Das Thema
Die Entscheidung des EuGH (Urt. v. 20.02.2024 – C‑715/20) beruht auf einem Vorabentscheidungsersuch eines polnischen Gerichts, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag:
Der Kläger im Ausgangsverfahren und sein Arbeitgeber schlossen für den Zeitraum vom 01.11.2019 bis zum 31.07.2022 einen befristeten Teilzeitarbeitsvertrag. Am 15.07.2020 übermittelte der Arbeitgeber dem Kläger, unter Einhaltung der maßgeblichen Kündigungsfrist, die Kündigung des Arbeitsvertrages. Die Kündigung wurde am 31.08.2020 wirksam, Kündigungsgründe wurden dem Kläger nicht mitgeteilt.
Der Kläger erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht Klage auf Schadenersatz wegen ungerechtfertigter Kündigung. Als Begründung führte er an, dass die Kündigung Formmängel aufweise und dies zu einem Recht auf Zuerkennung von Schadenersatz führe. Weiter führte er aus, dass das Fehlen der Angabe des Kündigungsgrunds gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoße. Der Arbeitgeber des Klägers behauptete hingegen, dass die Kündigung im Einklang mit den Regelungen des polnischen Arbeitsrechts stehe.
Die Rechtslage
Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18.03.1999 (Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28.06.1999) verbietet die Schlechterbehandlung von befristet Beschäftigten gegenüber vergleichbaren Dauerbeschäftigten, es sei denn ein sachlicher Grund rechtfertigt dies.
Die zu dem Zeitpunkt geltende polnische Regelung zur Angabe von Kündigungsgründen, Art. 30 § 4 des Arbeitsgesetzbuchs, bestimmte u.a., dass ein Kündigungsgrund nur bei ordentlicher Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags angegeben werden muss.
In Deutschland besteht bei Ausspruch einer Kündigung grundsätzlich keine Begründungspflicht, das Gesetz verlangt nur die Einhaltung der Schriftform, § 623 BGB. In einem Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht sollten für die Kündigung dann aber doch tragfähige Gründe genannt werden.
Eine Begründungspflicht ist nach dem deutschen Gesetz nur in Ausnahmefällen vorgesehen:
- Im Falle einer außerordentlichen Kündigung muss der Kündigende dem Gekündigten auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen, § 626 Abs. 2 Satz. 3 BGB,
- in den Fällen einer Kündigung von Auszubildenden nach der Probezeit, § 22 Abs. 3 BBiG und
- einer Kündigung einer Schwangeren, § 17 Abs. 2 Satz 2 MuSchG ist die Begründung einer Kündigung zwingend vorgeschrieben.
Die Vorlagefrage
Das polnische Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Ohne im Einzelnen auf beide Fragen einzugehen, hat der EuGH von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, die Vorlagefragen umzuformulieren.
Aus Sicht des EuGH möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Auslegung des Paragrafen 4 der Rahmenvereinbarung den polnischen Regelungen entgegensteht. Außerdem sei zu klären, ob Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung auch auf Privatpersonen Anwendung finde.
Die Entscheidung
Zunächst stellt der EuGH klar, dass die Rahmenvereinbarung auf alle Arbeitnehmer anwendbar sei, die entgeltliche Arbeitsleistungen im Rahmen eines mit dem Arbeitgeber bestehenden befristeten Arbeitsverhältnisses erbringen.
Weiter, so der EuGH, betreffe das in Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung verankerte Verbot, befristet beschäftigte Arbeitnehmer gegenüber Dauerbeschäftigten schlechter zu behandeln, die Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer. Eine Auslegung des Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung, dass die Bedingungen für die Auflösung eines befristeten Arbeitsvertrags nicht als Beschäftigungsbedingungen zu werten seien, schränke den Schutz für den befristet Beschäftigten Arbeitnehmer ein. Das Ziel der Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung sei die Qualität befristeter Arbeitsverhältnisse zu verbessern und deren Ausnutzung dahingehend zu verhindern, befristet beschäftigten Arbeitnehmern Rechte vorzuenthalten, die Dauerbeschäftigten gewährt werden.
