Das Thema
Umfangreiche Personalabbaumaßnahmen können massenentlassungspflichtig sein. Maßgeblich ist, ob die im § 17 Abs. 1 KSchG benannten Schwellenwerte erreicht sind. Demnach ist eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu stellen, wenn
- in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
- in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer oder
- in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
entlassen werden. Der Betriebsbegriff ist demnach maßgeblich.
Zuständige Agentur für Arbeit – Unionsrechtlicher Betriebsbegriff entscheidend
- Die Ermittlung der für die Massenentlassungsanzeige zuständigen Agentur für Arbeit ist essenziell, kann aber mit rechtlichen Hürden verbunden sein. Zuständig ist die Agentur für Arbeit, in deren Bezirk der Betrieb seinen Sitz hat. Anknüpfungspunkt für die Ermittlung ist der Betriebsbegriff.
- Für die Massenentlassungsanzeige ist nicht der nationale, sondern der unionsrechtliche Betriebsbegriff maßgeblich. Dieser ist in seinen Grenzen nicht so eng wie der nationale Betriebsbegriff, sodass eine Massenentlassungspflicht auch dann bestehen kann, wenn es sich bei der Einheit z.B. betriebsverfassungsrechtlich um keinen Betrieb handelt.
- Entscheidend für die Bewertung, ob ein Betrieb im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie vorliegt, ist, ob es sich um eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität handelt, die zur Erledigung von Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt.
Die fragliche Einheit muss weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als “Betrieb” qualifiziert werden zu können. Die in der Einheit bestehende Leitung muss nicht selbstständig Massenentlassungen vornehmen können. Es reicht aus, wenn vor Ort die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Kontrolle der Einheit sichergestellt ist.
Das bedeutet: Es ist nicht zwingend eine Betriebsleitung erforderlich, sondern es reicht aus, wenn eine in der Einheit tätige Person vor Ort die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit im Blick hat. Dies macht es in der Praxis – gerade auch in der modernen Arbeitswelt – schwierig festzustellen, ob und wo eine Massenentlassung anzuzeigen ist.
Entlassungen an mehreren Standorten – Massenentlassungsanzeige bei mehreren Agenturen für Arbeit?
Werden Entlassungen an mehreren Standorten vorgenommen, ist genau zu prüfen, ob
- die einzelnen Standorte für sich genommen einen eigenständigen Betrieb i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie darstellen,
- in den Standorten selbst die Schwellenwerte für das Stellen einer Massenentlassungsanzeige erreicht werden oder
- ob diese Schwelle erst durch die Zusammenrechnung der beabsichtigen Entlassungen an den jeweiligen Standorten erreicht wird.
So kann etwa jeder Standort eine eigene unterscheidbare Einheit darstellen und eine eigenständige Leitung im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie besitzen. Dann findet keine Zusammenrechnung der von der Entlassung Betroffenen statt und eine Anzeigepflicht entfällt, sofern in den jeweiligen Betrieben die Schwellenwerte nicht erreicht sind.
Anders kann dies zu bewerten sein, wenn nur einer der Standorte einen Betrieb im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie darstellt, aber zugleich nur gemeinsam mit den zu entlassenden Beschäftigten an anderen Standorten die Schwellenwerte für die Anzeigepflicht erreicht. Maßgeblich ist dann, ob eine Zuordnung der Mitarbeiter an den Betrieb erfolgt, der die Voraussetzungen für einen Betrieb im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie erfüllt.
- Dies ist insbesondere in Unternehmen mit Matrixstrukturen denkbar. In diesen ist es typisch, dass die weisungsberechtigte Person nicht vor Ort tätig ist, sondern außerhalb der betroffenen Einheit. Aufgrund der bestehenden Weisungsberechtigung und der damit verbunden standortübergreifenden Strukturen kann aber eine Zuordnung der Arbeitnehmer einer Einheit zu einem Betrieb an einem anderen Standort hergestellt werden. Diese Beschäftigten sind dann – jedenfalls vorsorglich – bei einer Massenentlassungsanzeige sowohl bei der Frage der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer als auch bei der Frage der zu entlassenden Mitarbeiter zu berücksichtigen – vorausgesetzt, es handelt sich bei der Einheit um einen Betrieb i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie. Angesichts dessen ist es in der Praxis empfehlenswert, höchst vorsorglich in diesen Fällen die Massenentlassungsanzeige bei mehreren Agenturen für Arbeit zu stellen.
Folgen unterbliebener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige: Unwirksamkeit aller Kündigungen
Die Wichtigkeit, bei unklaren Fällen jedenfalls vorsorglich eine Massenentlassungsanzeige zu stellen, ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung zu den Folgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften Anzeige. Dies führte in der Vergangenheit stets zur Unwirksamkeit einer Kündigung.
