Das Thema
Im Rahmen des Konsultationsverfahrens bei einer Massenentlassung nach § 17 Abs. 2 KSchG soll nach Auffassung des LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11.07.2019 – 21 Sa 2100/18) jede Arbeitnehmervertretung zu beteiligen sein; wird demnach die Schwerbehindertenvertretung nicht gesondert beteiligt, sind die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam.
Massenentlassung im Zusammenhang mit der Air Berlin-Insolvenz
Im Zusammenhang mit der Air Berlin-Insolvenz mussten die Insolvenzverwalter sämtlichen Angestellten von Air Berlin kündigen. Dementsprechend war nicht nur die Massenentlassungsanzeige, sondern auch das Konsultationsverfahren gemäß § 17 KSchG erforderlich.
Aufgrund von Tarifverträgen bestanden bei Air Berlin verschiedene Betriebsratsgremien für unterschiedliche Mitarbeitergruppen, namentlich ein Betriebsrat Cockpit für die Piloten und ein Betriebsrat Kabine für Perser und Flugbegleiter. Überdies war auch eine Schwerbehindertenvertretung für die „Kabine“ eingerichtet.
Während mit der Betriebsvereinbarung „Boden“ recht schnell ein Interessenausgleich vereinbart werden konnte, zeigte sich die Personalvertretung Kabine etwas hartleibiger. Sie beantragte im Wege der einstweiligen Verfügung eine Reihe von Auskünften und Unterlagen; vor Gericht verpflichtete sich die Air Berlin dazu, betriebsbedingte Kündigungen, auch nach § 122 InsO, erst nach Schaffung der „betriebsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen“ auszusprechen. Auch mit der Personalvertretung Cockpit gelang der Abschluss eines Interessenausgleiches. Infolgedessen kündigte Air Berlin die Arbeitsverhältnisse des gesamten Cockpit-Personals sowie des gesamten Bodenpersonals. Nachdem die Einigungsstelle (nach gerichtlichem Einsetzungsverfahren) sodann für den Bereich Kabine das Scheitern der Verhandlungen erklärt hatte, erstattete Air Berlin Massenentlassungsanzeige bezogen auf das Kabinenpersonal und kündigte nach Anhörung von Personalvertretung Kabine und Schwerbehindertenvertretung Kabine. Gegen diese Kündigung wendete sich nun ein schwerbehinderter Kläger.
Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg
In zweiter Instanz gab das LAG Berlin-Brandenburg dem Kündigungsschutzantrag des Klägers Recht. Nach seiner Auffassung war die Kündigung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG unwirksam, da zum einen im Rahmen des Konsultationsverfahrens die Schwerbehindertenvertretung Bord nicht konsultiert worden sei und zum anderen weil vor Abschluss des Konsultationsverfahrens mit der Personalvertretung Kabine – durch Kündigung der Piloten und des Bodenpersonals – die unternehmerische Entscheidung bereits umgesetzt worden sei, bevor das Konsultationsverfahren mit der Personalvertretung Kabine abgeschlossen gewesen sei.
Das LAG Berlin-Brandenburg erkennt zwar an, dass in § 17 Abs. 2 KSchG lediglich „dem Betriebsrat“ Auskünfte und Unterlagen zu erteilen seien; durch europarechtskonforme Auslegung (Art. 1 Abs. 1 b der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG) jede Arbeitnehmervertretung nach nationalem Recht gemeint sei. Es verweist insoweit darauf, dass – so wohl die herrschende Lehre – bei Massenentlassungsvorhaben neben Betriebsrat auch ein Sprecherausschuss zu beteiligen sei, sofern denn ein solcher Sprecherausschuss bestehe. Schließlich vertrete der Sprecherausschuss die leitenden Angestellten, die der Vertretungsmacht des Betriebsrates entzogen seien.
