Dies hat der EuGH durch Urteil vom 08.03.2022 (C‑205/20, Pressemitteilung des EuGH v. 08.03.2022) entschieden.
Fehlerhafte Dokumentation bei Entsendung
Die Gesellschaft CONVOI s. r. o. mit Sitz in der Slowakei, vertreten durch NE, entsandte Arbeitnehmer an eine Gesellschaft mit Sitz in Fürstenfeld (Österreich). Mit Straferkenntnis von Juni 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld auf der Grundlage von Erhebungen bei einer einige Monate zuvor durchgeführten Kontrolle über NE eine Geldstrafe in Höhe von 54.000 Euro wegen der Nichteinhaltung mehrerer im österreichischen Arbeitsrecht vorgesehener Verpflichtungen u. a. zur Aufbewahrung und Zurverfügungstellung von Lohn- und Sozialversicherungsunterlagen. NE erhob gegen dieses Straferkenntnis Beschwerde an das vorlegende Gericht, das Landesverwaltungsgericht Steiermark.
Österreichisches System der Sanktionierung unverhältnismäßig?
Im Oktober 2018 ersuchte dieses Gericht, das Zweifel an der Vereinbarkeit von Sanktionen wie den in der streitigen nationalen Regelung vorgesehenen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hatte, den Gerichtshof um Vorabentscheidung. In seinem Beschluss vom 19.12.2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld, hatte der Gerichtshof festgestellt, dass das Zusammenspiel verschiedener Teile des österreichischen Systems für die Sanktionierung von Verstößen gegen im Wesentlichen administrative Pflichten der Aufbewahrung bestimmter Unterlagen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern unverhältnismäßig ist.
Unter Hinweis darauf, dass der nationale Gesetzgeber die fragliche Regelung im Anschluss an diesen Beschluss nicht geändert habe, und unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof im Urteil vom 04.10.2018, Link Logistik N&N, getroffenen Entscheidung, beschloss das vorlegende Gericht, dem Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob und gegebenenfalls inwieweit diese Regelung unangewendet bleiben kann. In diesem Urteil hatte der Gerichtshof nämlich festgestellt, dass eine mit Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vergleichbare Vorschrift des Unionsrechts keine unmittelbare Wirkung hat.
Mit seinem Urteil äußert sich der Gerichtshof in der Zusammensetzung als Große Kammer zum einen zu der Frage, ob das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen unmittelbare Wirkung hat. Zum anderen erläutert er den Umfang der Verpflichtungen eines nationalen Gerichts, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dessen Rahmen nationale Vorschriften anzuwenden sind, mit denen unverhältnismäßige Sanktionen verhängt werden.
Würdigung durch den Gerichtshof
In einem ersten Schritt stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 20 der Richtlinie 2014/67 unmittelbare Wirkung hat, soweit er verlangt, dass die von ihm vorgesehenen Sanktionen verhältnismäßig sind, und somit vom Einzelnen vor den nationalen Gerichten gegenüber einem Mitgliedstaat, der diesen Artikel unzulänglich umgesetzt hat, geltend gemacht werden kann. Zunächst führt der Gerichtshof zur Feststellung, dass das in dieser Bestimmung vorgesehene Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen einen unbedingten Charakter aufweist, aus, dass dieses Erfordernis nach dem Wortlaut von Art. 20 der Richtlinie 2014/67 absolut aufgestellt ist. Zum anderen erfordert das aus diesem Erfordernis resultierende Verbot, unverhältnismäßige Sanktionen zu erlassen, keinerlei Maßnahme der Unionsorgane, und diese Bestimmung räumt den Mitgliedstaaten keineswegs die Befugnis ein, den Umfang dieses Verbots an Voraussetzungen zu knüpfen oder einzuschränken. Es vermag die Unbedingtheit des in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehenen Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen nicht in Frage zu stellen, dass dieser Artikel Gegenstand einer Umsetzung sein muss. Sodann stellt der Gerichtshof für die Annahme, dass das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehene Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen hinreichend genau ist, fest, dass der Gestaltungsspielraum, den diese Bestimmung den Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Vorschriften über die Sanktionen belässt, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen anzuwenden sind, seine Grenzen in dem mit dieser Bestimmung generell und unmissverständlich zum Ausdruck gebrachten Verbot findet, unverhältnismäßige Sanktionen vorzusehen. Das Vorliegen eines solchen Gestaltungsspielraums schließt somit nicht aus, dass die Umsetzung dieser Bestimmung gerichtlich überprüft werden kann.
Grenzen überschritten, aber trotzdem verhältnismäßig
In einem zweiten Schritt erläutert der Gerichtshof, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die nationalen Behörden nur insoweit verpflichtet, eine nationale Regelung, von der ein Teil gegen das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehene Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen verstößt, unangewendet zu lassen, als dies erforderlich ist, um die Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen zu ermöglichen. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zwar zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele geeignet sei, wiederholt aber, dass diese Regelung wegen des Zusammenspiels ihrer verschiedenen Merkmale über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist. Bei separater Betrachtung laufen solche Merkmale diesem Erfordernis aber nicht zwangsläufig zuwider. Um die volle Wirksamkeit des in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehenen Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen zu gewährleisten, hat daher das nationale Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Sanktion wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende befasst ist, denjenigen Teil der nationalen Regelung, aus dem sich die Unverhältnismäßigkeit der Sanktionen ergibt, unangewendet zu lassen, um so zur Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen zu gelangen, die zugleich wirksam und abschreckend bleiben. Es kann nicht als Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und den der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie gegen das Rückwirkungsverbot strafrechtlicher Vorschriften angesehen werden, dass die verhängte Sanktion weniger hart ausfällt als in der anwendbaren nationalen Regelung vorgesehen, da die Sanktion weiterhin in Anwendung der genannten Regelung verhängt wird. Da außerdem das in Art. 20 der Richtlinie 2014/67 vorgesehene Verhältnismäßigkeitserfordernis zu einer Einschränkung der Sanktionen führt, die von allen mit der Anwendung dieses Erfordernisses im Rahmen ihrer Zuständigkeiten betrauten nationalen Behörden zu beachten ist, und das genannte Erfordernis es diesen Behörden gleichzeitig erlaubt, auf der Grundlage der anwendbaren nationalen Regelung unterschiedliche Sanktionen nach Maßgabe der Schwere des Verstoßes zu verhängen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein solches Erfordernis gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt.