Das Thema
Die nationalen Vorschriften zum Aufenthaltsrecht sind von europäischer Rechtssetzung und Grundprinzipien geprägt, weshalb es in Auslegungsfragen nicht selten zu Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH kommt. Dessen Aufgabe war es im vorliegenden Fall, die nationalen Regelungen der Niederlande zu einer Entsendekonstellation von Drittstaatsangehörigen im Lichte der europäischen Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 und 57 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), zu bewerten.
Europäische Mitgliedstaaten sind aufgrund der sog. Vander-Elst Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 1994 (Urt. v. 09.08.1994 – C-43/93) angehalten, Drittstaatsangehörige mit einem langfristigen Aufenthaltstitel eines anderen EU-Mitgliedstaates (hier der Slowakei) für die Erbringung von Dienstleistungen (vereinfachten) Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt zu geben.
Diese Vorgabe haben die Niederlande auch umgesetzt. Es wird allerdings im Einklang mit Art. 21 des Schengener Durchführungsübereinkommens nach einem Aufenthalt von 90 Tagen innerhalb des Zeitraums von 180 Tagen verlangt, dass die Drittstaatsangehörigen eine „zusätzliche“ Arbeitserlaubnis in den Niederlanden beantragen.
Neue Aufenthaltserlaubnisse erforderlich – Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit?
Die drittstaatsangehörigen (ukrainischen) Arbeitnehmer, die in Besitz einer slowakischen befristete Aufenthaltserlaubnis waren, wurden von einem Unternehmen in der Slowakei zu einer niederländischen Gesellschaft entsandt, um am Rotterdamer Hafen zu arbeiten. Nachdem sich abzeichnete, dass der Arbeitseinsatz die 90 Tage überschreiten würde, musste das Unternehmen für jeden Arbeitnehmer bei der zuständigen niederländischen Behörde Aufenthaltserlaubnisse beantragen. Dafür entstanden je nach individueller Situation des Betroffenen eine Gebühr in Höhe von 290 bis 320 EUR.
Nach der ersten Antragstellung konnte allerdings der Gesamtzeitraum des Arbeitseinsatzes in den Niederlanden durch die beantragten Aufenthaltstitel nicht abgedeckt werden, da diese an den Gültigkeitszeitraum der slowakischen Aufenthaltstitel gekoppelt waren. Gegen diese Entscheidung legten die ukrainischen Arbeitnehmer Widerspruch ein, der jedoch am 07.04.2021 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Dabei hatten sie sich sowohl gegen die Pflicht zur Einholung einer Aufenthaltserlaubnis für die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen als auch gegen die Gültigkeitsdauer der ausgestellten Aufenthaltserlaubnisse und die Gebühren für die Bearbeitung ihrer Anträge gerichtet.
Letztendlich mussten deshalb zunächst die slowakischen Aufenthaltserlaubnisse verlängert und dann eine Verlängerung der Aufenthaltstitel in den Niederlanden vom Arbeitgeber beantragt werden, um den Entsendezeitraum abzudecken. Diese Verfahren wurden jeweils erfolgreich durchgeführt.
Parallel dazu erhoben die ukrainischen Arbeitnehmer Klage vor dem vorlegenden niederländischen Gericht auf Nichtigkeit der Entscheidung vom 07.04.2021 wegen Verstoßes gegen Art. 56 und 57 AEUV. Sie argumentierten, dass die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen, deren Gültigkeitsdauer auf die Gültigkeitsdauer ihrer slowakischen Aufenthaltserlaubnisse beschränkt seien, eine ungerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit gemäß den Art. 56 und 57 AEUV darstelle. Vor Gericht bestritten sie die Notwendigkeit, eine Aufenthaltserlaubnis im Mitgliedstaat der Dienstleistungserbringung neben der Aufenthaltserlaubnis des Mitgliedstaates zu besitzen, in dem der Dienstleistungserbringer niedergelassen ist. Zudem beanstandeten sie die Höhe der Gebühren für die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die fünfmal höher waren als die Gebühren, die für den rechtmäßigen Aufenthalt eines Unionsbürgers zu entrichten sind.
Daraufhin wandte sich das niederländische Gericht mit drei Vorlagefragen an den EuGH.
Erste Vorlagefrage: „abgeleitetes Aufenthaltsrecht“?
Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage musste der EuGH (Urt. v. 20.06.2024 – C‑540/22) entscheiden, ob aus der Dienstleistungsfreiheit nach den Art. 56 und 57 AEUV ein Recht abgeleitet werden kann, das den entsandten Drittstaatsangehörigen zur Dienstleistungserbringung in einem anderen EU-Staat berechtigt.
Das „abgeleitete Aufenthaltsrecht“ soll praktisch dadurch entstehen, dass der Arbeitgeber von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch macht. Die Konstruktion eines solchen „abgeleiteten Aufenthaltsrechts“ ist dem Gericht bei drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern von Unionsbürger bereits bekannt. Dabei werde diesen aus Art. 21 AEUV ein Aufenthaltsrecht abgeleitet, sobald ein Unionsbürger nur deshalb vom Gebrauch seines Freizügigkeitsrecht absieht, weil er nicht die Gewissheit haben könnte, sein Familienleben weiter fortzuführen.
