Das Thema
Der Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie für ein sog. drittes Bürokratieentlastungsgesetz war in den letzten Wochen in aller Munde. Am 17. Oktober stand der von der Bundesregierung abgesegnete Entwurf auf der Tagesordnung des Bundestages und wurde zur weiteren Beratung an die Ausschüsse – unter Federführung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie – überwiesen. Von der Wirtschaft wurde der Entwurf überwiegend kritisch aufgenommen, da er entscheidende Stellschrauben wie überbordende Datenschutzregelungen, langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren, aber auch komplexe steuerrechtliche Fragen überhaupt nicht angehe.
Aus arbeitsrechtlicher Sicht zweifelsohne interessant und mit potentiellen Einsparmöglichkeiten für den Arbeitgeber verbunden, ist die geplante Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung). Eingerichtet werden soll ein elektronisches Meldeverfahren, welches den klassischen „gelben Schein” künftig weitgehend ersetzen soll.
Während hierdurch die in der Praxis immer wieder anzufindenden Konflikte über das rechtzeitige Einreichen der AU-Bescheinigung größtenteils verschwinden werden dürften, könnte die nach wie vor für Schlagzeilen sorgende Online-Krankschreibung (früher noch über WhatsApp) weiter an Relevanz gewinnen und damit zwangsläufig zu Problemen auf Seiten der Arbeitgeber führen. Das Hamburger Start-Up „AU-Schein“ ist erst kürzlich dazu übergegangen, ihr Angebot zu erweitern und AU-Bescheinigungen per Mausklick nicht nur für Erkältungen, sondern auch für Rücken- und Regelschmerzen anzubieten.
Die elektronische AU-Bescheinigung: Die geplante Neuregelung im Überblick
Statt der Übergabe der AU-Bescheinigung durch den Arbeitnehmer sollen die Krankenkassen ab dem 1. Januar 2021 den Arbeitgeber auf Abruf elektronisch über Beginn und Dauer der Arbeitsunfähigkeit seines gesetzlich versicherten Arbeitnehmers sowie über den Zeitpunkt des Auslaufens der Entgeltfortzahlung informieren. Die jährlich knapp 80 Millionen AU-Bescheinigungen in Papierform könnten damit in Zukunft hinfällig werden. Gleichzeitig ist in der elektronischen Mitteilung festzuhalten, ob es sich um eine Erst- oder Folgemeldung handelt. Auch dies ist aktuell (noch) ein häufiger Streitpunkt. Für die Wirtschaft soll sich der Bürokratieaufwand damit um bis zu 549 Millionen Euro verringern.
Die geplante Änderung soll mit der Einfügung eines neuen Absatzes 1a in § 5 EFZG umgesetzt werden. Danach würden die Verpflichtungen nach § 5 Absatz 1 Satz 2 bis 5 EFZG nicht für Arbeitnehmer gelten, die Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind. Diese müssten lediglich die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen lassen, wobei die bekannten Zeitpunkte (insb. die Nachweispflicht bei einer Arbeitsunfähigkeit über drei Kalendertage hinaus, sofern der Arbeitgeber nicht einen früheren Nachweis verlangt) bestehen blieben. Weiterhin trifft den Arbeitnehmer selbstverständlich seine Meldepflicht gegenüber dem Arbeitgeber nach § 5 Absatz 1 Satz 1 EFZG.
Gänzlich ohne AU-Bescheinigung in Papierform soll es aber doch nicht gehen
Statt wie bisher drei Ausfertigungen erhält der Arbeitnehmer lediglich noch eine, die nach der Begründung des Referentenentwurfs als Beweismittel dienen soll und insbesondere in Störfällen (etwa einer fehlgeschlagenen Übermittlung im elektronischen Verfahren) das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung der Entgeltfortzahlung nach § 3 EFZG außerprozessual und prozessual nachweisen kann.
