Das Thema
Die Insolvenz der Fluggesellschaft Air Berlin beschäftigt nicht nur ihre Gläubiger, sondern auch die Arbeitsgerichte bereits seit Jahren. Der Fall hat insbesondere mit Blick auf die rechtlichen Anforderungen an Massenentlassungsanzeigen und die Folgen von Verfahrensfehlern in einigen Punkten Rechtsklarheit geschaffen.
Nachdem sich in den vergangenen Jahren hierzu in der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung eine zunehmend strenge Linie abgezeichnet hat, dürfte zumindest die aktuelle Entscheidung des BAG vom 8. November 2022 (6 AZR 15/22) Arbeitgeber aufatmen lassen.
BAG erneut zu Massenentlassung bei insolventer Fluggesellschaft
Der sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte sich im vergangenen Jahr (BAG, 8. November 2022 – 6 AZR 15/22) erneut mit dem Personalabbau bei der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin zu befassen. Nachdem das Bundesarbeitsgericht in einer Reihe von Entscheidungen (zu Piloten: BAG, 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 u.a.; zu Flugbegleitern: BAG, 14.Mai 2020 – 6 AZR 235/19; weiterhin: BAG, Urt. v. 19.05.2022 – 2 AZR 467/21 u.a.) aufgrund seiner Feststellungen zum unionsrechtlichen Betriebsbegriff die durch den Insolvenzverwalter abgegebenen Massenentlassungsanzeigen für fehlerhaft, mithin die damit angezeigten Kündigungen für nichtig nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG i.V.m § 134 BGB erklärt hatte, stellte sich im aktuellen Verfahren unter anderem die Frage, ob eine unterlassene Weiterleitung einer Abschrift der Anzeige an den Betriebsrat nach § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG gleichsam die Unwirksamkeit der der Massenentlassungsanzeige zugrunde liegenden Kündigungen bedingt.
Der Entscheidung befasst sich mit der Klage einer Flugbegleiterin, die schon gegen ihre erstmalige Kündigung erfolgreich geklagt hatte, weil diese eben jener fehlerhaften Massenentlassungsanzeige unterfiel, die der vorstehend zitierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde lag. Der Beklagte hatte in der Folge das Verfahren nach § 17 KSchG erneut durchgeführt, das heißt die Arbeitnehmervertretung erneut konsultiert, eine weitere Massenentlassungsanzeige abgegeben und das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin abermals gekündigt.
Die Klägerin wandte sich im Wesentlichen mit folgender Argumentation gegen die Kündigung:
Auch die „korrigierte“ Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft. Nachdem der Flugbetrieb bereits seit geraumer Zeit eingestellt sei, hätte der Beklagte die Entlassungen in der Anzeige nicht erneut mit der Betriebsstillegung begründen dürfen, sondern sie hätte sich auf die unternehmerische Entscheidung, den Betrieb nicht wiederzueröffnen, beziehen müssen. Weiter hätte die Massenentlassungsanzeige bei der örtlich für den Unternehmenssitz zuständigen Arbeitsagentur gestellt werden müssen, nachdem die ursprüngliche betriebliche Struktur infolge der Stilllegung aufgelöst sei. Auch sei im Konsultationsverfahren sei der Zeitraum der geplanten Entlassungen nicht hinreichend konkret benannt worden. Schließlich lasse die Massenentlassungsanzeige bei Nennung der regelmäßig im Betrieb Beschäftigten einen Arbeitnehmer unberücksichtigt.
BAG prüft einige vermeintliche Mängel
Das Bundesarbeitsgericht hat die klageabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt mit folgender Begründung:
Der Beklagte dürfe die Entlassungen auf die ursprüngliche Stilllegungsentscheidung stützen, die unverändert fortbestehe. Das bloße Festhalten an einer Entscheidung sei nicht als neue unternehmerische Entscheidung zu qualifizieren. Da die erste Kündigung lediglich aus formellen Gründen – nämlich aufgrund der fehlerhaften Massenentlassungsanzeige – unwirksam war, handele es sich bei der zweiten Kündigung nicht um eine unzulässige Wiederholungskündigung.
Die Massenentlassungsanzeige sei bei der örtlich zuständigen Arbeitsagentur gestellt worden, da die Auflösung des Flugbetriebs noch keine organisatorische Zuordnung zum Unternehmenssitz begründe. Aus Sinn und Zweck des Anzeigeverfahrens folge, dass die Anzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten sei, bei der es zu den innerhalb der Sperrfrist zu bewältigenden sozioökonomischen Auswirkungen komme. Diese träten typischerweise am Sitz des Betriebs auf, dessen örtliche Gemeinschaft von der Massenentlassungsanzeige betroffen ist. Für die durch die Massenentlassungsanzeige verursachten Vermittlungsbemühungen mache es aber keinen Unterschied, ob der Betrieb noch existiert oder bereits stillgelegt ist.
Der Beklagte habe im Konsultationsverfahren den aktuellen Planungsstand der Kündigungen angegeben. Dass sich die Planung schließlich verzögert habe, habe die Arbeitnehmervertretung auch ohne ergänzende Information einschätzen können, nachdem das Konsultationsverfahren selbst die Verzögerung bewirkt habe. Unbeachtlich sei weiter, dass ein Mitarbeiter bei der Anzahl der regelmäßig Beschäftigten unberücksichtigt geblieben sei. Diese marginale Abweichung habe keinen Einfluss auf die Vermittlungstätigkeit der Agentur für Arbeit. Es stehe mit dem Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige nicht in Einklang, wenn die fehlende Angabe einer einzigen Entlassung die Kündigungen aller anderen von der Massenentlassungsanzeige erfassten Mitarbeiter hindere. Ohnehin könne sich nur der konkrete Mitarbeiter auf die zu niedrige Angabe berufen, der in der Massenentlassungsanzeige nicht erfasst sei.
