Das Thema
Im Rahmen von Restrukturierungen und (größeren) Personalabbauten ist regelmäßig die Erstattung einer Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erforderlich. Eine Massenentlassung im Sinne des § 17 KSchG liegt dabei vor, wenn Arbeitnehmer in so großer Zahl entlassen werden, dass die von der Betriebsgröße abhängigen Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG überschritten werden.
In der Praxis stellt die Massenentlassungsanzeige stets einen erheblichen Risikofaktor für die Arbeitgeberseite dar. Denn nach der Rechtsprechung des BAG (vgl. Urt. v. 22.11.2012 – 2 AZR 371/11) hängt die Wirksamkeit von arbeitgeberseitigen Kündigungen im Rahmen einer Massenentlassung unter anderem davon ab, ob vor deren Ausspruch eine wirksame Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit erstattet wurde. Fehlt es an einer Massenentlassungsanzeige oder ist diese fehlerhaft, führt dies zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen.
Muss- und Soll-Angaben
Die erforderlichen Inhalte einer Massenentlassungsanzeige sind insbesondere in § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG geregelt. Dabei wird zwischen sogenannten „Muss-Angaben“ und „Soll-Angaben“ differenziert. § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG enthält zunächst die Muss-Angaben, welche den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes, die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer umfassen. Die Soll-Angaben aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG umfassen dagegen Angaben über Geschlecht, Alter, erlernter Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer. Das Gesetz spricht dabei ausdrücklich davon, dass diese Angaben lediglich gemacht werden sollen.
Dementsprechend sehen die von der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellten Formblätter für Massenentlassungszeigen vor, dass die Muss-Angaben in die eigentliche Massenentlassungsanzeige einzugeben sind, während für die Soll-Angaben lediglich die Möglichkeit zur Aufnahme in einem gesonderten Formblatt vorgesehen ist. Im Merkblatt für Arbeitgeber der Agentur für Arbeit (Ziff. 3.3, S. 12, Stand 10/2017) wird zu den Soll-Angaben ausdrücklich ausgeführt, dass diese Angaben lediglich zusätzlich gemacht werden „sollen“.
Die Regelung der §§ 17ff. KSchG beruhen auf der europäischen Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL). Diese regelt in Art. 3 Abs. 1 S. 3, dass die Anzeige alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten muss. Art. 2 Abs. 3 S. 1 sieht vor, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmervertretern u. a. die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und in jedem Fall die auch in § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG erwähnten Mussangaben schriftlich mitzuteilen hat. Satz 2 regelt dann weiter, dass der Arbeitgeber der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der auch den Arbeitnehmervertretern schriftlich mitzuteilenden Muss-Angaben zu übermitteln hat.
Der Fall
Der Beklagte sprach gegenüber 17 von in der Regel 21 im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern im Zeitraum vom 18. Juni bis zum 21. Juli 2019 betriebsbedingte Kündigungen aus. Damit handelte es sich unzweifelhaft um eine Massenentlassung nach § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG. Dementsprechend hatte die Beklagte vor Kündigungsausspruch eine Massenentlassungsanzeige erstattet. Diese enthielt lediglich die Muss-Angaben, nicht jedoch die sogenannten Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Die Soll-Angaben wurden erst nach Ausspruch der Kündigungen an die Arbeitsagentur übermittelt. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage und vertrat die Auffassung, dass die Massenentlassungsanzeige aufgrund der fehlenden Soll-Angaben nicht vollständig und mithin die Kündigung unwirksam sei. Der Arbeitsgericht Frankfurt a. M. (Urt. v. 16.9.2020 – 11 Ca 4532/19) gab dem Kläger recht, die Beklagte legte daraufhin Berufung zum Landesarbeitsgericht ein.