Ausdrücklich ausgenommen von der geplanten Neuregelung werden geringfügige Beschäftigungen in Privathaushalten und solche Ärzte, die nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Nicht explizit erwähnt wird hingegen die Herausnahme privater Krankenversicherungen. Denn die Verpflichtung soll zunächst mit einer Neuregelung des § 109 SGB IV nur die gesetzlichen Krankenversicherungen treffen. Ob und inwieweit zu einem späteren Zeitpunkt auch die privaten Krankenversicherungen von diesem System Gebrauch machen werden, ist aktuell noch unklar. Jedenfalls in der Anfangsphase werden sich die Arbeitgeber aber darauf einstellen müssen, nicht nur auf elektronischem Wege, sondern – wie gehabt – die AU-Bescheinigungen in Papierform in Empfang nehmen zu müssen.
Implikationen auf das Modell der Online-Krankschreibung
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Umstellung auf eine elektronische Übermittlung auch Folgen für das neue Geschäftsmodell der Online-Krankschreibung hat. Die generelle Thematik findet nach wie vor große Beachtung und das Hamburger Start-Up „AU-Schein“ schafft es mit immer neuen Vorstößen eine erhebliche Medienpräsenz zu kreieren. Dabei sind die rechtlichen Grundlagen des unternehmerischen Konzepts bei weitem nicht geklärt. Sowohl die Hamburger Ärztekammer als auch der GKV Spitzenverband prüfen aktuell mögliche Verstöße gegen die Berufsordnung und die Möglichkeit juristischer Schritte.
Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist vor allem der (eingeschränkte) Beweiswert einer so erlangten AU-Bescheinigung zu diskutieren. Mit der geplanten Einführung eines elektronischen Übermittlungssystems könnten Hemmschwellen für Arbeitnehmer abgebaut und Überprüfungsmöglichkeiten für den Arbeitgeber wegfallen, sodass mit einem weiteren Aufwind der Online-Krankschreibung zu rechnen ist.
In Kürze: So funktioniert die Online-Krankschreibung
Das Hamburger Unternehmen versucht, mit seinem Geschäftsmodell von der beschlossenen Aufweichung des Fernbehandlungsverbots auf dem 121. Deutschen Ärztetag 2018 in Erfurt zu profitieren. Insbesondere um das Problem des Ärztemangels im ländlichen Raum anzugehen, beschloss man eine Aufweichung dieses Grundsatzes und fasste eine Neuregelung, die die Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien im Einzelfall erlaubt. Von dieser Möglichkeit haben bereits einige Ärztekammern (etwa in Schleswig-Holstein und Bayern) Gebrauch gemacht und einen entsprechenden Passus aufgenommen.
Der Service des Hamburger Unternehmens funktioniert dabei so, dass der Nutzer auf der ersten Seite zunächst seine Krankheitssymptome angibt und einige Fragen beantwortet. Auf der nächsten Seite muss er bestätigen, dass er zu keiner Risikogruppe gehört. Im Anschluss daran sind die persönlichen Daten anzugeben und der Extraservice mit EUR 9,00 zu bezahlen. Der Arzt diagnostiziert in der Regel – laut FAQ in 99% der Fälle (!) – eine zuvor angewählte Krankheit, stellt ohne weitere Prüfung die AU-Bescheinigung aus und sendet diese als PDF (nicht wie bisher als Screenshot über WhatsApp) sowie zusätzlich gegen ein weiteres Entgelt von EUR 5,00 im Original per Post. Sollte der Nutzer „unglücklicherweise” die falschen Symptome angewählt haben, erscheint eine Mitteilung, dass er diesen Dienst aus Sicherheitsgründen nicht nutzen kann. Mit einem Klick zurück und der Einstellung neuer Symptome geht es dann aber problemlos weiter.
Einschränkungen bestehen laut FAQ nur insoweit, dass sich der Arbeitnehmer für eine Erkältung nur 4x im Jahr, für Rückenschmerzen 2x im Jahr und bei Regelschmerzen immerhin 17x im Jahr krankschreiben lassen kann. Die FAQs enthalten im Übrigen auch noch (zweifelhafte) Hinweise darauf, ob und wann der Arbeitnehmer bei der Online-Krankschreibung fehlerhafte Angaben machen darf. Im Ergebnis wird den Nutzern damit eine perfekte Plattform suggeriert, um unkompliziert einen Tag „blauzumachen“.