Auch spätere Stellungnahme des Betriebsrats zur Anzeige ist für Kündigungen irrelevant
Schließlich stehe ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG der Wirksamkeit der Kündigung nicht entgegen. Die Vorschrift, wonach der Arbeitgeber der Arbeitnehmervertretung eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten habe, stelle kein Verbotsgesetz nach § 134 BGB dar.
Die Weiterleitung der Anzeige an den Betriebsrat diene lediglich dessen Information, nicht jedoch der Erfüllung der Aufgaben der Arbeitsverwaltung. Zwar erhalte der Betriebsrat auf diese Weise Gelegenheit, zur Anzeige Stellung zu nehmen. Für die Beurteilung, ob eine Kündigung wirksam ist, sei jedoch – sowohl nach nationalem als auch nach unionsrechtlich determiniertem Arbeitnehmerschutzrecht – auf die Verhältnisse im Zeitpunkt ihres Zugangs abzustellen.
Erkläre nun der Arbeitgeber unmittelbar nach Einreichung der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit die Kündigung, so habe eine etwaige spätere Stellungnahme des Betriebsrats zur Anzeige hierauf keinen Einfluss mehr und sei für die Kündigung irrelevant.
Fazit: Überprüfung von Massenentlassungsanzeigen auf Formfehler noch mehr im Fokus
Das Gesetz stellt eine ganze Reihe von Anforderungen an das Massenentlassungsverfahren. Allerdings ergibt sich aus dem Gesetzestext nicht unmittelbar, welche Rechtsfolgen drohen, sollten die Verfahrensvorschriften einmal nicht eingehalten werden. Auch die fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit sowie die Kommentarliteratur lassen hier drängende Fragen offen.
Spätestens die in Zusammenhang mit der Insolvenz von Air Berlin ergangene Rechtsprechung dürfte das Thema „Massenentlassungsanzeige“ zuletzt stärker in den Fokus gerückt haben und es darf damit gerechnet werden, dass die Überprüfung von Massenentlassungsanzeigen in künftigen Kündigungsschutzverfahren eine größere Rolle spielen wird als bisher.
Umso wichtiger wird es für Arbeitgeber sein, sich bei der Planung von Personalabbaumaßnahmen sorgfältig mit der Thematik auseinanderzusetzen, zumal die altbewährte Vermeidungsstrategie, Entlassungen gestaffelt vorzunehmen, angesichts zunehmender wirtschaftlicher Herausforderungen für Unternehmen nicht immer erwogen werden kann.
Praxishinweis: Ein möglicher „Fahrplan“ für Verfahren rund um Massenentlassungsanzeigen
Ein „Fahrplan“ für das Anzeigeverfahren sieht aus wie folgt:
- Prüfung der Personalabbaumaßnahme dahin, ob die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG erreicht sind. Maßgeblich ist der unionsrechtliche Betriebsbegriff.
- Sofern der Schwellenwert erreicht und eine Arbeitnehmervertretung gebildet sind, ist diese nach § 17 Abs. 2 KSchG mindestens zwei Wochen vor Durchführung der geplanten Entlassungen durch den Arbeitgeber unter Wahrung der Schriftform (§ 126 BGB) konsultiert werden. Das Auslassen dieses Schritts führt zur Nichtigkeit der Kündigungen.
- „Gleichzeitig“ ist nach § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit eine Abschrift des Konsultationsschreibens zuzuleiten. Die örtliche Zuständigkeit ist am Sitz des in Schritt 1 ermittelten Betriebs begründet. Ob das Auslassen dieses Schritts Auswirkungen auf die Wirksamkeit der zugrunde liegenden Kündigungen hat, ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesarbeitsgerichts beim Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV (BAG 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21).
- Vor Vornahme der anzeigepflichtigen Entlassungen ist die Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit abzugeben. Werden die Gründe der geplanten Entlassungen fehlerhaft angegeben oder ist die Stellungnahme des Betriebsrats nicht beigefügt nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG bzw. den Erfordernissen des § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG genügt, bewirkt dies die Nichtigkeit der Kündigungen.
- Eine Abschrift der Massenentlassungsanzeige ist sodann nach § 17 Abs. 3 S. 6 KSchG der Arbeitgebervertretung zuzuleiten. Das Auslassen dieses Schrittes hat keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der zugrunde liegenden Kündigungen.
- Ab Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit gilt die einmonatige Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG. Auf Antrag kann diese verkürzt werden, wobei der Anwendungsbereich sehr begrenzt ist.
- Die angezeigten Entlassungen müssen binnen 90 Tagen durchgeführt werden, sonst bedarf es einer erneuten Massenentlassungsanzeige.
- Sollen innerhalb der 30-Tages-Frist weitere Entlassungen erfolgen, müssen diese nachgemeldet werden. Ist demnach eine neue Massenentlassungsanzeige abzugeben, bedarf es gegebenenfalls auch eines neuen Konsultationsverfahrens. Sehr spontane Nachkündigungen funktionieren also nicht.