Hessisches LAG bestätigt ArbG Frankfurt a. M. und stellt die bisherige Praxis infrage
Nach der Auffassung des Hessischen LAG (Urt. v. 25.6.2021 – 14 Sa 1225/20) führt das Fehlen der Soll-Angaben in der Massenentlassungsanzeige dann zur Unwirksamkeit der Kündigungen, wenn dem Arbeitgeber diese Angaben möglich gewesen wären. Dies begründet das LAG damit, dass die Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 Abs. 4 S. 1 MERL alle zweckdienlichen Angaben enthalten muss, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen. Dabei seien nach richtlinienkonformer Auslegung auch die Soll-Angaben als zweckdienliche Angaben im Sinne von Art. 3 MERL anzusehen, da diese die Vermittlungsbemühen der Agentur für Arbeit erleichtern würden. Die Differenzierung des gesetzlichen Wortlauts zwischen den Muss-Angaben und Soll-Angaben beruhe lediglich auf dem Umstand, dass dem Arbeitgeber die Soll-Angaben nicht zwingend bekannt seien und er sie in diesem Fall auch nicht angeben müsse. Der Arbeitgeber verfüge stets über alle Muss-Angaben, während die Soll-Angaben nicht aus seiner Sphäre stammen und daher nur insoweit anzugeben seien, wie sie dem Arbeitgeber vorliegen oder er sie sich (ggf. nach entsprechenden Nachforschungen) beschaffen kann. Trotzdem seien beide Angaben nach dem Willen des Gesetzgebers zweckdienlich und daher im Regelfall aufzunehmen, sofern dies dem Arbeitgeber möglich sei.
Damit stellt das LAG die bisherige Praxis der Arbeitsagenturen nachhaltig infrage und steht insbesondere im Widerspruch zu den Inhalten des offiziellen Merkblattes der Bundesagentur für Arbeit.
Drohender Mehraufwand für Arbeitgeber
Das neue Urteil schafft erhebliche Rechtsunsicherheiten und demzufolge deutlichen Mehraufwand für die Arbeitgeber. Im Ergebnis werden sie aufgrund des Urteils gezwungen sein, die entsprechenden Soll-Angaben zusammenzutragen, da das LAG dies ausdrücklich für zumutbar hält. Nur wenn die Mitteilung der Angaben absolut unmöglich ist, würde ihr Weglassen demnach nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Die Darlegungslast im Kündigungsschutzprozess, dass der Arbeitgeber die Informationen nicht mit zumutbaren Nachforschungen hätte erlangen können, dürfte beim Arbeitgeber liegen und im Einzelfall nur schwer zu erfüllen sein.
Praxishinweis
Die Entscheidung des Hessischen LAG ist noch nicht rechtskräftig, die Revision wurde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage zugelassen und auch eingelegt. Meines Erachtens vermag die Entscheidung des LAG nicht zu überzeugen, so dass mit einer Aufhebung durch das BAG zu rechnen ist. Zwar verlangt Art. 3 Abs. 1 S. 3 MERL die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung. Die Vorschrift verweist aber in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern nach Art. 2, welcher ebenfalls in Abs. 3 S. 1 von zweckdienlichen Auskünften spricht, in seinem Satz 2 aber nur die Muss-Angaben entsprechend § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG für eine Übermittlung an die Arbeitsagentur vorsieht. Insofern wäre es ein Wertungswiderspruch, wenn die Übermittlung der Soll-Angaben nach Art. 3 erforderlich wäre, obwohl sie dies nach Art. 2 ausdrücklich nicht ist. Ebenfalls nicht überzeugen kann der Ansatz, den Begriff der Zweckdienlichkeit in Art. 3 auf die Zwecke der Arbeitsagentur zu beziehen, obwohl dieser ausdrücklich auf den Art. 2 verweist, in dem sich die Zweckdienlichkeit noch auf die Konsultation mit den Arbeitnehmervertretern bezieht. Es kann demnach nicht darauf ankommen, welche Angaben für die Vermittlungsbemühungen der Arbeitsagentur zweckdienlich sein mögen, sondern allein auf die Zweckdienlichkeit für die Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern.
Bis zu einer Entscheidung durch das BAG oder ggf. auch den EuGH sollten Arbeitgeber sicherheitshalber stets auch die Soll-Angaben in der Massenentlassungsanzeige mitteilen, um das Risiko unwirksamer Kündigungen zu vermeiden.