Das Thema
Die aktuelle Rechtsprechung lässt eine enorme Unsicherheit in Bezug auf eine mögliche nachträgliche Korrektur der unternehmerischen Mitbestimmung entstehen. Die Gerichte stehen einer Flucht aus der Mitbestimmung durch eine SE-Gründung generell ablehnend entgegen.
Vorzüge und Probleme
Einer der Vorzüge der Societas Europaea (kurz: SE) besteht darin, dass – anders als unter nationalem Recht – die zukünftige Ausgestaltung der unternehmerischen Mitbestimmung im SE-Gründungsprozess zu einem großen Teil autonom ausgehandelt werden kann. Hierzu kann das Schicksal der unternehmerischen Mitbestimmung durch die Leitungen der Gründungsgesellschaften und dem sog. besonderen Verhandlungsgremium (bVG), welches sich aus Arbeitnehmervertretern der Gründungsgesellschaften zusammensetzt, nahezu individuell gestaltet werden. Bestenfalls steht am Ende dieses Verhandlungsprozesses der Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung (sog. Verhandlungslösung). Der Inhalt dieser Vereinbarung regelt einerseits die Rechte des SE-Betriebsrats und andererseits die unternehmerischen Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer in den Aufsichtsorganen der SE. Sofern die Gründungsform der Umwandlung einer nationalen Aktiengesellschaft (AG) gewählt wird, grenzt § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (kurz: SEBG) den Verhandlungsspielraum dennoch insoweit ein, als es in der SE nicht zu einer Unterschreitung des bisherigen Mitbestimmungsniveaus kommen darf. Kommt eine Beteiligungsvereinbarung nicht zustande, gilt gemäß §§ 34 ff. SEBG die Mitbestimmung kraft Gesetzes. Auch in diesem Fall bleibt das bisher in der Gründungsgesellschaft existierende Mitbestimmungsniveau als Mindestmaß an Mitbestimmung bestehen (sog. Auffanglösung). Beide Lösungswege folgen dem sog. „Vorher-Nachher-Prinzip“, wonach die Aufrechterhaltung des vor der Umwandlung bestehenden Mitbestimmungsniveaus als Status quo zum Schutz der Arbeitnehmer gewährleistet wird. Nach der SE-Gründung eingetretene Veränderungen der Schwellenwerte führen nicht mehr zur Herbeiführung einer unternehmerischen Mitbestimmung, da die SE nicht dem Anwendungsbereich der nationalen Mitbestimmungsgesetze (MitbestG und DrittelbG) unterfällt.
Probleme bei der Anwendung dieses „Vorher-Nachher-Prinzips“ bereiten aber solche Fälle, in denen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats in der Gründungsgesellschaft zum Zeitpunkt der Umwandlung nicht den nationalen Mitbestimmungsgesetzen entsprach, d.h. trotz Überschreitens der maßgeblichen Schwellenwerte gar keine oder eine zu geringe Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsorganen bestand.
Rechtsprechung in Bewegung
Eine abschließende Klärung ist weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung vorhanden, wenngleich zu dieser Frage in der jüngsten Rechtsprechung einiges an Bewegung stattgefunden hat.
Einerseits kann für die zukünftige Mitbestimmungssituation in den SE-Aufsichtsorganen daran anzuknüpfen sein, wie der Aufsichtsrat nach den gesetzlichen Regelungen zu besetzen wäre (sog. Soll-Statut). Andererseits kann jedoch auch die vor Eintragung der Umwandlung tatsächlich praktizierte Mitbestimmung, d.h. die in der Satzung festgeschriebene Bestimmung zur Aufsichtsratszusammensetzung (sog. Ist-Statut) für das zukünftige Mitbestimmungsniveau in der SE entscheidend sein. Da die SE nicht unter die nationalen Mitbestimmungsgesetze fällt, würde im letzten Fall ein mitbestimmungsrechtlich rechtswidriger Zustand durch die Umwandlung in eine SE geheilt werden, indem die bisher praktizierte Mitbestimmung in der SE „zementiert“ werden würde. Grund für diese Uneinigkeit in Literatur und Rechtsprechung ist einerseits der Wortlaut des SEBG, der zumindest für den Fall der Verhandlungslösung auf das in der umzuwandelnden Gesellschaft „bestehende“ Ausmaß der unternehmerischen Mitbestimmung abstellt. Aber auch das nach nationalem Aktienrecht geltende sog. Kontinuitätsprinzip wird oftmals als Argument für das Abstellen auf den tatsächlich praktizierten Ist-Zustand vorgebracht. Danach wird die Rechtmäßigkeit der bestehenden Zusammensetzung des Aufsichtsrats solange fingiert, bis es zu einer anderweitigen Feststellung der Zusammensetzung im Rahmen eines aktienrechtlichen Statusverfahrens kommt.
