Das Thema
Arbeitgeber sind zur Erfassung der Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter verpflichtet. Die arbeitsschutzrechtliche Verpflichtung aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG führt nach der Rechtsprechung des BAG nicht zu einer Verschiebung oder Umkehr Darlegungs- und Beweislast im Rechtsstreit über die Vergütung von Überstunden. Arbeitnehmer bleiben zunächst zur Darlegung etwaiger Überstunden verpflichtet. Dabei gilt jedoch: Hat der Arbeitgeber die Arbeitszeiten erfasst, kann er die Darlegung des Beschäftigten leichter widerlegen.
Der Sachverhalt
Der erste Fehler bestand aus Arbeitgebersicht in der fehlenden rechtlichen Aktualisierung der Arbeitsverträge. Die Ausschlussfrist im Arbeitsvertrag der Arbeitnehmerin stammte noch aus dem Jahr 2012 und sah die „schriftliche“ Geltendmachung von Ansprüchen vor. Auch waren „Ansprüche aus vorsätzlicher, unerlaubter Handlung“ von der Ausschlussfrist nicht ausgenommen. Dieser „Nebenaspekt“ des Rechtsstreits vergrößerte das Risiko des Arbeitgebers von wenigen Monaten auf den Regel-Verjährungszeitraum (drei Jahre).
Für diese Zeit verlangte die Mitarbeiterin die Vergütung von mehr als 20 Stunden pro Woche als „Überstunden“. Um ihrer Darlegungslast nachzukommen, verwies sie im Wesentlichen auf die Öffnungszeiten des Werkstattbetriebs und behauptete, sie habe in den zurückliegenden drei Jahren an allen Tagen, die keine Urlaubs- oder Krankheitstage waren, während der Öffnungszeiten von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr mit Ausnahme einer täglichen Pause von einer Stunde gearbeitet.
Dem ArbG Oldenburg (6 Ca 120/23) reichte dieser Tatsachenvortrag in der ersten Instanz nicht aus. Dort wies man die Klage der Lageristen ab. Die Beschäftigte hätte nicht ausreichend dargelegt, die Arbeit in einem die Normalarbeitszeit – in ihrem Fall 24 Stunden pro Woche – übersteigenden Umfang verrichtet zu haben. Ihrer Aussage, nahezu deckungsgleich mit den Öffnungszeiten tätig gewesen zu sein, schenkten die erstinstanzlichen Richter keinen Glauben.
Die Entscheidung
Das LAG Niedersachsen hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und Klage sprach der Arbeitnehmerin die Überstundenvergütung (weitgehend) zu (Urt. v. 09.12.2024 – 4 SLa 52/24).
Das Berufungsgericht widersprach in der Entscheidung der Einschätzung des Arbeitsgerichts, die Klägerin hätte die erbrachte Arbeitsleistung nicht ausreichend dargelegt. Ihre Behauptung, sie habe von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr während der Öffnungszeiten abzüglich Pause gearbeitet, könne nicht als „unglaubhaft“ abgelehnt werden.
Stattdessen wäre es Aufgabe des Arbeitgebers gewesen, dieser Behauptung substantiiert entgegenzutreten. Hierzu hätte er diverse Möglichkeiten gehabt. So hätte er im Rahmen der Klageerwiderung insbesondere die Arbeitszeitaufzeichnung, zu der das Unternehmen gesetzlich verpflichtet ist, vorlegen können. Da das Werkstattunternehmen im vorliegenden Fall die Arbeitszeiten der Beschäftigten nicht erfasste (und dem Arbeitgeber auch ansonsten kein erhebliches Gegenvorbringen, z.B. durch Zeugen, gelang), legte das LAG den Vortrag der Klägerin zur tatsächlichen Erbringung der Arbeitsleistung außerhalb der regulären Arbeitszeit zu Grunde.
Im Ergebnis sprach das LAG der Arbeitnehmerin die begehrte Überstundenvergütung zu, weil der Arbeitgeber auch die weiteren Voraussetzungen des Anspruchs auf Überstundenvergütung nicht widerlegen konnte.
Bedeutung für die Praxis
Wenn es um die Vergütung von Überstunden geht, hat sich in der Rechtsprechung des BAG eine klare Prüfungsabfolge herausgebildet.
- Zunächst muss objektiv, d.h. losgelöst von der Bewertung durch die Vertragsparteien, eine Vergütungserwartung für Überstunden bestehen. Dieses Merkmal ist regelmäßig erfüllt. Wer arbeitet, erwartet gem. § 612 BGB auch eine Gegenleistung. Ausnahmen sind z.B. Dienste höherer Art (z.B. Chefärzte) sowie Vertragsverhältnisse mit deutlich herausgehobener Vergütung jenseits der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (BAG, Urt. v. 21.12.2016 – 5 AZR 362/16).
- In einem weiteren Schritt ist stets zu prüfen, ob die Überstunden tatsächlich als weitere Arbeit – also zusätzlich zu geschuldeten (Wochen-)Arbeitszeit – geleistet wurden. Der Arbeitnehmer genügt seiner Vortragslast zur Leistung von Überstunden, indem er schriftsätzlich vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Mit dem Vortrag, zu bestimmten Zeiten gearbeitet zu haben, behauptet er regelmäßig zugleich, während der genannten Zeiten die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben. Das ist für die erste Stufe der Darlegung ausreichend. Sodann ist es Sache des Arbeitgebers, im Rahmen einer abgestuften Darlegungslast substantiiert zu erwidern und im Einzelnen vorzutragen, welche Arbeiten er dem Mitarbeiter zugewiesen hat und an welchen Tagen dieser von wann bis wann den Weisungen – nicht – nachgekommen ist (BAG, Urt. v. 04.05.2022 – 5 AZR 474/21).
- Schließlich muss der Arbeitnehmer darlegen und – im Streitfall – auch beweisen, dass die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet bzw. zumindest geduldet waren oder warum das Unternehmen sich die Überstunden sonst zurechnen lassen muss.
An der Abfolge dieser Prüfungsanforderungen hat sich mit dem vorliegenden Urteil des Landesarbeitsgerichts nichts geändert. Auch nicht an der grundsätzlichen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast auf den einzelnen Prüfungsstufen. Die aktuelle Entscheidung des LAG Niedersachsen wirkt sich jedoch für Arbeitgeber ohne Arbeitszeiterfassung nachteilig aus, weil sie – mangels Vorliegen – dem Vorbringen des Arbeitnehmers keine Arbeitszeitaufzeichnungen entgegenhalten können.
Fazit, Einordnung und Handlungsempfehlung
Für das BAG waren die öffentlich-rechtliche Arbeitszeiterfassungspflicht (Stichwort: Arbeitsschutz) und die im Individualverfahren geltend gemachte arbeitsvertragliche Überstundenvergütung bislang zwei verschiedene paar Schuhe. Die Pflicht zur Zeiterfassung soll sich nach Ansicht des BAG nicht auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess auswirken. Daher gab es bisher keine Beweiserleichterung für Arbeitnehmer bei der Darlegung der oben genannten Voraussetzungen, auch wenn der Arbeitgeber die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung verletzt hat. Aus diesem Grund ist es fraglich, ob das BAG im noch ausstehenden Revisionsverfahren die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts aufrecht hält.
An die Praxis kann dennoch nur ein Rat gehen: Die Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung sollte konsequent umgesetzt werden. Damit kommen Arbeitgeber nicht nur der arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtung nach, sondern verbessern mithilfe der Aufzeichnungsdaten zugleich ihre Karten im Überstundenvergütungsstreit.