Das Thema
Der Sachverhalt ist – leider – nicht selten: Nach Ausspruch der Kündigung folgt die Krankschreibung veranlasst durch den Arbeitnehmer. Oft und genauso „zufällig“ stimmt die Dauer der Arbeitsunfähigkeit mit der Dauer der Kündigungsfrist überein.
Das Bundesarbeitsgericht setzte sich im Herbst letzten Jahres mit dem Beweiswert einer „solchen“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auseinander, also wenn Arbeitnehmer ihr Arbeitsverhältnis kündigen und die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
Die Begründung zur Entscheidung vom 8. September 2021 (BAG 5 AZR 149/21) liegt inzwischen vor und reiht sich in eine inzwischen nicht unbeachtliche Anzahl an Entscheidungen zu Beweiswerten von Arbeitsunfähigkeitsentscheidungen ein.
Gleichzeitige Abgabe von Kündigung und dem „gelben Schein“
Zunächst zum Sachverhalt: Die Klägerin war bei der Beklagten als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 8. Februar 2019 teilte die Klägerin mit, dass sie nicht zur Arbeit erscheinen werde. Sie kündigte das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 22. Februar und legte eine ärztliche Erstbescheinigung über eine voraussichtlich vom 8. bis zum 22. Februar 2019 bestehende Arbeitsunfähigkeit vor.
Die Klägerin machte Entgeltfortzahlung für diesen Zeitraum geltend, welche die Beklagte verweigert hatte. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben, das Bundesarbeitsgericht wies diese nun ab.
Bundesarbeitsgericht hatte ernste Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit
Der Senat führt zunächst ganz schulmäßig die Grundsätze aus. Der Arbeitnehmer als Anspruchsteller trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruchs. Dabei wird der Beweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in der Regel bereits durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Bescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und wichtigste Beweismittel, der ein hoher Beweiswert zukommt.
Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit. Ein „bloßes Bestreiten“ des Arbeitgebers reicht indes nicht aus. Vielmehr muss der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegen und beweisen, wenn er den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern will. Er ist insoweit nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V genannten Regelbeispiele beschränkt. Zu berücksichtigen ist, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und daher nur eingeschränkt Tatsachen zur Erschütterung des Beweiswertes vortragen kann. Überhöhte Anforderungen dürfen somit nicht gestellt werden.
Koinzidenz von Kündigungsfrist und Dauer der Krankschreibung
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern, ist es Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Erforderlich ist konkreter Vortrag, welche Krankheiten und welche gesundheitlichen Einschränkungen vorgelegen haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also mindestens laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich für die Behauptung, aufgrund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von der Schweigepflicht entbindet.
Vorliegend hatte die Klägerin die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zugleich mit der Kündigung eingereicht. Die prognostizierte Dauer der Arbeitsunfähigkeit deckte passgenau die Dauer der Kündigungsfrist ab. Aufgrund dieser zeitlichen Koinzidenz sah das Bundesarbeitsgericht ernstliche Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Der Vortrag der Klägerin, es habe ein „psychosomatischer Hintergrund“ bestanden (massives Mobbing, das zu Schlafstörungen und weiteren psychisch-körperlichen Beeinträchtigungen geführt habe), sei zu pauschal. Beweis durch Einvernahme des behandelnden Arztes sei daher nicht zu erheben gewesen.
Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Rechtsprechung in Bewegung
Es gibt ungezählte gerichtliche Entscheidungen zur Frage, ob der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist. Vorbehaltlich der Umstände des Einzelfalles gelten insoweit beispielsweise als „Klassiker“: Arbeit während der Arbeitsunfähigkeit bei einem Konkurrenzunternehmen, Ankündigung einer Erkrankung durch den Arbeitnehmer, strapaziöse sportliche Betätigung während der Krankheit (Bungeespringen bei Wirbelsäulenleiden oder Skiurlaub bei Hirnhautentzündung).
Daneben besteht für den Arbeitgeber die Möglichkeit, gem. § 275 Abs. 1a SGB V den Medizinischen Dienst der gesetzlichen Krankenkassen einzuschalten. Der Gesetzgeber hat sich bemüht, dieses Verfahren praxisgerechter auszugestalten. Dennoch hatte sich in der Vergangenheit bei vielen Arbeitgebern eine gewisse Resignation eingestellt: Sofern ein „gelber Schein“ vorliege, bringe es ja doch nichts, die Entgeltfortzahlung einzustellen, mögen die Umstände noch so seltsam anmuten.
BAG gibt Hinweise, wenn ernsthafte Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeit bestehen (sollten)
In jüngerer Zeit hat das Bundesarbeitsgericht jedoch in mehreren Entscheidungen die Akzente verschoben. In der Entscheidung vom 11.12.2019 (5 AZR 505/18) hat der 5. Senat sich mit dem in der Praxis recht häufig vorkommenden Phänomen der „wechselnden Erkrankungen“ auseinandergesetzt: Nach dem Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalles ist der Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit auf die Dauer von sechs Wochen begrenzt, wenn während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.
Davon ist regelmäßig auszugehen, wenn zwischen „erster“ und „zweiter“ Erkrankung (durch „Erstbescheinigung“ attestiert) ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht.
Nun reicht dem Senat die zeitliche Koinzidenz zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit und Kündigungsfrist („passgenau“), um eine Erschütterung des Beweiswertes anzunehmen. Natürlich sollte diese Rechtsprechung keinen Arbeitgeber dazu veranlassen, willkürlich die Entgeltfortzahlung zu verweigern. Eine gewisse Ermunterung, sich bei handgreiflichen Zweifeln am Bestehen von Arbeitsunfähigkeit nicht alles gefallen zu lassen, wird man aus der Entscheidung aber schon entnehmen können.