Das Thema
Das Gericht
- betont die Bedeutung der Koalitionsfreiheit und stellt die unmittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien an den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz fest,
- benennt Maßstäbe zur richterlichen Kontrolle von tariflichen Regelungen, deren Gehalt im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegt, und
- äußert sich zu den Rechtsfolgen im Falle einer Verletzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes durch die Tarifvertragsparteien.
Im Ergebnis widerspricht das BVerfG deutlich der Praxis des BAG, gleichheitswidrigen tariflichen Regelungen im Regelfall mit einer „Anpassung nach oben“ zu begegnen. Zugleich wirft es neue Fragen zur Abgrenzung von richterlicher Kontrolle und tariflicher Gestaltungsfreiheit auf.
Sachverhalt
Der Beschluss des BVerfG vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21) beschäftigt sich mit zwei Urteilsverfassungsbeschwerden, die sich gegen Entscheidungen des BAG vom 09.12.2020 sowie vom 22.03.2023 richten. In beiden Fällen stand die unterschiedliche tarifliche Behandlung von (unregelmäßiger) Nachtarbeit und (regelmäßiger) Nachtschichtarbeit im Fokus.
Konkret gewährten die einschlägigen Tarifverträge einen Zuschlag von 25 % für Nachtschichtarbeit, während für Nachtarbeit ein Zuschlag in Höhe von 50 % vorgesehen war. Das BAG hatte diese Differenzierung als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gewertet. Es gab den klagenden Arbeitnehmern Recht, die eine rückwirkende Anpassung der niedrigeren Zuschläge verlangten. In einem Verfahren gab das BAG sogar einem auf die Zukunft gerichteten entsprechenden Feststellungsantrag statt. Der Zehnte Senat nahm auf Rechtsfolgenseite also eigenmächtig eine „Anpassung nach oben“ vor.
Gegen diese Entscheidungen wandten sich die unterlegenen Arbeitgeber mit Verfassungsbeschwerden. Sie rügten eine Verletzung ihrer Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG.
Entscheidung des BVerfG
Das BVerfG folgte dieser Argumentation: Das BAG habe die grundrechtlich geschützte Tarifautonomie nicht ausreichend berücksichtigt.
Bindung der Tarifvertragsparteien an den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG
Im ersten Teil seiner Entscheidung klärt das BVerfG, dass die Tarifvertragsparteien bei der Festsetzung von Tarifnormen an den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind. Das BVerfG gibt damit Antwort auf eine jahrelang kursierende Grundsatzfrage zur Begründung der Grundrechtsbindung. Es leitet die Grundrechtsverpflichtung nicht aus der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zwischen Privaten her, sondern direkt aus der Verfassung.
Die Tarifautonomie ist Teil der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG und schützt u.a. den autonomen Abschluss von Tarifverträgen. Ihr Zweck – die Verbesserung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – werde nur erreicht, wenn Tarifverträge rechtsverbindlich in Arbeitsverträge einfließen.
Obwohl das Grundgesetz keine direkte Bindung der Tarifparteien an den Gleichheitssatz vorschreibt, ist die Tarifautonomie nicht uneingeschränkt gewährleistet. Sie unterliegt verfassungsimmanenten Schranken, etwa den Grundrechten Dritter. Die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge kann die individuellen Rechte der tarifgebundenen Beschäftigten gefährden, da diese oft keinen direkten Einfluss auf die Tarifverhandlungen haben. Deshalb müsse die Koalitionsfreiheit die Mitglieder der Tarifparteien schützen, indem sie die Bindung an die Grundrechte bei der Tarifnormsetzung vorschreibt. Zwar wird dies im Beschluss vorrangig auf den allgemeinen Gleichheitssatz angewendet, die Argumentation dürfte jedoch genauso auf Freiheitsrechte übertragbar sein.
Die unmittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte ist nicht vom gesamten Senat des BVerfG mitgetragen worden ist (7:1). Richter Wolff sprach sich in einem Sondervotum gegen eine unmittelbare Grundrechtsbindung von Koalitionen aus, die nach seiner Auffassung nicht im Grundgesetz vorgesehen sei. Diese dogmatische Meinungsverschiedenheit dürfte für den Praktiker aber letztlich folgenlos bleiben.
Begrenzter Überprüfungsspielraum der Gerichte
Das BVerfG sah in den Urteilen des BAG eine Verletzung der Tarifautonomie, da bei der Prüfung der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ein zu strenger Maßstab angelegt worden sei.
Die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien steht im Spannungsverhältnis zum Zweck der Tarifautonomie, insbesondere zur autonomen Aushandlung von Tarifregelungen. Das müssen Gerichte hinreichend berücksichtigen, wenn sie Tarifnormen überprüfen. Den Tarifvertragsparteien kommt ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Je größer dieser Spielraum, desto geringer der Raum für gerichtliche Kontrolle und desto stärker muss auf die Richtigkeitsvermutung des Tarifvertrags vertraut werden.
Der Umfang des Gestaltungsspielraums ist einzelfallbedingt und u.a. vom Regelungsgegenstand, den betroffenen Grundrechten und den voraussichtlichen Auswirkungen auf die Tarifgebundenen abhängig. Der Spielraum der Tarifvertragsparteien ist besonders weit, wenn der Regelungsgegenstand den Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betrifft. In solchen Fällen ist lediglich eine Willkürkontrolle durch die Gerichte zulässig. Engere Spielräume bestehen jedoch bei einem Bezug zu personenbezogenen Merkmalen oder wenn Minderheiten oder spezifische Gruppeninteressen gefährdet sind. Das BVerfG ließ aber offen, wie eine gerichtliche Kontrolle in solchen Fällen konkret aussehen soll.
