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Annahmeverzug des Arbeitgebers: Überblick und Bewertung der aktuellen Entwicklung der Rechtsprechung

  • 31. Mai 2023 |
  • Dr. Artur Kühnel

Die Rechtsprechung des BAG zum Annahmeverzugslohn hat vor allem für einzelne Fallgestaltungen eine Neujustierung erfahren. Diese Entwicklung skizziert dieser Beitrag. Auch wird die neueste Entscheidung des BAG zum Thema vorgestellt.

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Das Thema

Die in § 11 Nr. 2 KSchG bzw. § 615 Satz 2 BGB geregelte Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes beim Annahmeverzug des Arbeitgebers vor allem nach unwirksamer Kündigung war lange Zeit selten praxisrelevant. Arbeitgeber konnten sich hierauf im Regelfall nicht mit Erfolg berufen, wenn Arbeitnehmer Annahmeverzugslohn geltend machten (§ 615 Satz 1 BGB).

Dies hat sich in den letzten Jahren durch eine Neujustierung der Rechtsprechung vor allem des BAG geändert. Nachfolgend wird diese Entwicklung skizziert und auch die neueste Entscheidung des BAG hierzu vorgestellt. Zudem wird bewertet, ob und inwieweit es berechtigt ist, wenn auf Arbeitgeberseite deswegen zum Teil bereits die Champagnerkorken knallen. Jedenfalls sind Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer gut beraten, ihr Vorgehen auf die neue Rechtsprechung einzustellen und auch die weitere Entwicklung im Blick zu behalten.

Rechtsprechungswandel seit 2020

Seit ein paar Jahren befindet sich die Rechtsprechung zur Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes beim Annahmeverzug aber im Wandel – mit der Tendenz, dass der Einwand böswilligen Unterlassens mehr Praxisrelevanz erlangt.

Als Beginn dieser Entwicklung gilt das Urteil des BAG vom 27.5.2020 (5 AZR 387/19). Danach hat der Arbeitgeber einen Auskunftsanspruch gegen den Arbeitnehmer über die Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit und des Jobcenters, wenn der Arbeitnehmer Vergütung wegen Annahmeverzugs fordert und der Einwand böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerbs wahrscheinlich begründet ist. In Anknüpfung an dieses Urteil hat z.B. das LAG Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 30.9.2022 (6 Sa 280/22) deutlich strengere Anforderungen an die Arbeitnehmer bei ihren Eigenbemühungen gestellt und böswilliges Unterlassen angenommen.

Die wesentliche Rechtsprechung im Überblick

Seit dem vorgenannten Urteil vom 27.5.2020 sind mehrere Entscheidungen des BAG dazu ergangen, denen die folgenden Kernaussagen zu entnehmen sind:

  • BAG, Urteil vom 23.2.2021 – 5 AZR 213/20: Dass der Arbeitgeber eine Zustimmung des Betriebsrats für eine anderweitige Beschäftigung des Arbeitnehmers nicht eingeholt hat, schließt böswilliges Unterlassen nicht ohne weiteres aus.
  • BAG, Urteil vom 19.5.2021 – 5 AZR 420/20: Befindet sich der Arbeitgeber nach dem Widerspruch des Arbeitnehmers gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses im Rahmen eines Betriebsübergangs im Annahmeverzug, muss sich der Arbeitnehmer böswillig unterlassenen anderweitigen Erwerb anrechnen lassen, wenn er das Angebot des Arbeitgebers, bei dem Erwerber im Wege der befristeten Arbeitnehmerüberlassung die bisherige Tätigkeit zu im Übrigen unveränderten Arbeitsbedingungen fortzusetzen, nicht annimmt.
  • BAG, Urteil vom 8.9.2021 – 5 AZR 205/21: Ein Arbeitnehmer handelt grundsätzlich nicht böswillig i.S.v. § 11 Nr. 2 KSchG, wenn er während des Kündigungsschutzprozesses auf einer Beschäftigung gemäß einem von ihm erstrittenen Weiterbeschäftigungsurteil beharrt und ein Angebot des Arbeitgebers auf Abschluss eines befristeten Prozessarbeitsverhältnisses ablehnt.
  • BAG, Urteil vom 12.10.2022 – 5 AZR 30/22: Da Die Beurteilung böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienstes stets eine Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls erfordert, ist es grundsätzlich ausgeschlossen, einen einzelnen Umstand losgelöst von den sonstigen Umständen des Einzelfalls gleichsam absolut zu setzen. Dies gilt auch für einen bei der Beurteilung zu berücksichtigenden Verstoß des Arbeitnehmers gegen die Pflicht, sich arbeitsuchend zu melden (§ 38 Abs. 1 SGB III).

