Das Thema
Das BAG legt dem EuGH erneut eine äußerst praxisrelevante Frage zum Urlaubsrecht vor: Verbietet das EU-Recht auch eine Verjährung von Urlaubsansprüchen?
Die Shimizu-Entscheidung des EuGH von 2018 hat das deutsche Urlaubsrecht grundlegend auf den Kopf gestellt. Seitdem ist ein Verfall von Urlaubsansprüchen, wie ihn § 7 III BUrlG eigentlich vorsieht, nur noch unter erheblichen Einschränkungen möglich. Vielen Arbeitnehmern stehen daher noch zahlreiche Urlaubstage aus früheren Jahren zu.
Unklar ist bislang allerdings noch, ob ein völlig unbegrenztes Ansammeln möglich ist oder der Arbeitgeber zumindest durch die regelmäßige Verjährungsfrist teilweise geschützt wird. Diese Frage hat der Urlaubssenat des BAG nun dem EuGH vorgelegt (BAG, Beschluss vom 29.09.2020 – 9 AZR 266/20 (A), bislang nur als Pressenmitteilung vorliegend).
Neuausrichtung des Urlaubsrechts und Folgefragen
Das deutsche Urlaubsrecht unterliegt schon seit längerem erheblichen europarechtlichen Einflüssen. Am 06.11.2018 entschied der EuGH jedoch speziell, dass Urlaub überhaupt nur dann am Ende des Urlaubsjahres (bzw. Übertragungszeitraums) verfallen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret in die Lage versetzt hat, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, ihn hierzu also aufgefordert und über den ansonsten eintretenden Verfall transparent aufgeklärt hat (siehe hierzu den #EFAR-Beitrag von Philipp Meese). Diese sich aus Art. 31 II der EU-Grundrechtecharta und Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie ergebende Mitwirkungsobliegenheit hat das BAG durch unionsrechtskonforme Auslegung von § 7 BUrlG ins deutsche Recht umgesetzt (näher dazu im #EFAR hier und hier).
Durch diese teilweise Neuausrichtung des Urlaubsrechts haben sich verschiedene Folgefragen ergeben, die nun sukzessive beim EuGH landen. Insoweit ist das BAG nicht nur gemäß Art. 267 III AEUV, sondern auch verfassungsrechtlich gemäß Art. 101 I 2 GG (Recht auf gesetzlichen Richter) zur Vorlage an den EuGH verpflichtet und nimmt dies aktuell sehr ernst.
So sind bspw. erst kürzlich zwei Vorlagebeschlüsse zur Frage ergangen, ob die vom EuGH in früheren Entscheidungen postulierte 15-Monats-Frist des Urlaubsverfalls bei Krankheit bzw. Erwerbsminderung auch dann gilt, wenn der Arbeitgeber seinen oben genannten – neueren – Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist (BAG, Beschlüsse vom 07.07.2020 – 9 AZR 401/19 (A) und 9 AZR 425/19 (A)).
Verfall vs. Verjährung
Nun ist es in der Praxis so, dass in der Vergangenheit bisher kaum ein Arbeitgeber die strengen Vorgaben des EuGH eingehalten hat, denn sie waren vor Ende 2018 noch gar nicht bekannt. Es kam dem Arbeitgeber früher vielmehr zu Gute, nicht auf die Inanspruchnahme des Urlaubs hinzuwirken, denn er verfiel ja gerade nach § 7 III BUrlG. Dies führt dazu, dass in ganz vielen Arbeitsverhältnissen plötzlich alte – verfallen geglaubte – Urlaubstage wieder aufleben. Dies kann bis ins Jahr 2004 (!), dem Jahr des Inkrafttretens der maßgeblichen Arbeitszeitrichtlinie, zurückreichen.
Der (Nicht-)Verfall des Urlaubs ist rechtlich indes von der Frage der Verjährung zu trennen. Während der Verfall als rechtsvernichtende Einwendung zum Erlöschen des Anspruchs führt, stellt die Verjährung eine Einrede dar, die bei Geltendmachung zur dauerhaften Leistungsverweigerung berechtigt. Gemäß § 194 I BGB unterliegt grds. jeder Anspruch der Verjährung, demnach also auch Urlaubsansprüche. Da insofern keine besondere einfachgesetzliche Verjährungsfrist einschlägig ist, würde die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren zum Jahresende eingreifen, §§ 195, 199 I BGB. Nach spätestens vier Jahren hätte der Arbeitgeber daher wieder Rechtssicherheit und könnte den Urlaub erfolgreich verweigern. Darf das sein?