Im vorliegenden Fall betrachtete das BVerfG Zuschlagsregelungen als Teil des Entgelts, welches den Kernbereich der Arbeitsbedingungen betrifft. Daher wäre lediglich der Raum für eine Willkürkontrolle eröffnet gewesen, zumal keine Anhaltspunkte für eine Benachteiligung von Minderheiten vorlagen.
Eine Ungleichbehandlung ist nur dann willkürlich, wenn es an einem plausiblen sachlichen Grund für die Differenzierung fehlt. Das BVerfG fand vorliegend gleich mehrere sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit. In den betreffenden Tarifbereichen wurde der Arbeitsbedarf fast ausschließlich durch Nachtschichtarbeit gedeckt, während Nachtarbeit nur selten erforderlich war. Die beiden Tätigkeiten unterscheiden sich vor allem in ihrer Planbarkeit. Durch die höheren Zuschläge könnten Mitarbeiter trotz der möglichen Nachteile zur Nachtarbeit motiviert werden. Gleichzeitig trägt eine Verteuerung der Nachtarbeit für die Unternehmen auch dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer Rechnung.
Die Ungleichbehandlung war hier nicht willkürlich und der Prüfungsmaßstab der Gerichte damit erschöpft. Das BAG habe durch seine darüber hinausgehende Prüfung zu stark in die Tarifautonomie eingegriffen und diese verletzt.
Fehler in der Anordnung der „Anpassung nach oben“
Zudem stellte das BVerfG (Rn. 239) fest, dass – auch wenn eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch die Zuschlagsregelungen vorgelegen hätte – das BAG jedenfalls in der Rechtsfolge nicht die „Anpassung nach oben“ hätte anordnen dürfen:
„Es hätte auch im Falle einer Gleichheitswidrigkeit deshalb zunächst den Tarifvertragsparteien Gelegenheit gegeben werden müssen, einen schonenden Ausgleich der widerstreitenden Positionen im Wege einer autonomen Verhandlung zu erzielen.“
Die Normsetzungskompetenz für Tarifregelungen liegt bei den Tarifvertragsparteien, sodass diesen auch die primäre Korrekturkompetenz zukomme, sofern es einen Gestaltungsspielraum bei der Beseitigung der Ungleichbehandlung gibt. Dies betrifft sowohl die Beseitigung des gleichheitswidrigen Zustandes für die Zukunft als auch die Beseitigung für die Vergangenheit, sofern im letztgenannten Fall Vertrauensschutzgrundsätze nicht entgegenstehen. Gerichte sollen damit nicht in die Verhandlungsbereitschaft und -kompetenz der Tarifvertragsparteien eingreifen.
Fazit und Praxisbezug
Mit dem Beschluss des BVerfG ist nun klargestellt (7:1), dass die Tarifvertragsparteien bei der Schaffung rechtsverbindlicher Tarifregelungen unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind.
Dabei ist der gerichtliche Kontrollmaßstab jedoch deutlich begrenzt. Über die im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geltende Willkürkontrolle hinaus bleibt der genaue Umfang richterlicher Überprüfung offen. Dies könnte künftig zu unterschiedlichen Auffassungen der Gerichte über den Prüfungsmaßstab führen.
Auch in Bezug auf die Rechtsfolgen zeichnen sich mögliche Herausforderungen ab – insbesondere dann, wenn es mehrere grundrechtskonforme Wege zur Beseitigung einer festgestellten Verletzung gibt. Die Formulierungen des BVerfG zeigen, dass „primär“ die Tarifvertragsparteien selbst für Abhilfe sorgen sollen. Dem Beschluss lässt sich aber auch entnehmen, dass Gerichte unter bestimmten Umständen eigene Anordnungen treffen könnten. Für eine „Anpassung nach oben“ sei dies aber nur dann anzunehmen, wenn das Gestaltungsermessen der Tarifvertragsparteien derart reduziert ist, dass sich die Vergünstigung für beide Personengruppen als einzige rechtskonforme Gestaltungsmöglichkeit darstellt.
Die Anforderungen an eine derartige Reduzierung des Gestaltungsermessens dürften in der Praxis sehr hoch sein, sodass Arbeitgeber in Zukunft gute Karten haben dürften, insbesondere im Falle gleichheitswidriger tariflicher Zuschläge, eine „Anpassung nach oben“ in Individualstreitigkeiten zu verhindern. Das Vertrauen in die Verbindlichkeit tariflicher Regelungen wird dadurch zwar gestärkt, gleichzeitig werden für Arbeitnehmer derartige Verfahren zukünftig wohl bedeutend seltener mit einem direkten Zuspruch der günstigeren Regelung enden.
Insgesamt trägt der Beschluss zur Klärung grundlegender verfassungsrechtlicher Fragen bei, belässt jedoch zugleich wesentliche Aspekte in einem Zustand interpretatorischer Offenheit (z.B. welcher Maßstab außerhalb des Kernbereichs der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gilt). Die weitere Konkretisierung bleibt damit der gerichtlichen Anwendung und Fortentwicklung überlassen.