Das Thema
In der SE (Societas Europaea –Europäische Aktiengesellschaft) kann die Unternehmensmitbestimmung der Arbeitnehmer in einer Beteiligungsvereinbarung geregelt werden. Entsteht die SE durch Umwandlung, so sieht das deutsche SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) vor, dass das „gleiche Ausmaß“ der Arbeitnehmerbeteiligung zu gewährleisten ist. Ob auch Sitzgarantien der Gewerkschaften erhalten bleiben müssen, soll nun der EuGH klären.
Ausgangspunkt: Verhandlungsautonomie und Streitfrage
Das deutsche Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) gibt in § 7 die Zusammensetzung des Aufsichtsrates vor. Dabei steht den Vertretern der Gewerkschaften eine bestimmte Anzahl an Sitzen zu, je nachdem, wie viele Arbeitnehmervertreter der Aufsichtsrat zählt. Die Gewerkschaften haben insoweit ein ausschließliches Vorschlagsrecht und damit eine (mittelbare) Sitzgarantie.
Die Beteiligungsvereinbarung wird mit dem besonderen Verhandlungsgremium (bVG) abgeschlossen, dem auch Gewerkschaftsvertreter angehören. Trotzdem besteht hinsichtlich der Mitbestimmung eine Verhandlungsautonomie der Parteien. Der europäische Gesetzgeber wollte allerdings für den Fall, dass die SE durch Umwandlung gegründet wird, eine „Flucht aus der Mitbestimmung“ verhindern. So befürchtete er, die Vereinbarungsautonomie könne zur Beschneidung der Arbeitnehmerrechte führen. Die europäischen Vorgaben hat der deutsche Gesetzgeber in § 21 Abs. 6 SEBG umgesetzt, wonach das „gleiche Ausmaß“ hinsichtlich aller Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung erhalten bleiben muss. Welche Rechte im Detail gewährleistet sein müssen, darüber herrscht Streit.
Die Frage ist bis zum BAG gelangt, das den EuGH zur Klärung angerufen hat.
Der Ausgangsfall
Die Arbeitgeberin, ein bekanntes Softwareunternehmen, entschied sich im Jahr 2014 ihre Gesellschaftsform im Wege der Umwandlung von einer deutschen AG in eine SE zu ändern. Als AG mit mehr als 10.000 Beschäftigten unterlag sie dem MitbestG und verfügte über einen 16-köpfigen Aufsichtsrat.
Dieser war zu gleichen Teilen mit Vertretern der Anteilseigener und der Arbeitnehmer besetzt. Zwei der acht Sitze der Arbeitnehmer entfielen auf Vertreter von Gewerkschaften. Die bei Gründung der SE abgeschlossene Beteiligungsvereinbarung ermöglichte es, den Aufsichtsrat auf zwölf Mitglieder zu reduzieren. Das Verhältnis von Vertretern der Anteilseigener und der Arbeitnehmer blieb dabei gleich. Den Gewerkschaften sollten im verkleinerten Aufsichtsrat keine reservierten Plätze mehr zustehen. Sie konnten zwar noch Wahlvorschläge machen, ein ausschließliches Vorschlagsrecht bestand aber nicht mehr.
Zwei Gewerkschaften hielten diese Regelung für unzulässig und wandten sich an das Arbeitsgericht.
Instanzgerichte halten Beteiligungsvereinbarung für wirksam
Über zwei Instanzen waren die Gewerkschaften mit ihrem Anliegen zunächst erfolglos. Sowohl das Arbeitsgericht Mannheim (Beschluss vom 07.12.2017 – 14 BV 13/16) als auch das in zweiter Instanz angerufene LAG Baden-Württemberg (Beschluss vom 09.10.2018 – 19 TaBV 1/18) hielten die Beteiligungsvereinbarung für wirksam.
Es genügt, wenn das proportionale Verhältnis im Aufsichtsrat gleich bleibt
So würde die Formulierung „gleiches Ausmaß“ sinnentleert, wenn tatsächlich der „Status quo“ der Mitbestimmung erhalten bleiben müsse. Das Gesetz verbiete es, den Anteil der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat im Verhältnis zur Anzahl der Vertreter der Anteilseigner zu verringern. Es genüge aber, wenn das proportionale Verhältnis gewahrt bleibe.