Alle Arbeitnehmervertretungen sind zu beteiligen
Nach diesem Verständnis seien hier die verschiedenen, durch tarifvertragliche Regelungen begründeten Arbeitnehmervertretungen (Personalvertretung Cockpit, Personalvertretung Kabine und Betriebsrat Bodenpersonal) zu beteiligen gewesen. Überdies sei aber auch die Schwerbehindertenvertretung Bord zu beteiligen gewesen. Zwar würden dadurch Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte Menschen „doppelt“ vertreten; dies sei aber dem gesetzlichen Zweck geschuldet, die Interessen der Schwerbehinderten und gleichgestellten Menschen besonders zu schützen und zu fördern. Entsprechend der Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie 2000/78/EG sei dies auch europarechtlich gefordert; folgerichtig hätte die Schwerbehindertenvertretung gesondert im Sinne des § 17 Abs. 2 KSchG konsultiert werden müssen.
Weiteres Problem: Der kündigungsrechtliche Betrieb
Überdies problematisiert das LAG Berlin-Brandenburg die Frage, ob es überhaupt zulässig sei, einen einheitlichen kündigungsrechtlichen Betrieb (Flugbetrieb der Air Berlin) im Hinblick auf das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG in mehrere betriebsverfassungsrechtliche Betriebe (hier: PV Cockpit, PV Bord und BR Boden) aufzuteilen. Jedenfalls aber sei das Konsultationsverfahren nicht eingehalten, wenn auf Basis einer Teileinigung (hier: für den Bereich Cockpit und den Bereich Boden) bereits Fakten geschaffen würden, während die Konsultation eines der Gremien (PV Kabine) noch nicht abgeschlossen sei. Auch deshalb sei die Kündigung unwirksam.
Schließlich sei die Kündigung auch unwirksam, da die Massenentlassungsanzeigen, die Air Berlin im Bezug auf das Cockpit- und Bodenpersonal getätigt habe, unwirksam seien. Diese hätten nämlich erst entweder nach abschließender Stellungnahme auch der Personalvertretung Kabine getätigt werden können; jedenfalls aber hätte in den entsprechenden Massenentlassungsanzeigen der Stand des Konsultationsverfahrens mit der Personalvertretung Kabine (obschon das Kabinenpersonal noch nicht von Kündigungen bedroht war) dargestellt werden müssen. Kündigungsrechtlich sei nämlich von einem einheitlichen Betriebsbegriff im Sinne des § 17 KSchG auszugehen.
Weitere Verschärfung der Anforderungen an wirksames Konsultationsverfahren
Das LAG Berlin-Brandenburg wirft ein Schlaglicht auf ein latentes Problem im deutschen Kündigungsrecht. Der kündigungsschutzrechtliche Betriebsbegriff ist nämlich nicht identisch mit dem Betriebsbegriff des BetrVG. Dies gilt umso mehr für tarifvertraglich gewillkürte Betriebe; diese gelten nämlich gemäß § 3 Abs. 5 BetrVG „nur“ als Betriebe im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Eine Fiktionswirkung auch für das Kündigungsschutzgesetz sieht das BetrVG ausdrücklich nicht vor. Folgerichtig kommt es zu einem Auseinanderfallen beider Betriebsbegriffe und damit erheblichen praktischen Schwierigkeiten und rechtlichen Risiken bei Reorganisationen.
Das LAG Berlin-Brandenburg verschärft die Anforderungen an die arbeitgeberseitigen Konsultationsbemühungen im Rahmen eines Massenentlassungsverfahrens noch dadurch, dass es die Beteiligung sämtlicher Arbeitnehmervertretungen im Konsultationsprozess fordert und das Konsultationsverfahren erst dann als abgeschlossen ansieht, wenn die Konsultation sämtlicher beteiligter Gremien beendet ist.
Die Insolvenz von Air Berlin beschäftigt neben den Berliner Gerichten noch viele weitere bundesdeutsche Gerichte, namentlich auch das LAG Düsseldorf. Das LAG Düsseldorf hat, soweit ersichtlich, in seinen Entscheidungen zu den Massenkündigungen bei Air Berlin die vom LAG Berlin-Brandenburg aufgeworfenen Rechtsfragen entweder gar nicht behandelt oder aber konträr bewertet. Es kann daher mit Spannung erwartet werden, wann das Bundesarbeitsgericht erstmals die Gelegenheit hat, zu diesen Fragestellungen Position zu beziehen.
Die Praxis wird bis dahin – dem Vorsorgeprinzip geschuldet – bei Massenentlassungsverfahren zunächst sämtliche Gremien zu beteiligen und förmlich zu konsultieren haben.