Von dieser Argumentation könne jedoch der in einem Mitgliedstaat niedergelassene Dienstleistungserbringer nicht profitieren. Insbesondere ist hier die Gewährleistung des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, laut EuGH, nicht auf die Beziehung der drittstaatsangehörigen entsandten Arbeitnehmer zu ihrem Arbeitgeber übertragbar.
Zweite Vorlagefrage: Aufenthaltserlaubnis nach 90 Tagen erforderlich?
Mit seiner zweiten Vorlagefrage wollte das niederländische Gericht wissen, ob es erforderlich ist, neben der Erfüllung der einfachen Meldepflicht des Dienstleistungsunternehmens im Aufnahmestaat eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, wenn die Dauer der Entsendung länger als 90 Tage beträgt.
Das Erfordernis ein Aufenthaltstitel im Aufnahmestaat zu beantragen, wird vom EuGH als Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 und 57 AEUV gesehen. Zur Rechtfertigung dieser Beschränkung müssten die Niederlande Gründe zum Schutz des Allgemeininteresses anführen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren.
Die Niederlande führten folgende Begründung für den Erlass ihrer nationalen Vorschriften an:
- Die Notwendigkeit, den Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt zu schützen.
- Die Notwendigkeit, zu prüfen, ob ein Dienstleistungserbringer, der in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen niedergelassen ist, in dem die Dienstleistung erbracht wird, von der Dienstleistungsfreiheit nicht zu einem anderen Zweck als der Erbringung dieser Dienstleistung Gebrauch macht.
- Die Wahrung des Rechts der entsandten Arbeitnehmer auf Rechtssicherheit, da ihnen die Ausstellung eines Aufenthaltsdokuments den Nachweis ermöglicht, dass sie sich nicht illegal im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ihrer Entsendung aufhalten.
- Die Notwendigkeit, zu kontrollieren, dass der entsandte Arbeitnehmer keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.
Der Schutz des Allgemeininteresses wurde durch den EuGH bezüglich der letzten beiden Punkte bejaht. Der erste Grund könne nicht greifen, da die entsandten Arbeitnehmer keinen Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt suchten. Außerdem sei die Zweckbestimmung des Arbeitseinsatzes bereits über die Meldepflicht feststellbar und somit auch der zweite Grund hinfällig. Der Schutz der öffentlichen Ordnung wurde jedoch vom EuGH als legitimer Grund festgestellt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde der Rechtsstreit an das vorlegende Gericht zurückverwiesen. Es sei durch dieses festzustellen, ob die notwendigen Informationen zum Schutz der öffentlichen Ordnung nicht bereits zuverlässig anhand der Angaben, die über das Meldeverfahren abgefragt oder vernünftigerweise verlangt werden könnten, ermittelt werden können.
Dritte Vorlagefrage: Verwaltungsgebühren gerechtfertigt?
Der EuGH beschäftigte sich außerdem mit der Frage, ob die verlangten Verwaltungsgebühren für einen Aufenthaltstitel im Aufnahmestaat gerechtfertigt sind. Im Kontext der Gebühren ist – laut EuGH – davon auszugehen, dass diese deutlich höher ausfallen dürften als solche für die Ausstellung eines Nachweises über den rechtmäßigen Aufenthalt von Unionsbürgern. Es sei allerdings wichtig, dass diese Gebühren zumindest annähernd den Verwaltungskosten entsprechen.
Daneben wurde die beschränkte Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis behandelt und geprüft, ob diese auf die Dauer der Aufenthaltserlaubnis im anderen Mitgliedstaat beschränkt sein darf, ohne dass sie den kompletten Einsatzzeitraum in den Niederlanden abdeckt. Die Aufenthaltserlaubnis der niederländischen Behörden müssen nach dem EuGH befristet ausgegeben werden können, da der Dienstleistungserbringer im Rahmen seiner Dienstleistungsfreiheit sein Personal ausschließlich vorübergehend verlagert. Selbst wenn die Aufenthaltserlaubnisse nicht für den gesamten Einsatzzeitraum ausgegeben werden, könne der Arbeitgeber ohne Erfüllung übermäßiger Formalitäten die Gültigkeitsdauer verlängern. Die Behörden dürften nicht absichtlich Aufenthaltstitel mit offensichtlich zu kurzer Gültigkeit ausgeben, allerdings sei die Anknüpfung an die slowakischen Aufenthaltstitel im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden.
Fazit
Für Dienstleistungserbringer, die den Einsatz ihrer drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer in anderen EU-Mitgliedstaaten planen, bedeutet diese Entscheidung, dass dabei weiterhin mit hohem Verwaltungsaufwand gerechnet werden kann. Der EuGH stellte fest, dass die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch das nationale Prüfungsinteresse zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt ist. In Deutschland wird diese Prüfung in Form eines Vander-Elst-Visums durchgesetzt, das bereits vor Einreise von den Mitarbeitern selbst beantragt werden muss. Durch die Zurückweisung an das niederländische Gericht stellt das Urteil zwar die Verhältnismäßigkeit der Erteilung eines „zusätzlichen“ Aufenthaltstitels ein wenig infrage. Es wird aber den nationalen Gerichten überlassen, die Verhältnismäßigkeit der Abfrageform und des Prüfungsumfangs in Bezug auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit festzustellen.