Aber: fehlender Beweiswert einer so erlangten AU-Bescheinigung
Dies ist aber unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten höchst zweifelhaft. Fraglich ist vor allem, ob einer solchen AU-Bescheinigung der gleiche hohe Beweiswert zukommen kann, wie dies bislang von der Rechtsprechung für „gewöhnliche” AU-Bescheinigungen angenommen wird. Danach muss der Arbeitgeber im Falle der Vorlage einer AU-Bescheinigung Tatsachen vortragen und – im Bestreitensfalle – beweisen, die ernsthaften Zweifel am Wahrheitsgehalt der AU-Bescheinigung aufkommen lassen. Dies ist in der Praxis regelmäßig ein sehr schwieriges Unterfangen.
Die Online-Krankschreibung über „AU-Schein“ weist demgegenüber mindestens zwei Besonderheiten auf, die geeignet sind, den Beweiswert im Einzelfall zu erschüttern:
Offenkundig ist zunächst die fehlende ärztliche Untersuchung. Der Arzt kann lediglich die (voreingestellten) Antwortmöglichkeiten bewerten. Diese können wahllos und beliebig häufig geändert werden. Eine Untersuchung im klassischen Sinne und die von § 4 Absatz 1 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie geforderte Feststellung des körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustands sind dem Arzt überhaupt nicht möglich. Der gesamte Ablauf ist nicht darauf gerichtet, dass sich der Arzt tatsächlich ein Bild von dem (angeblichen) Patienten macht, sondern es geht um das bloße Abzeichnen von vorgefertigten Symptombildern. Einer solchen AU-Bescheinigung kann kein erhöhter Beweiswert zukommen.
Das BAG hat das schon früh für den Fall entschieden, in welchem ohne persönliche Untersuchung des Arbeitnehmers allein aufgrund einer fernmündlichen Krankmeldung durch die Ehefrau eine AU-Bescheinigung ausgestellt wurde (BAG, Urteil v. 11. August 1976 – 5 AZR 422/75). Zwar war zum Zeitpunkt der Rechtsprechung die Fernbehandlung noch gänzlich untersagt, allerdings setzt auch die neue Regelung in § 7 Absatz 4 der Musterberufsordnung für Ärzte (MBO-Ä) voraus, dass eine ärztliche Untersuchung stattfindet. Hierauf ist das Geschäftsmodell ersichtlich nicht angelegt. Deutlich wird dies auch mit Blick auf die FAQs. Es ist den Arbeitnehmern danach selbst überlassen zu bestimmen, wie lange sie krankgeschrieben werden wollen. Wörtlich heißt es hierzu:
„Wie viele Tage kann ich krankgeschrieben werden? 1 bis 3 Tage. Der Arzt folgt immer Ihrem Wunsch.”
Wann Arbeitgeber darüber hinaus stutzig werden sollten
Der Beweiswert einer über die Plattform „AU-Schein” erworbenen AU-Bescheinigung lässt sich aber auch mit dem Argument erschüttern, dass eine notwendige Trennung zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit nicht stattfindet und auch – mangels konkreter Anhaltspunkte – nicht zutreffend vom Anbieter bestimmt werden kann. § 3 Absatz 1 EFZG setzt voraus, dass eine Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit vorliegt. Denn nicht jede Krankheit führt zur Arbeitsunfähigkeit und insbesondere bei einer einfachen Erkältung oder auch bei Regelschmerzen bedarf es einer gesonderten Prüfung, ob der Arbeitnehmer wirklich arbeitsunfähig ist. Auch hierauf verzichtet das Start-Up (bewusst) und verstößt damit zugleich gegen § 2 Abs. 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie.
