Wahlkampf und Koalitionsvereinbarung
„Wir stehen zum gesetzlichen Mindestlohn und der unabhängigen Mindestlohnkommission. Lohnfindung muss weiterhin Sache der Sozialpartner sein und nicht der Politik.“ hieß es im Wahlprogramm von CDU und CSU zur Bundestagswahl 2025 (S. 30).
Die SPD führte in ihrem Wahlprogramm (S. 23) aus, dass sich die „Höhe des gesetzlichen Mindestlohns … an den Empfehlungen der europäischen Richtlinie orientieren (muss), also an mindestens 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland“. „Wir werden dafür sorgen“, heißt es weiter, „dass dieses europäische Recht von der Mindestlohnkommission künftig berücksichtigt wird. Dementsprechend muss der Mindestlohn spätestens ab 2026 bei 15 Euro liegen.“
Im schwarz-roten Koalitionsvertrag wurde betont, dass man an „einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission“ festhalte. Zugleich wurde vereinbart, dass sich die Kommission für „die weitere Entwicklung des Mindestlohns… im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren“ wird (Verantwortung für Deutschland – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD S. 18).
Bisherige Regelungen
Die Mindestlohnkommission prüft nach den (bisherigen) gesetzlichen Vorgaben im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist,
• um zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beizutragen,
• faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie
• Beschäftigung nicht zu gefährden (§ 9 Abs. 2 S. 1 MiLoG).
Sie orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung (§ 9 Abs. 2 S. 2 MiLoG).
Die Mindestlohnkommission hatte diese Vorgaben in ihrer Geschäftsordnung konkretisiert. In der Fassung vom 27. Januar 2016 wurde ausgeführt, dass sie die Anpassung des Mindestlohns „im Regelfall gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf Basis der Stundenverdienste in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren“ festlegt (§ 3 Abs. 1 S. 2 MiLo-Geschäftsordnung a.F.).
Von diesem Prinzip konnte die Kommission nach § 3 Abs. 2 dieser Geschäftsordnung nur ausnahmsweise und nur mit einer 2/3-Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder abweichen.
Neue Geschäftsordnung
Mit Wirkung zum 21. Januar 2025 hat die MiLo-Kommission ihre Geschäftsordnung geändert.
Danach orientiert sie sich künftig „im Rahmen einer Gesamtabwägung nachlaufend an der Tarifentwicklung sowie am Referenzwert von 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten nach Artikel 5 Absatz 4 sowie an den Kriterien nach Artikel 5 Absatz 2 der EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (EU-Mindestlohnrichtlinie), um die in § 9 Absatz 2 Satz 1 MiLoG und Artikel 5 Absatz 1 der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten Ziele zu erreichen“. Der Tarifindex des statistischen Bundesamts wird künftig nur noch „berücksichtigt“ (§ 2 Abs. 1 Buchst. a MiLo-Geschäftsordnung n.F.).
Abweichungen von diesen Vorgaben sind nur möglich, „wenn besondere ökonomische Umstände vorliegen und die Kommission daher im Rahmen der Gesamtabwägung zum Ergebnis kommt, dass die genannten Kriterien in dieser Situation nicht geeignet sind, die Ziele des § 9 Absatz 2 Satz 1 MiLoG und Artikel 5 Absatz 1 EU-Mindestlohnrichtlinie zu erreichen“ (§ 2 Abs. 1 Buchst. b MiLo-Geschäftsordnung“ n.F.).
Ob das von den bestehenden gesetzlichen Vorgaben gedeckt ist, ist zweifelhaft. Und der Bezug auf die Mindestlohnrichtlinie (Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, MiLo-RL) erscheint problematisch.
Vorgaben der MiLo-Richtlinie
Die EU-Richtlinie legt einen stärkeren Fokus auf soziale Erwägungen als das MiLoG. Ziel ist es „einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechterspezifische Lohngefälle zu verringern“ (Art. 5 Abs. 1 S. 2 MiLo-RL).
Um einen in diesem Sinne „angemessenen Mindestlohn“ sicherzustellen, müssen die nationalen Kriterien nach Art. 5 Abs. 2 MiLo-RL künftig mindestens die folgenden Aspekte umfassen:
a) die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten,
b) das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung,
c) die Wachstumsrate der Löhne (sowie)
d) langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen.