BGH: Anhängiges Statusverfahren prägt jedenfalls den tatsächlichen Ist-Zustand mit
Als einzige höchstrichterliche Entscheidung in diesem Zusammenhang liegt derzeit ein Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. Juli 2019 (II ZB 20/18) vor, der eine in diesem Zusammenhang oft zitierte Entscheidung des OLG Frankfurt vom 27. August 2018 (21 W 29/18, hierzu bereits Kurzböck/Weinbeck, BB 2019, 244) im Ergebnis zwar bestätigt, in der Argumentation jedoch auf eine klare Positionierung zum maßgeblichen Statut verzichtet. Der BGH lässt in seiner Entscheidung ausdrücklich offen, ob grundsätzlich auf den tatsächlich praktizierten Ist-Zustand oder auf den rechtlich gebotenen Soll-Zustand abzustellen ist.
Die Besonderheit des zugrunde liegenden Sachverhalts war, dass ein gerichtliches Statusverfahren gemäß §§ 97 ff. des Aktiengesetzes (AktG) über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats zeitlich noch vor der Eintragung der SE in das Handelsregister – somit noch vor dem Vollzug der Umwandlung – eingeleitet wurde. Zudem wurde in der zu entscheidenden Konstellation keine Beteiligungsvereinbarung im Vorfeld der SE-Gründung geschlossen. Die Frage der unternehmerischen Mitbestimmung in der SE richtete sich also nach der gesetzlichen Auffanglösung. Nach Ansicht des BGH prägt in dieser Fallkonstellation die Einleitung des gerichtlichen Statusverfahrens noch vor der Eintragung der SE in das Handelsregister als tatsächlicher Umstand jedenfalls den vor der Umwandlung bestehenden Ist-Zustand mit. Das anhängige Statusverfahren nehme der bis dahin praktizierten Regelung ihre Verbindlichkeit für den Mitbestimmungsstatus der SE und öffne die bisherige Handhabung für eine Korrektur nach Maßgabe der einschlägigen Mitbestimmungsregeln.
OLG München: Dreifaches „Ja“ zum Soll-Zustand
Das OLG München hat sich in drei parallelen Verfahren vom 26. März 2020 (31 Wz 278/18, 31 Wz 279/18, 31 Wz 280/18) dagegen klar zum Soll-Zustand positioniert und geht in seinen Entscheidungen weit über diejenige des BGH hinaus.
Im Unterschied zu dem vom BGH entschiedenen Sachverhalt lag in allen drei Verfahren des OLG München eine Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung nach der Verhandlungslösung vor, die eine Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat ausschloss. Vor der Umwandlung in die SE wurde kein (gerichtliches) Statusverfahren über die Zusammensetzung des Aufsichtsrates in der Gründungsgesellschaft eingeleitet, sodass sich die Reichweite der Entscheidung des OLG München weit von dem oben dargestellten Beschluss des BGH abhebt.
Während das vorinstanzliche LG München I unter Hinweis auf den Zweck des Kontinuitätsprinzips des § 96 Abs. 4 AktG noch eine Anknüpfung an den tatsächlich praktizierten Ist-Zustand vertrat, entschied das OLG München, dass auf den Soll-Zustand abzustellen sei, auch für den Fall, dass eine Beteiligungsvereinbarung mit den Arbeitnehmern im Sinne des § 21 SEBG abgeschlossen wurde, die eine Beteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat ausschließt. Für die Frage des Anknüpfungspunktes komme es entscheidend darauf an, ob es bereits im Zeitpunkt der Umwandlung ein prozessual durchsetzbares Recht auf Mitbestimmung gegeben hätte. Nach Ansicht der Richter richte sich auch die im Rahmen eines nach Umwandlung eingeleiteten gerichtlichen Statusverfahrens festzulegende Zusammensetzung des Aufsichtsorgans danach, wie der Aufsichtsrat vor der Umwandlung richtigerweise zusammenzusetzen war, solange zu diesem Zeitpunkt jedenfalls ein Statusverfahren hätte eingeleitet werden können. In einer solchen Konstellation sieht das Gericht den Soll-Zustand der Unternehmensmitbestimmung vor der formwechselnden Umwandlung als maßgeblich an.