Ungleichbehandlung wegen mangelnder Information
Der EuGH stellte fest, dass eine Ungleichbehandlung vorliegt. Da die Kündigung von befristet Beschäftigten, im Gegensatz zu unbefristet Beschäftigten, nicht begründet werden müsse, werde den befristet Beschäftigten eine Information vorenthalten. Diese sei insbesondere für die Beurteilung, ob eine Kündigung ungerechtfertigt ist und deshalb ein Gericht angerufen werden sollte, von Bedeutung.
Das vorlegende Gericht und die polnische Regierung führen aus, dass die fehlende Begründungspflicht den betroffenen Arbeitnehmer nicht in seinem Recht beschneide das zuständige Arbeitsgericht anzurufen. Trotzdem, so der EuGH, könnten hieraus für den betroffenen Arbeitnehmer negative Folgen erwachsen. Das Vorbringen, die Kündigung sei diskriminierend oder missbräuchlich erfolgt, könne nicht untermauert werden. Schließlich könne die Vorbereitung und das Verfahren zur Prüfung der Klage im Vorfeld Kosten verursachen, die der betroffene Arbeitnehmer tragen müsste, sollte seine Klage scheitern. Schließlich beeinträchtige die vorzeitige Auflösung des befristeten Arbeitsvertrags den befristet beschäftigten Arbeitnehmer im gleichen Maße wie die Auflösung eines Arbeitsvertrags mit einem unbefristet beschäftigten Arbeitnehmer.
Keine Rechtfertigung durch sachliche Gründe
Dennoch könne eine Ungleichbehandlung bei Vorliegen sachlicher Gründe gerechtfertigt sein. Dafür seien genau bezeichnete, konkrete Umstände zu benennen, damit geprüft werden könne, ob die unterschiedliche Behandlung einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des Ziels geeignet und erforderlich ist.
Die polnische Regierung beruft sich darauf, dass die getroffene Unterscheidung der Verfolgung einer nationalen Sozialpolitik, die auf eine produktive Vollbeschäftigung abziele, diene. Die Verfolgung dieses Ziels erfordere eine große Flexibilität des Arbeitsmarkts, wozu befristete Arbeitsverträge beitragen. Der polnische Verfassungsgerichtshof habe zudem bestätigt, dass solche Unterscheidungen mit der Verfassung vereinbar seien.
Der EuGH stellt diesbezüglich fest, eine solche Argumentation komme allgemeinen und abstrakten Kriterien gleich und es seien eben keine genau bezeichneten, konkreten Umstände, die einen echten Bedarf an der Ungleichbehandlung begründeten. Zudem sei die in Rede stehende Regelung im Hinblick auf das genannte Ziel jedenfalls nicht erforderlich. Selbst wenn die ordentliche Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags begründet werden müsste, würde sich an der Flexibilität des Arbeitsmarkts durch den Abschluss befristeter Arbeitsverträge nichts ändern.
Geltung zwischen Privatpersonen
Ob ein Gericht eine nationale Bestimmung, die gegen Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung verstößt, bei einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet lassen muss, soll durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der in Frage kommenden nationalen Regelung bestimmt werden. Könne eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgelegt werden, so gebiete der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, jede Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die mit unmittelbar geltendem Unionsrecht in Widerspruch steht.
Da Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung aber keine unmittelbare Wirkung entfaltet, wenn sich im Ausgangsrechtsstreit Privatpersonen gegenüberstehen, kann der in Rede stehende Art. 30 § 4 des Arbeitsgesetzbuchs im vorliegenden Fall nicht allein aufgrund des Verstoßes gegen Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung unangewendet bleiben.