Art. 5 Abs. 4 S. 1 MiLo-RL bestimmt, dass die Mitgliedstaaten „bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde“ legen müssen. Dabei muss es sich um „auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte“ handeln. Beispielhaft genannt werden „60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns“ (Art. 5 Abs. 4 S. 2 MiLo-RL).
Kompetenzüberschreitung der EU
Anders als nach dem letzten Beschluss der Kommission von den Gewerkschaftsvertretern (siehe Vierter Beschluss der MiLo-Kommission v. 26. Juni 2023, S. 3) und vielfach auch von Politikern behauptet, schreibt die Richtlinie also nicht vor, dass der Mindestlohn mindestens 60 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten erreichen muss. Dieser nun in der Geschäftsordnung der MiLo-Kommission genannte Referenzwert, ist nach der Richtlinie lediglich eine Möglichkeit, aber nicht zwingend vorgegeben.
Problematisch ist aber vor allem, dass über der Richtlinie das Damoklesschwert der Unwirksamkeit schwebt. Die EU hat mit diesen Vorgaben ultra vires, also jenseits ihrer Ermächtigung gehandelt.
Das Europäische Parlament und der Rat der EU stützen sich für den Erlass der Richtlinie auf „den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV), „insbesondere auf Artikel 153 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe b“. Danach kann die EU auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen durch Richtlinien Mindestvorschriften erlassen. Allerdings gilt diese Ermächtigung ausdrücklich „nicht für das Arbeitsentgelt“ (Art. 153 Abs. 5 AEUV).
Kritik an der Richtlinie
Dieses Problem war von Anfang an offensichtlich, auch wenn das Europäische Parlament und der Rat der EU das in den Erwägungsgründen der Richtlinie nicht sehen (wollen). Die Richtlinie hätte in dieser Form „nicht auf den Weg gebracht werden dürfen: schlicht, weil der Union die notwendige Kompetenz dazu fehlt“, schrieb dazu Klump in der Europäischen Zeitschrift für Arbeitsrecht (EuZA 2021, 284, 320). Dass sich die EU darüber hinweggesetzt hat „ist starker Tobak“, führten Thüsing/Hütter-Brungs in der Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA 2021, 170) aus.
Dänemark und Schweden fordern, dass die Richtlinie für nichtig erklärt wird. Der Generalanwalt am EuGH hat sich ihrer Auffassung angeschlossen und die Aufhebung der Richtlinie empfohlen (Schlussanträge vom 14.01.2025 – C-19/23, #EFAR-News v. 25.01.2025). Seine Einschätzung ist zwar nicht bindend. Das Gericht folgt ihr aber in ca. 75 Prozent der Fälle. Eine Entscheidung wird im Laufe dieses Jahres erwartet.
Wie es jetzt weitergeht
Trotz dieser rechtlichen Probleme ist absehbar, wie es in Deutschland mit dem Mindestlohn weitergeht:
Entweder die im Koalitionsvertrag vereinbarten Änderungen des MiLoG werden noch vor dem nächsten Beschluss der Mindestlohnkommission umgesetzt. „Auf diesem Weg ist“, wie es in der Vereinbarung heißt „ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026“ (leicht) „erreichbar“ (Koalitionsvertrag, S. 18). Oder die Kommission wird auf der Grundlage ihrer neuen Geschäftsordnung entscheiden. Das führt zum gleichen Ergebnis.
Politischer Widerstand gegen ein solches Vorgehen der Kommission ist nicht zu erwarten. Die Änderung nimmt letztlich nur vorweg, was die schwarz-rote Regierung nach dem Koalitionsvertrag ohnehin erreichen will. Und weder die linke noch die rechte Opposition im Bundestag hat ein Interesse daran, durch Kritik am Vorgehen der MiLo-Kommission als unsozial zu erscheinen.
Hinweis: Die Ausführungen basieren teilweise auf dem Beitrag „Zankapfel Mindestlohn: Wie es jetzt weitergeht“, erschienen auf Cicero-Online.