LAG und EuGH betonen Arbeitnehmerschutz
Das LAG Düsseldorf, das Berufungsgericht im aktuell vorgelegten Verfahren, hielt diese Rechtsfolge für nicht richtlinienkonform (LAG Düsseldorf, Urteil vom 02.02.2020 – 10 Sa 180/19 unter Bezugnahme auf Jacobs/Münder, RdA 2020, 13, 24). Denn der Kerngedanke der EuGH-Rechtsprechung ist der Arbeitnehmerschutz, sodass der rechtsdogmatischen Unterscheidung zwischen Erlöschen und Verjährung eines Anspruchs keine maßgebliche Bedeutung zukommen kann.
Es spricht in der Tat einiges dafür, dass der EuGH die ihm gestellte Vorlagefrage auf diese Art beantworten wird. Neben dem genannten Arbeitnehmerschutzzweck der maßgeblichen Unionsrechtsbestimmungen ist diesbezüglich auch auf die Rechtssache King (EuGH, Urteil vom 29.11.2017 – C-214/16) zu verweisen. Im dortigen Sachverhalt machte der klagende scheinselbständige Arbeitnehmer Urlaubsabgeltung für die 13 zurückliegenden Jahre geltend. Zwar musste der Gerichtshof sich in dieser Entscheidung nicht unmittelbar zu einer möglichen Begrenzung des Zeitraums äußern. Gleichwohl spricht der Umstand, dass der EuGH im Rahmen seiner rechtlichen Erwägungen eine Ansammlung zeitlich nicht begrenzt, für eine Fortführung dieser Überlegungen auch im Zusammenhang mit der Verjährungsfrage.
Zu welchem Zeitpunkt verjähren nun Urlaubsansprüche?
Sollte die regelmäßige Verjährungsfrist nicht länger haltbar sein, stellt sich die Folgefrage, ob jedenfalls zu einem späteren (welchen?) Zeitpunkt Verjährung möglich ist. Denn auch im EU-Recht sind Verjährungsfristen ebenso akzeptiert wie der diesen zugrunde liegende Zweck der Rechtssicherheit.
Ob bzw. wie konkret sich der EuGH hierzu äußern wird, bleibt abzuwarten. Laut der Pressemitteilung nimmt das BAG im Vorlagebeschluss explizit auf die regelmäßige Verjährungsfrist Bezug, sodass der EuGH zu darüber hinausgehenden Fragen ggf. gar nicht Stellung nehmen muss. Möglicherweise geben aber die rechtlichen Überlegungen des EuGH hierzu dennoch näher Auskunft.
Es wäre auch nicht völlig überraschend, wenn der EuGH dem nationalen Recht unter Berücksichtigung des Effet utile einen Spielraum für angemessene – längere – Verjährungsfristen zugesteht. Dann ist die Anwendung einer Frist von zehn oder 30 Jahren (vgl. §§ 197, 199 BGB) naheliegend.
Fragen in der Praxis bleiben – selbst bei ordnungsgemäßer Belehrung
In praktischer Hinsicht ist es Arbeitgebern zwar möglich, einen Verfall früherer Urlaubsansprüche dadurch herbeizuführen, indem sie gegenüber den Arbeitnehmern ihren neuen Mitwirkungsobliegenheiten nachkommen. Wird der Urlaub anschließend dennoch nicht genommen, verfallen auch frühere Urlaubstage gemeinsam mit dem Urlaub des aktuellen Jahres.
Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der Arbeitgeber „ordnungsgemäß“ belehrt hat. Die mitgeteilten Urlaubstage müssen also korrekt sein. Was passiert aber, wenn z.B. ein Tag fehlt? Steht dies einem Verfall generell entgegen oder verfällt nur dieser eine Tag nicht? Ist über nicht verfallene, aber bereits der Verjährung unterliegende Urlaubstage überhaupt noch zu unterrichten? Diese und weitere Fragen des Urlaubsrechts werden die Rechtsanwender und zu guter Letzt auch den EuGH in Zukunft weiterhin beschäftigen.