Die Regelung in § 21 Abs. 6 SEBG gebiete keinen Bestandschutz in Bezug auf das alleinige Vorschlagsrecht der Gewerkschaften und damit der (mittelbaren) Sitzgarantie. Der Gesetzgeber habe insoweit der Verhandlungslösung als Ausdruck der Parteiautonomie den Vorrang eingeräumt. Eine Schwächung der Gewerkschaftsrechte sei hinzunehmen.
Das LAG bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Es ergänzte noch, dass der Rolle der Gewerkschaften durch ihre Mitgliedschaft im bVG (vgl. § 6 Abs. 2 und 3 SEBG) bereits ausreichend Rechnung getragen würde. Einen weitergehenden Schutz habe der europäische Gesetzgeber nicht beabsichtigt.
Da die Rechtssache nach Ansicht des LAG Baden-Württemberg grundsätzliche Bedeutung habe, ließ es die Rechtsbeschwerde zu und machte so den Weg für eine höchstrichterliche Entscheidung durch das BAG frei.
BAG lässt das Thema auf europäischer Ebene klären
Da die streitige Norm im SEBG auf einer europäischen Richtlinie beruht, obliegt die Auslegung dem EuGH.
An diesen hat sich das BAG nun mit einer Vorlage gerichtet (Beschluss vom 18.08.2020 – 1 ABR 43/18).
Das Gericht fragt, ob es mit der Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vom 08.10.2001 (SE-Richtlinie) vereinbar ist, wenn § 21 Abs. 6 SEBG bei einer durch Umwandlung gegründeten SE vorsieht, dass in der Beteiligungsvereinbarung ein gesondertes Auswahlverfahren für Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat zu gewährleisten ist.
Offene (Folge-)Fragen und Rechtsunsicherheit bleiben
Selbst wenn der EuGH die Vorschlagsrechte und damit die Sitzgarantie der Gewerkschaften als mit der SE-Richtlinie vereinbar ansieht, stellen sich Folgefragen, die ebenfalls einer Klärung bedürfen.
Eine bereits geschlossene Beteiligungsvereinbarung, die die Gewerkschaftsrechte unzulässig einschränkt, wäre dann unwirksam aufgrund eines Verstoßes gegen § 21 Abs. 6 SEBG – das gilt jedenfalls für die Fälle, in denen die SE durch Umwandlung entstanden ist. Die Folgen einer unwirksamen Beteiligungsvereinbarung sind im SEBG nicht geregelt. Auch eine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Frage existiert nicht.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird zwar vertreten, dass nur eine Teilnichtigkeit vorliege, die nicht zur vollständigen Nichtigkeit der Vereinbarung führe. Ergänzend sei auf die gesetzlichen Regelungen zurückzugreifen. Es bleibt aber eine Rechtsunsicherheit. Auch folgt aus einer unwirksamen bzw. teilunwirksamen Beteiligungsvereinbarung möglicherweise, dass der Aufsichtsrat fehlerhaft besetzt ist. Wie in diesen Fällen zu verfahren ist, ist ebenfalls nicht höchstrichterlich geklärt. Denkbar ist, dass nach der Entscheidung des EuGH erneut ein bVG zu bestellen ist, um eine neue Beteiligungsvereinbarung abzuschließen. Dies bindet Zeit und Ressourcen und macht die Gründung einer SE durch Umwandlung vor diesem Hintergrund komplizierter.
Gründungsvorhaben zur SE sollten Klärung abwarten
Es ist zwar zu begrüßen, dass eine schon länger diskutierte Rechtsfrage nun zur Klärung dem EuGH vorliegt. Rechtssicherheit bringt eine Entscheidung allerdings nur in Bezug auf die Vorschlagsrechte der Gewerkschaften.
Welche Folgen die Entscheidung auf bereits bestehende Beteiligungsvereinbarungen und die daraus folgende möglicherweise fehlerhafte Besetzung des Aufsichtsrats hat, bleibt unklar und ist vermutlich Gegenstand weiterer Rechtsstreitigkeiten. Sollte der EuGH im Sinne der Auslegung durch das BAG entscheiden, bedeutet dies eine deutliche Schwächung der Verhandlungsautonomie in der SE. Dies gilt zumindest nur für die Gründung der SE durch Umwandlung.
Wird diese Gründungsvariante erwogen, dann sollte die Entscheidung des EuGH möglichst abgewartet werden. Um mehr Freiheit bei der Gestaltung der Mitbestimmung zu haben, kann auf die anderen Gründungsvarianten der SE zurückgegriffen werden, für die die Einschränkung des § 21 Abs. 6 SEBG nicht gilt.