Nach Ansicht der Richter genügt es, wenn und soweit im Zeitpunkt der Umwandlung ein Statusverfahren hätte eingeleitet werden können, d.h. schon zum damaligen Zeitpunkt Streit oder Ungewissheit i.S.d. § 98 Abs. 1 AktG über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats bestanden hat. Hierfür genügen bereits Fälle, in denen zwar nicht beim Vorstand, aber bei einem anderen Beteiligten des Statusverfahrens Zweifel an der Gesetzmäßigkeit der Aufsichtsratszusammensetzung bestehen, über die bereits außergerichtlich gestritten wird bzw. Fälle, in denen konkrete Anhaltspunkte für einen derartigen künftigen Streit bestehen. Es sei nicht sachgerecht, in diesen Konstellationen die Korrekturmöglichkeit durch Eintragung der SE zu vernichten. Auch diese Umstände seien ein den damaligen Ist-Zustand prägender Umstand im Sinne der oben dargestellten BGH-Rechtsprechung. Es ist nach Ansicht des OLG München nicht ersichtlich, weshalb nur die Einleitung eines gerichtlichen Statusverfahrens diesen Ist-Zustand präge, denn auch ein außergerichtlich eingeleitetes Statusverfahren müsse nach Maßgabe des Vorher-Nachher-Prinzips bei der Zusammensetzungsfrage Berücksichtigung finden. Beiden Konstellationen sei es gemeinsam, dass die aktuelle Aufsichtsratszusammensetzung bereits in Frage gestellt und der Weg für die Einleitung eines Statusverfahrens geebnet wurde. Bestehende und bereits nach außen getragene Zweifel über die Gesetzmäßigkeit der aktuellen Zusammensetzung des Aufsichtsrats dürften unter dem Aspekt der Vermeidung einer „Flucht aus der Mitbestimmung“ nicht durch die Umwandlung in eine SE festgezurrt werden.
Als Rechtsfolge sei die Beteiligungsvereinbarung betreffend die Regelung der Arbeitnehmerbeteiligung teilnichtig und insoweit durch die gerichtlich zu bestimmende Regelung zu ersetzen. Einer Neuverhandlung solle es nicht bedürfen.
Da auf tatsächlicher Ebene noch wesentliche Feststellungen zu den oben ausgeführten rechtlichen Gesichtspunkten zu treffen waren, verwies das OLG München alle drei Verfahren an das LG München I zurück. Die Rechtsbeschwerde zum BGH wurde aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zwar zugelassen, jedoch von keiner der Parteien eingelegt.
LG Berlin: Das Kontinuitätsprinzip spricht für den Ist-Zustand
Den Entscheidungen des BGH und des OLG München zeitlich vorgelagert entschied das LG Berlin am 1. April 2019 (102 O 120/17) für den Fall des Vorliegens einer Beteiligungsvereinbarung noch, dass im Rahmen der SE-Gründung durch Umwandlung der tatsächlich zum Zeitpunkt der Umwandlung in der Gründungsgesellschaft bestehende Ist-Zustand für die Bestimmung der unternehmerischen Mitbestimmung in der SE maßgeblich sei.
Auch in diesem Sachverhalt existierte eine Beteiligungsvereinbarung, die vorsah, dass eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Aufsichts- oder Verwaltungsorganen nicht stattfindet. Besonderheit dieses Verfahrens ist, dass eine unternehmerische Mitbestimmung trotz Überschreitens der maßgeblichen Schwellenwerte der Mitbestimmungsgesetze zum Zeitpunkt der Umwandlung mit dem Argument des Tendenzschutzes der Gründungsgesellschaft (als Unternehmen der Berichterstattung) nicht stattfand. Nach Ansicht des LG Berlin kommt es nach der Umwandlung in die SE auf die Frage des tatsächlichen Vorliegens eines Tendenzschutzes zum Zeitpunkt der Umwandlung jedoch nicht an, da für die Frage des Mitbestimmungsniveaus in der SE allein der bei der SE-Gründung tatsächlich praktizierte Ist-Zustand der Mitbestimmung maßgeblich sei. Zur Begründung argumentiert das Gericht mit dem gemäß § 96 Abs. 4 AktG geltenden Kontinuitätsprinzip.