Aktuelle Entscheidung des BAG

Jüngst hat sich das BAG in seinem Urteil vom 29.3.2023 (5 AZR 255/22) erneut mit dem Thema befasst. Der Entscheidung lag laut Pressemitteilung Nr. 17/23 (Volltext ist bisher nicht veröffentlicht) der folgende verkürzte Sachverhalt zugrunde:

Der Arbeitnehmer war seit 2018 bei der Arbeitgeberin als technischer Leiter beschäftigt und verdiente 5.250,00 Euro brutto monatlich. Mit Schreiben vom 2.12.2019 erhielt er eine fristlose Änderungskündigung, mit dem ihm eine Tätigkeit als Softwareentwickler gegen 3.750,00 Euro brutto monatlich angeboten wurde. In dem Kündigungsschreiben hieß es: „im Falle der Ablehnung der außerordentlichen Kündigung durch Sie (also im Falle, dass Sie von einem unaufgelösten Arbeitsverhältnis ausgehen) oder im Falle der Annahme des folgenden Angebots erwarten wir Sie am 5.12.2019 spätestens um 12:00 Uhr MEZ zum Arbeitsantritt“. Der Arbeitnehmer lehnte das Änderungsangebot ab und erschien auch nicht zur Arbeit. Daraufhin erhielt er mit Schreiben vom 14.12.2019 eine erneute Kündigung und zwar: „außerordentlich zum 17.12.2019 um 12:00 Uhr MEZ“. In dem Kündigungsschreiben hieß es: „im Falle der Ablehnung dieser außerordentlichen Kündigung“ erwarte sie den Arbeitnehmer „am 17.12.2019 spätestens um 12:00 Uhr MEZ zum Arbeitsantritt“. Dem leistete der Arbeitnehmer nicht Folge. Gerichtlich wurde rechtskräftig die Unwirksamkeit beider Kündigungen festgestellt.

Die Arbeitgeberin zahlt für Dezember 2019 nur noch eine Vergütung von 765,14 Euro brutto. Der Arbeitnehmer trat erst zum 1.4.2020 ein neues Arbeitsverhältnis an. Er erhob Klage auf Zahlung seines Gehalts abzüglich des erhaltenen Arbeitslosengeldes bis zum Antritt der neuen Beschäftigung wegen Annahmeverzugs. Er hat gemeint, eine Weiterbeschäftigung bei der Arbeitgeberin zu geänderten oder auch den ursprünglichen Arbeitsbedingungen sei ihm, sofern sie dies überhaupt ernsthaft angeboten habe, nicht zuzumuten gewesen. Die Arbeitgeberin habe ihm zur Begründung ihrer Kündigungen in umfangreichen Ausführungen zu Unrecht mannigfaches Fehlverhalten vorgeworfen und seine Person herabgewürdigt. Sie habe selbst geltend gemacht, seine Weiterbeschäftigung sei ihr unzumutbar. Dagegen hat die Arbeitgeberin gemeint, Annahmeverzug habe nicht bestanden, weil der Arbeitnehmer nicht bei ihr weitergearbeitet habe. Er sei auch selbst von der Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung ausgegangen, weil er im Kündigungsschutzprozess einen Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung gestellt habe.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und das LAG die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

BAG schafft Klarheit für weitere Fallgestaltung

Die Revision des Klägers vor dem BAG, die es auf Nichtzulassungsbeschwerde hin zugelassen hat, war erfolgreich. Dies wird in der Pressemitteilung des BAG wie folgt begründet:

