamt nicht unverhältnismäßig sei. Der Verweis auf „Schwund“ sei nicht ausreichend. Mindestens eine Eingrenzung der Tatverdächtigen durch Abgleich von Anwesenheitszeiten zu den Zeitpunkten des Spirituosenschwunds wäre erforderlich gewesen.
Weitere Fehler bei der Betriebsratsanhörung
Auch der dringende Verdacht eines Diebstahles komme als wichtiger Grund in Betracht. Ob hinreichende Verdachtsmomente dargelegt wurden, könne jedoch dahinstehen, weil der Betriebsrat vor der Kündigung vom 04.01.2020 zu einer Verdachtskündigung nicht angehört worden war. In der Anhörung des Betriebsrats zu einer Tatkündigung liege nicht gleichsam als „Minus“ eine Anhörung zu einer Verdachtskündigung.
In der neuerlichen Betriebsratsanhörung im Juli 2020 sei dann zwar der Aspekt einer Verdachtskündigung erwähnt worden. Das Nachschieben des Verdachts eines Diebstahls sei aber nur möglich, wenn dem Arbeitgeber nachträglich neue Verdachtsmomente bekannt geworden seien und die maßgeblichen Verdachtsmomente objektiv schon vor Zugang der Kündigung vorlagen. Vorliegend seien die Verdachtsmomente bereits Ende 2019 bekannt gewesen, indessen dem Betriebsrat nicht mitgeteilt worden, so dass ein Nachschieben ausscheide. Aus denselben Gründen sei die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 04.01.2020 unwirksam.
Die vorsorglich ausgesprochene Kündigung vom 13.01.2020 sei unwirksam, weil der Betriebsrat nicht angehört wurde. Einer – erneuten – Anhörung des Betriebsrates bedürfe es schon immer dann, wenn der Arbeitgeber nach Anhörung des Betriebsrats bereits eine Kündigung erklärt habe und nun erneut kündigen wolle. Das Gestaltungsrecht und die damit in Verbindung stehende Betriebsratsanhörung seien mit dem Zugang der (ersten) Kündigung verbraucht.
Bewertung: Der Teufel steckt im Detail
Im Zuge der Emmely-Entscheidung des BAG war eine breite Debatte um die Frage entstanden, ob die Zueignung von Gütern mit geringem Wert eine Kündigung rechtfertigen kann. Die Frage, ob der Diebstahl von zwei Fläschchen Jägermeister „reichen“ kann, bleibt vorliegend offen, weil der Arbeitgeber sich in den Anforderungen an eine wirksame Kündigung regelrecht verheddert hat.
Zunächst wurde recht hemdsärmelig eine verdeckte Videoüberwachung vorgenommen. Ein solches Vorgehen kann nicht nur – wie vorliegend – ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen, sondern gegebenenfalls auch Schadensersatzansprüche der überwachten Mitarbeiter sowie ein Bußgeld nach der DSGVO.
Betriebsrat anhören, aber richtig!
Ein echter Kunstfehler war es sodann, den Betriebsrat nicht auch (vorsorglich) auch zu einer Verdachtskündigung anzuhören. An den Aspekt der Verdachtskündigung sollte der Arbeitgeber bei jeder verhaltensbedingten Kündigung denken. Es bedarf in der Betriebsratsanhörung lediglich der Formulierung, der Arbeitgeber gehe aufgrund des geschilderten Sachverhaltes davon aus, die Pflichtverletzung sei erwiesen, jedenfalls bestehe der dringende Tatverdacht. Man höre daher zu einer Tatkündigung, vorsorglich zu einer Verdachtskündigung an. Mit dieser minimalen Ergänzung der Betriebsratsanhörung hätte der Arbeitgeber jedenfalls diesen Unwirksamkeitsgrund verhindert.
Die Betriebsratsanhörung im Juni 2020 konnte den Mangel nicht mehr heilen. „Nachgeschoben“ werden können nur Umstände, die bei Ausspruch der Kündigung bereits vorlagen, dem Arbeitgeber aber nicht bekannt waren. Dies gilt auch für Verdachtsmomente. Die Verdachtsmomente waren bereits vor Ausspruch der ersten Kündigung bekannt und konnten daher nicht nachgeschoben werden. Mittel der Wahl konnte nur eine neue Kündigung sein.
Betriebsrat anhören – Zu jeder Kündigung!
Das ist ja auch geschehen, wobei dem Arbeitgeber der nächste klassische Fehler unterlaufen ist. Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung anzuhören. Die Betriebsratsanhörung war durch Ausspruch der Kündigung vom 04.01.2020 verbraucht, vor der Kündigung vom 13.01.2020 hätte der Betriebsrat erneut angehört werden müssen. Daran ist immer zu denken, wenn noch einmal gekündigt werden soll (beispielsweise: Zugang der Kündigung ist unsicher; Kündigung wurde gem. § 174 BGB zurückgewiesen; Arbeitnehmer zeigt nach Zugang der Kündigung seine Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch an).