Im Ergebnis lässt sich einer AU-Bescheinigung zwar nicht entnehmen, ob diese nach einer persönlichen Untersuchung oder lediglich aufgrund einer telemedizinischen Untersuchung ausgestellt wurde. Stutzig machen sollte den Arbeitgeber aber, wenn der ausstellende Arzt plötzlich in Schleswig-Holstein (von hier aus agieren aktuell die Vertragsärzte von AU-Schein) und damit weit vom Wohnort des betroffenen Arbeitnehmers entfernt sitzt.
Daneben ist anzunehmen, dass nicht allzu viele Ärzte ihren Namen für dieses – auch moralisch fragwürdige – Geschäftsmodell hergeben werden. Somit dürften diejenigen, die ohne weitere Prüfung eine AU-Bescheinigung unterzeichnen, schnell bekannt sein. Die Erstellung einer schwarzen Liste und deren umfangreiche Verbreitung (etwa durch den Arbeitgeberverband) könnte den betroffenen Arbeitgebern erheblich weiterhelfen.
Darüber hinaus kann der Arbeitgeber die Krankenkasse des Arbeitnehmers in diesen Fällen gemäß § 275 SGB V verpflichten, eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einzuholen, um Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit zu beseitigen.
Auswirkungen der elektronischen AU-Bescheinigung?
Diese Schutzmechanismen könnten mit der Neuregelung aber obsolet werden, weil sich der Arbeitgeber lediglich bei der Krankenkasse auf Abruf elektronisch über Beginn und Dauer der Arbeitsunfähigkeit seines gesetzlich versicherten Arbeitnehmers sowie über den Zeitpunkt des Auslaufens der Entgeltfortzahlung informieren kann. Erfährt der Arbeitgeber nicht mehr, welcher Arzt an welchem Ort die AU-Bescheinigung ausgefüllt hat, fällt die Identifikation und damit auch die Angreifbarkeit regelmäßig weg.
Dem Geschäftsmodell von AU-Schein wird die fortschreitende Anonymisierung womöglich aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt entgegenkommen: Die Hemmschwelle zur Nutzung des Angebots dürfte weiter sinken, wenn der Arbeitnehmer mit weniger unangenehmen Rückfragen zu rechnen hat.
Das Ende des “gelben Scheins”: Handlungsempfehlungen
Die Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung und das damit eingeläutete Ende des „gelben Scheins” bleibt selbstverständlich zu begrüßen. Die Reduzierung des Bürokratieaufwands ist gerade für den Mittelstand von großer Bedeutung. Auch die Vermeidung von unnötigen arbeitsrechtlichen Streitigkeiten rund um das Thema AU-Bescheinigung kann Zeit und Ressourcen sparen. Die weitergehende Anonymisierung eröffnet möglicherweise aber auch Missbrauchsmöglichkeiten, gerade im Bereich der Online-Krankschreibung.
Das Geschäftsmodell des Hamburger Start-Ups wird die Arbeitgeber auch weiterhin beschäftigen. Aktuell jedenfalls bestehen aufgrund der physischen AU-Bescheinigung (noch) gute Möglichkeiten, die Online-Krankschreibung als solche zu identifizieren und den Beweiswert ggf. gerichtlich zu erschüttern. Offen ist ohnehin noch, ob das praktizierte Modell einer gerichtlichen Überprüfung standhält.
Davon unabhängig ist den Arbeitgebern zu empfehlen, ihre Arbeitnehmer mit Blick auf die Online-Krankschreibung zu sensibilisieren – gerade mit Blick auf drohende arbeitsrechtliche Konsequenzen. Gelingt es dem Arbeitgeber nämlich, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern und stellt sich heraus, dass der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit damit nur vorgetäuscht hat, wird aus dem „Traum vom Blaumachen” schnell ein Albtraum. Denn erschleicht sich der Arbeitnehmer unberechtigt die Entgeltfortzahlung, stellt dies einen vollendeten Betrug dar, der regelmäßig die verhaltensbedingte fristlose Kündigung rechtfertigt.