  • Die Arbeitgeberin befand sich im Annahmeverzug. Eines Arbeitsangebots des Arbeitnehmers bedurfte es nicht. Die Arbeitgeberin ging selbst von einer Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung aus. Ihr Verhalten war widersprüchlich. Es besteht somit eine tatsächliche (von ihr auch nicht entkräftete) Vermutung dafür, dass ihr Angebot nicht ernstgemeint Zudem lässt die Ablehnung eines solchen „Angebots“ nicht auf einen fehlenden Leistungswillen des Arbeitnehmers i.S.d. § 297 BGB schließen.
  • Der Arbeitnehmer musste sich keinen böswillig unterlassenen Verdienst anrechnen lassen. Ihm war eine Prozessbeschäftigung aufgrund der gegen ihn erhobenen (gravierenden) Vorwürfe und der Herabwürdigung nicht zuzumuten. Daran ändert nichts, dass er im Prozess seine Weiterbeschäftigung beantragt Dieser Antrag war für den Fall gerichtlich festgestellter Unwirksamkeit der Kündigungen gestellt. Nur wenn der Arbeitnehmer nach Obsiegen die Weiterbeschäftigung abgelehnt hätte, hätte er sich selbst widersprüchlich verhalten. Hier ging es aber um die Weiterbeschäftigung bis zur erstinstanzlichen Entscheidung. Es macht einen Unterschied, ob der Arbeitnehmer trotz der gegen ihn erhobenen Vorwürfe weiterarbeiten soll oder er nach erstinstanzlichem Obsiegen gleichsam „rehabilitiert“ in den Betrieb zurückkehren kann.

Damit entwickelt das BAG seine Rechtsprechung in Bezug auf eine (angeblich) mögliche Weiterbeschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber weiter und fügt seiner differenzierenden Rechtsprechung eine weitere Fallgestaltung hinzu.

Bewertung und Einordnung der aktuellen Entscheidung

Arbeitgeberseitig bewertet man die neue Entwicklung in der Rechtsprechung positiv und diskutiert auf ihrer Grundlage darüber, wie man sich im Fall der Unwirksamkeit einer Kündigung gegen allzu hohe Nachzahlungsforderungen wehren kann (siehe dazu den vor Kurzem erschienenen EFAR-Beitrag Annahmeverzugslohn: Wie können sich Unternehmen wirksam gegen hohe Nachforderungen wehren?).

In der Tat sind Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer gut beraten, ihr Vorgehen auf die neue Rechtsprechung einzustellen und auch die weitere Entwicklung im Blick zu behalten. Dies gilt nicht nur bei gerichtlich festgestellter Unwirksamkeit der Kündigung im Streit um Annahmeverzugslohn, sondern auch, weil sich diese Entwicklung natürlich bereits auf Verhandlungen über Aufhebungsverträge, Vergleiche in Kündigungsschutzverfahren u.ä. auswirkt.

Ehrliche Risikoeinschätzung erforderlich

Dabei sollte für eine ehrliche Risikoeinschätzung aber Folgendes beachtet werden: Es wurde zum Teil bereits propagiert, dass Arbeitgeber nunmehr klar im Vorteil wären und Arbeitnehmerforderungen recht leicht abgewehrt werden könnten. Dies ist einseitiges Wunschdenken.

Zwar hat sich das „Gleichgewicht der Kräfte“ im Vergleich zur früheren, für die Arbeitnehmer recht komfortablen Situation zu Lasten der Arbeitnehmer verschoben. Wer aber glaubt, dass das BAG das „Pendel“ gleich in das andere Extrem „durchschwingen“ lässt und nunmehr einseitig zu Gunsten der Arbeitgeber urteilen würde, der irrt, wie bereits die oben genannten Entscheidungen des BAG aus den letzten Jahren belegen. Vielmehr ist das BAG erkennbar um einen Ausgleich der beiderseitigen schutzwürdigen Interessen bemüht (auch wenn man natürlich darüber diskutieren kann, ob dies immer gelingt).

Auch hier gilt also der Juristen nachgesagte, „beliebte“ Spruch: „Es kommt darauf an.“ Oder um es mit den Worten des BAG zu sagen: „Es ist stets eine Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls vorzunehmen.“

Bessere Vorhersehbarkeit und damit mehr Rechtssicherheit hat das BAG im Interesse der hier angestrebten Einzelfallgerechtigkeit also zurücktreten lassen.

Kategorien: #EFAR-Beiträge Tags: Kündigung

  • Dr. Artur Kühnel

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