Nachdem der EuGH entschieden hatte, dass die Übermittlungspflicht einer Massenentlassungsanzeige den Beschäftigten keinen individuellen Schutz biete, bahnte sich eine Rechtsprechungsänderung an: Der 6. Senat des BAG beabsichtigte schon im Dezember 2023, diese bisherige Praxis aufzuheben (Beschl. v. 14.12.2023 – 6 AZR 157/22 [B]). Da es sich hierbei um eine divergierende Praxis von der Rechtsprechung des 2. Senats handelt, hat der 6. Senat bei diesem angefragt, ob der 2. Senat wiederum an seiner bisherigen Rechtsprechung noch festhält.
Für den 2. Senat waren die Fragen, ob eine Kündigung ein Arbeitsverhältnis erst nach dem Ablauf der Entlassungssperre beenden kann und ob das Ablaufen der Entlassungssperre nicht nur eine Massenentlassungsanzeige voraussetzt, sondern ob diese auch den formellen Vorgaben der Richtlinie genügen muss, essenziell, aber vom EuGH noch unbeantwortet. Er hat den EuGH im Februar 2024 erneut angerufen, um eine Klärung dieser Fragen herbeizuführen (Beschl. vom 01.02.2024, 2 AS 22/23 [A]).
- Die Entscheidung des EuGH wird mit Spannung erwartet, könnte sie doch eine grundlegende Änderung der Praxis in den vergangenen Jahrzehnten bedeuten. Bis dahin sind Unternehmen gehalten, weiterhin in unklaren Fällen vorsorglich Massenentlassungsanzeigen zu stellen. Denn auch, wenn eine Entscheidung des EuGH noch abzuwarten ist, so liegen zumindest die Schlussanträge des Generalanwalts seit dem 27.02.2025 vor: Der Generalanwalt Norkus bestätigt die bisherige deutsche Rechtsprechung. Eine Kündigung wird erst nach Ablauf der Entlassungssperre wirksam. Zudem muss zuvor eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingereicht worden sein. Ob der EuGH sich dem anschließen wird, bleibt abzuwarten. Denn dadurch würde den Arbeitnehmern gerade wieder individueller Schutz gewährt, der ihnen nach dem EuGH aber bei der Übermittlungspflicht des Arbeitgebers nicht zustehe.
Fest steht indes nur, dass diese Rechtsfrage weiter offen ist und die Unsicherheit im Rahmen von Massenentlassungsanzeigen weiterhin Oberhand hat.
Fazit und Praxistipp
Massenentlassungsanzeigen sind in der Praxis fehleranfällig, da – insbesondere in Matrixstrukturen – die Einordnung einer Einheit in den unionsrechtlichen Betriebsbegriff besondere Vorsicht erfordert. Weil eine finale Entscheidung des EuGH zur Rechtsfolge von Fehlern bei Massenentlassungsanzeigen noch aussteht, sind Unternehmen gehalten, bei beabsichtigten Personalabbaumaßnahmen die Massenentlassungen weiterhin sorgfältig vorzubereiten und Fehlerquellen bei der Frage der zuständigen Agentur für Arbeit zu eliminieren. Die folgenden Fragen können für die Beurteilung, ob ein Betrieb i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie vorliegt und welche Beschäftigten welchem Betrieb zuzuordnen sind, eine Hilfe sein:
- Welche Einheit ist von den Personalabbaumaßnahmen betroffen?
- Besteht eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität?
- Hat diese Einheit einen Mitarbeiter vor Ort, der die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit kontrolliert?
- Sind andere Standorte ebenfalls von den Personalabbaumaßnahmen betroffen und wenn ja, sind diese eigenständige Betriebe i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie?
- Erbringen Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung (auch) für einen Betrieb an einem anderen Standort und sind sie in diesen organisatorisch eingegliedert?
Bei Unklarheiten bei der Beantwortung dieser Fragen sollte eine Massenentlassungsanzeige immer vorsorglich erfolgen, nötigenfalls auch bei mehreren Agenturen, um nach Ablauf der Entlassungssperre rechtssicher die Entlassungen vornehmen zu können.
Die Massenentlassungsanzeige sollte die unternehmerische Entscheidung zudem in der nötigen Kürze beschreiben. Es sind die Formulare der Agentur für Arbeit für die Entlassungsanzeige und die Angaben für die Arbeitsvermittlung zu nutzen. Im Übrigen raten wir dazu, Kontakt zum Sachbearbeiter aufzunehmen, um etwaige offene Punkte und Fragen schnellstmöglich klären zu können.