Dieses Verfahren ist jedoch derzeit beim Kammergericht Berlin anhängig, dessen Entscheidung im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene anderslautende Rechtsprechung des BGH und des OLG München mit Spannung zu erwarten ist. Dennoch weckt dieses anhängige Verfahren Hoffnung auf eine höchstrichterliche Entscheidung des BGH für die Fallkonstellation der Verhandlungslösung und des erst nach Umwandlung eingeleiteten Statusverfahrens.
Bewertung und Ausblick
Der Ansicht, dass für das Mindestniveau an Mitbestimmung nicht das Ist-, sondern das Soll-Statut maßgeblich sein soll, steht insbesondere das in § 96 Abs. 4 AktG verankerte und auf Rechtssicherheit ausgelegte Kontinuitätsprinzip entgegen. Dieses gewährt dem Aufsichtsrat Bestandsschutz und fingiert die Rechtsmäßigkeit der Aufsichtsratszusammensetzung bis zum Abschluss eines Statusverfahrens. Aus § 96 Abs. 4 SEBG folgt, dass der konkret bestehende Aufsichtsrat bis zum Abschluss des Statusverfahrens als rechtmäßig besetzt gilt. Dies ist ein tauglicher Anknüpfungspunkt für die Regelungen der Mitbestimmung bei der SE. Die gesetzlichen Regelungen zum Mitbestimmungsstatut finden nach deutschem Recht gerade nicht kraft Gesetzes Anwendung, sondern erfordern die vorherige Durchführung eines Statusverfahrens nach den §§ 97 ff. AktG. Solange dieses nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, amtiert der bisherige und an sich gesetzeswidrig zusammengesetzte Aufsichtsrat rechtmäßig. Diese Wertung des nationalen Rechts unterläuft die Rechtsprechung in ihren jüngsten Entscheidungen.
Der BGH hat jedoch die Kernfrage, ob sich die Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer SE bei Anwendung der gesetzlichen Auffanglösung nach dem rechtlich gebotenen Soll-Zustand oder dem tatsächlich praktizierten Ist-Zustand der Gründungsgesellschaft richtet, nicht grundsätzlich entschieden. Wie das OLG München selbst festgestellt hat, ist die Entscheidung des BGH nicht unmittelbar übertragbar auf die Fälle der Verhandlungslösung und eines erst nach Umwandlung eingeleiteten Statusverfahrens. Die vom OLG gewählte Rechtsfolge der gerichtlichen Festsetzung der künftigen Mitbestimmung in der SE unter Ausschluss des Erfordernisses von Neuverhandlungen verletzt auch die dem SEBG durch den Grundsatz des Vorrangs der Verhandlungslösung fest verankerte Verhandlungsautonomie. Diese spätere gerichtliche Festlegung sollte daher in jedem Fall durch eine saubere Prüfung der mitbestimmungsrechtlichen Verhältnisse im Gründungsprozess vermieden werden.
Die aktuelle Rechtsprechung lässt eine enorme Unsicherheit in Bezug auf eine mögliche nachträgliche Korrektur der unternehmerischen Mitbestimmung entstehen. Aus den jüngsten Entscheidungen ist ersichtlich, dass die Gerichte einer Flucht aus der Mitbestimmung durch eine SE-Gründung generell ablehnend entgegenstehen. Ein „Zementieren“ des geltenden Mitbestimmungsniveaus durch Umwandlung einer Gesellschaft in eine SE kommt nur in Betracht, wenn der vorherige Zustand der unternehmerischen Mitbestimmung dem gesetzlichen Soll-Zustand entspricht. Die Heilung eines rechtswidrigen Zustands kann nach der derzeit geltenden Rechtsprechung nicht angenommen werden. Unternehmen, deren Aufsichtsrat vor einer in Aussicht genommenen SE-Gründung rechtswidrig zusammengesetzt ist, sollten sich also nicht darauf verlassen, dass dieser rechtswidrige Zustand durch die Umwandlung in eine SE auf Dauer eingefroren wird. Auch die nachträgliche Einleitung eines Statusverfahrens könnte diesen rechtswidrigen Zustand beseitigen und zu einer Anpassung der Aufsichtsratsbesetzung noch in der bereits gegründeten SE führen, obwohl diese gerade nicht den nationalen Mitbestimmungsregelungen unterliegt.
Fest steht auch, dass die dargestellte Rechtsprechung ausschließlich für die SE-Gründung durch Umwandlung gilt. Auf den Fall der Verschmelzungsgründung ist sie nicht übertragbar. Es gilt also weiterhin, die Rechtsprechungsentwicklung aufmerksam zu beobachten.