Das Thema
Eine sozial gerechtfertigte und damit wirksame betriebsbedingte Kündigung setzt gemäß § 1 Abs. 3 KSchG grundsätzlich die vorherige Durchführung einer ordnungsgemäßen Sozialauswahl voraus. Gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ist eine betriebsbedingte Kündigung selbst bei Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse dann sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Nach dem Bundesarbeitsgericht dient die Sozialauswahl nach § 1 Abs 3 KSchG der personellen Konkretisierung der eine Kündigung bedingenden dringenden betrieblichen Erfordernisse in Fällen, in denen die Zahl der vom Rückgang des Beschäftigungsbedarfs betroffenen Arbeitnehmer die der verbliebenen Arbeitsplätze übersteigt.
Mit seinem aktuellen Urteil aus dem Dezember 2022 kommt es zu einer beachtenswerten und konsequenten Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.
Die neue Entscheidung des BAG: Kriterium “Lebensalter” im Fokus
Das Bundesarbeitsgericht hatte in seinem Urteil vom 8. Dezember 2022 (6 AZR 31/22, bisher nur als Pressemitteilung verfügbar) über die Rechtswirksamkeit von zwei betriebsbedingten Kündigungen zu entscheiden, die der Insolvenzverwalter eines insolventen Unternehmens gegenüber einer Arbeitnehmerin ausgesprochen hatte. Schwerpunkt der Entscheidung bildete die Überprüfung der Sozialauswahl. Insbesondere die Bedeutung und Gewichtung des vielfach diskutierten Sozialauswahlkriteriums „Lebensalter“ stand dabei im Fokus.
Konkret war zu entscheiden, ob die Möglichkeit eines Arbeitnehmers, zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente beziehen zu können, im Rahmen der Sozialauswahl zu dessen Nachteil berücksichtigt werden kann. Die häufig recht schematischen Sozialauswahl-Punktesysteme zur Gewichtung der Sozialauswahlkriterien Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten, etwaige Schwerbehinderung könnte vermuten lassen, dass insbesondere ein hohes Lebensalter stets mit einem hohen Punktwert und besonderer Schutzbedürftigkeit belohnt wird. Dieser schematischen Bewertung hat das Bundesarbeitsgericht nun erneut eine Absage erteilt.
Der Fall
Die 63-jährige Klägerin war zum Zeitpunkt der Kündigung seit 48 Jahren bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Der beklagte Insolvenzverwalter schloss nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit dem Betriebsrat der Insolvenzschuldnerin einen Interessensausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin vorsah. Die Klägerin war auf der Namensliste als zu kündigende Arbeitnehmerin genannt. Der beklagte Insolvenzverwalter kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin zunächst zum 30. Juni 2020. Zur Begründung der Kündigung führte er u. a. an, dass die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf einen von ihr benannten 34-jährigen und seit 8 Jahren bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig sei. Die Klägerin habe die Möglichkeit, ab dem 1. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte zu beziehen.
Nach weiteren Verhandlungen zwischen dem beklagten Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat der Insolvenzschuldnerin wurde ein zweiter Interessenausgleich mit Namensliste aufgrund einer beabsichtigten Betriebsstillegung geschlossen, der wiederum die Kündigung der Klägerin vorsah. Vor diesem Hintergrund kündigte der beklagte Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis der Klägerin vorsorglich erneut zum 30. September 2020. Gegen beide Kündigungen erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage.
So urteilten die Arbeitsgerichte
In erster Instanz gab das zuständige Arbeitsgericht den Kündigungsanträgen statt und stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen des beklagten Insolvenzverwalters nicht aufgelöst worden ist. Im Rahmen des hiergegen von dem beklagten Insolvenzverwalter angestrengten Berufungsverfahrens wies das zuständige Landesarbeitsgericht die Berufung des beklagten Insolvenzverwalters zurück. Sowohl Arbeitsgericht als auch Landesarbeitsgericht hielten die Kündigungen aufgrund fehlerhafter Sozialauswahl für sozial ungerechtfertigt und damit unwirksam.
Gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts legte der beklagte Insolvenzverwalter Revision beim Bundesarbeitsgericht ein, welche teilweise Erfolg hatte.
Die Feststellungen des Bundesarbeitsgerichts: Zeitnahe Altersrente sei zu berücksichtigen
Das Bundesarbeitsgericht hielt die erste Kündigung zum 30. Juni 2020 für sozial ungerechtfertigt und daher für unwirksam. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig sei. Im Rahmen der Durchführung der Sozialauswahl hinsichtlich der Klägerin seien die Sozialauswahlkriterien „Beschäftigungsdauer“ und „Unterhaltspflichten“ nicht berücksichtigt worden.
Allerdings führte das Bundesarbeitsgericht aus, dass die Möglichkeit der Klägerin, ab 1. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen, im Rahmen der Gewichtung des Sozialauswahlkriteriums „Lebensalter“ berücksichtigt werden müsse. In diesem Zusammenhang stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass die gemäß § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO anzuwendenden Kriterien der Sozialauswahl nicht schematisch gelten würden. Das Sozialauswahlkriterium „Lebensalter“ gewinne demnach zwar mit Zeitablauf an Bedeutung. Allerdings reduziere sich die Bedeutung eines hohen Lebensalters dann, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfüge oder über ein solches bereits verfüge, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters beziehe. Ein besonders hohes Lebensalter könne in diesem Zusammenhang zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigt werden.
Dagegen hielt das Bundesarbeitsgericht die zweite Kündigung zum 30. September 2020 für sozial gerechtfertigt und damit wirksam.
Kommt diese Entscheidung überraschend?
Nein! Die Entscheidung ist eine konsequente Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Das Bundesarbeitsgericht hatte bereits in seiner Entscheidung vom 27. April 2017 (2 AZR 67/16) verdeutlicht, dass zumindest ein regelaltersrentenberechtigter Arbeitnehmer im Rahmen einer Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG hinsichtlich des Sozialauswahlkriteriums „Lebensalter“ deutlich weniger schutzbedürftig ist als ein Arbeitnehmer, der noch keine Altersrente beanspruchen kann. Mit der vorliegenden Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht nun die reduzierte Schutzbedürftigkeit eines Arbeitnehmers hinsichtlich des Sozialauswahlkriteriums „Lebensalter“ dahingehend erweitert, dass auch ein Arbeitnehmer, der spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen – verfügen kann, weniger schutzbedürftig ist
Was bedeutet die Entscheidung für Arbeitgeber in der täglichen Praxis?
Für Arbeitgeber handelt es sich bei dieser Entscheidung um eine erfreuliche Nachricht. Viele Unternehmen weisen eine unausgewogene Altersstruktur mit übermäßig vielen Arbeitnehmern hohen Lebensalters auf, die die Frage nach der Berücksichtigung eines hohen Lebensalters bei einer Sozialauswahl im Rahmen von möglichen betriebsbedingten Kündigungen aufwirft. Das Bundesarbeitsgericht hat nunmehr einen für viele Arbeitgeber wünschenswerten Schritt dahingehend gemacht, dass – unabhängig von der Bildung von Vergleichsgruppen – eine Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen nicht mehr per se aufgrund eines durchschnittlich hohen Lebensalters zum Nachteil jüngerer Kollegen ausgehen muss. Arbeitgeber dürfen ein besonders hohes Lebensalter zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer berücksichtigen.
Zu beachten ist allerdings, dass dies nicht zur Vernachlässigung der übrigen Sozialauswahlkriterien führen darf, sondern stets eine Gewichtung der Sozialauswahlkriterien im Einzelfall vorzunehmen ist. Anderenfalls riskieren Arbeitgeber dennoch eine Unwirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen aufgrund fehlerhafter Sozialauswahl.