Allerdings, so der EuGH, führe ein Mitgliedstaat bei Erlass einer Regelung durch die die Beschäftigungsbedingungen, die in § 4 der Rahmenvereinbarung normiert sind, präzisiert werden, Unionsrecht i. S. v. Art. 51 Abs. 1 der Charta durch und müsse somit insbesondere das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gem. Art. 47 der Charta beachten. Damit beschränke und verletze die in Rede stehende nationale Bestimmung des Art. 30 § 4 Arbeitsgesetzbuch mittelbar das in Art. 47 der Charta verankerte Grundrecht des betroffenen Arbeitnehmers auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Diese Verletzung sei auch durch die von der polnischen Regierung vorgetragenen und oben genannten Gründe für die Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt.
Daher sei der Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung dahingehend auszulegen, dass er der in Rede stehenden nationalen Regelung entgegensteht. Das nationale Gericht, welches den Rechtsstreit zwischen Privatpersonen zu entscheiden habe, sei verpflichtet, wenn es die nationale Bestimmung nicht im Einklang mit Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung auslegen könne, den in Art. 47 der Charta verankerten gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, indem es soweit erforderlich jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lasse.
Praktische Bedeutung
Dadurch, dass im deutschen Recht keine allgemeine Kündigungsbegründungspflicht besteht, dürften die bisherigen Regelungen ohne Anpassungen beibehalten werden können.
Es ist nicht davon auszugehen, dass befristet und unbefristet Beschäftigte sich nun auf eine Ungleichbehandlung berufen können, weil die Kündigungen gem. § 17 Abs. 2 Satz 2 MuSchG oder § 22 Abs. 3 BBiG zwingend begründet werden müssen. Diese Ungleichbehandlung verfolgt das legitime Ziel des Schutzes bestimmter vulnerabler Arbeitnehmer und dürfte geeignet und erforderlich sein, um dieses Ziel zu erreichen.
Das Gleiche gilt auch im Hinblick auf die Regelung des § 626 Abs. 2 Satz 3 BGB. In diesem Fall ist die Ungleichbehandlung gegenüber ordentlich gekündigten Arbeitnehmern ebenfalls gerechtfertigt, da eine außerordentliche Kündigung einschneidend ist und das Arbeitsverhältnis „von jetzt auf gleich“ beendet.
Fazit und Handlungsempfehlung
Dennoch hat das Urteil Relevanz. Nationale Vorschriften sollten immer im Lichte des Unionsrechts ausgelegt werden, das ist keine neue Erkenntnis. Interessant ist jedoch, dass der EuGH einer Richtlinie zur Geltung zwischen Privatpersonen „verhilft“, indem er die mittelbare Wirkung der Rahmenvereinbarung über die Charta der Grundrechte herstellt. Bisher war die (direkte) Geltung von Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung vom EuGH für die Fälle anerkannt, in welchen der Einzelne diese Regelung vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat in Anspruch nehmen kann. Nun kann sich ein Einzelner auch in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen auf die Rahmenvereinbarung berufen, wenn sich eine Ungleichbehandlung von befristet Beschäftigten gegenüber Dauerbeschäftigten aus einer nationalen Norm ergibt. Dies kann zur Unanwendbarkeit der nationalen Norm aufgrund von EU-Recht führen.
Angesichts der Komplexität des Zusammenspiels nationaler und EU-Vorschriften wird Arbeitgebern empfohlen, bei Unsicherheiten, ob eine Ungleichbehandlung bei der Kündigung eines befristet beschäftigten Arbeitnehmers vorliegt, rechtlichen Rat einzuholen. Andernfalls könnte eine vermeintlich rechtmäßige Kündigung zum Nachteil des Arbeitgebers ausgelegt werden.
Der polnische Gesetzgeber hat bereits reagiert, indem die Begründungspflicht in Art. 30 § 4 Arbeitsgesetzbuch auch auf die Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags ausgedehnt wurde.