Das Thema
Fehlt es an der Unterrichtung durch den Arbeitgeber, können Urlaubsansprüche auch der vergangenen Jahre noch geltend gemacht bzw. bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis deren Auszahlung verlangt werden. Der Arbeitgeber, der den Arbeitnehmer entgegen den rechtlichen Vorgaben nicht belehrt habe, dürfe sich nicht auch noch zur Belohnung auf das Rechtsinstitut der Verjährung berufen.
Der Fall aus Deutschland: Urlaub der vergangenen Jahre
Der Entscheidung des EuGH (Urt. v. 22.09.2022 – C-120/21) lag ein Fall aus Deutschland zugrunde, den das BAG im Herbst 2020 im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens den Luxemburger Richtern zur Entscheidung vorgelegt hatte: Eine in einer Kanzlei von 1996 bis Juli 2017 beschäftigte Steuerfachangestellte machte nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis die Abgeltung von 76 Tagen Resturlaub geltend, die sie aufgrund zu hohem Arbeitsaufkommens im Arbeitsverhältnis habe nicht nehmen können. Die Urlaubstage reichten auf die Jahre 2013 bis 2016 zurück. Die klagende Arbeitnehmerin meinte, dass der geltend gemachte Urlaub mangels Erfüllung der arbeitgeberseitigen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht verjährt sei. Erstinstanzlich, vor dem ArbG Solingen (Urt. v. 19.02.2019 – 3 Ca 155/18), unterlag sie hinsichtlich des nach deutschen Rechts verjährten Urlaubs. Das LAG Düsseldorf (Urt. v. 21.02.2020 – 10 Sa 180/19) gab der Klägerin Recht. Auf die arbeitgeberseitige Revision hin legte das BAG (Vorlagebeschl. v. 29.09.2020 – 9 AZR 266/20 [A], s. dazu auch „Kann Urlaub noch verjähren?“) dem EuGH die Sache zur Vorabentscheidung vor. Es bat den EuGH um Klärung, ob das Unionsrecht die Verjährung des Urlaubsanspruchs nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist gem. §§ 194 Abs.1, 195 BGB erlaubt, auch wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Das BAG stellte dabei insbesondere darauf ab, dass die Verjährung von Ansprüchen seine Stütze auch im vom Gesetzgeber verfolgten Ziel finde, Rechtsfrieden und -sicherheit herzustellen. Daher streite für eine Anwendung der Verjährungsvorschriften auch das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, das auch Bestandteil des Unionsrechts sei.
Generalanwalt: Urlaub sticht Verjährung
Dass der EuGH diese Sichtweise womöglich nicht teilen wird, wurde bereits anhand der Schlussanträge des Generalanwalts de La Tour deutlich (v. 05.05.2022 – C-120/21; s. dazu auch Fuhlrott, ZAU 2022, S. 300 f.). Denn dieser machte deutlich, dass es sich beim deutschen Verjährungsrecht um Vorschriften handele, die die Modalitäten der Wahrnehmung des Urlaubsanspruchs regelten. Diese dürften daher den Wesensgehalt des Urlaubsanspruchs nicht antasten. Denn schließlich gebiete es der Effektivitätsgrundsatz, dass auch nationale Verfahrensvorschriften die Anwendung des Unionsrechts nicht unmöglich machen bzw. diesen übermäßig erschweren dürften. Zwar seien angemessene Ausschluss- oder Verjährungsfristen im Grundsatz nicht unzulässig. Auch eine Zeitspanne von drei Jahren sei per se nicht zu beanstanden. Einen Verstoß gegen das Unionsrecht stelle es aber dar, wenn der Lauf der Verjährung alleine aufgrund einer unterstellten theoretischen Kenntnis des Arbeitnehmers vom Bestehen des Anspruchs in Gang gesetzt werde. Der Arbeitnehmer müsse vielmehr positive Kenntnis von seinem Urlaubsanspruch haben. Dies sei nur dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer zuvor angemessen und vollständig informiert worden sei, wieviel Urlaub ihm zustehe. Daraus folge, dass die Verjährungsfrist erst dann anlaufen dürfe, wenn der Arbeitgeber seiner Hinweisobliegenheit nachgekommen sei. Damit werde auch nicht gegen das Rechtsstaatlichkeitsgebot in Form der Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit verstoßen. Hierbei sei nämlich zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis die schwächere Partei sei. Es stelle somit eine Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes dar, wenn durch Verjährung ohne vorherigen Hinweis ein Urlaubsverfall drohe. Wende man die nationalen Verjährungsvorschriften dergestalt an, verstoße dies die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhaltenden Grenzen bei der Festlegung der Modalitäten zur Anspruchswahrnehmung. Schließlich dürfte auch ein unrechtmäßiges Verhalten des Arbeitgebers nicht durch Berufen auf Verjährung in letzter Konsequenz noch honoriert werden.
EuGH folgt Generalanwalt: Verjährung nur bei positiver Kenntnis
Diese Sichtweise überzeugte auch den EuGH, der in seinem Urteil vom 22.09.2022 u.a. unter Berufung auf Grundrechtecharta die Bedeutung des Urlaubsanspruchs stärkte und den Ausführungen des Generalanwalts folgte. Nationale Regelungen, die die Modalitäten des Urlaubsanspruchs oder sogar dessen Verlust vorsähen, könnten zwar zulässig sein. Voraussetzung sei aber stets, „dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen“ (Rn. 25 der Entscheidungsgründe). Denn es sei auch der Arbeitgeber „vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können“ (Rn. 27) zu schützen. Gleichwohl sei zu vergegenwärtigen, dass der Urlaubsanspruch einerseits auch aus Art. 31 Abs. 2 Grundrechtecharta folge und der Gerichtshof schon mehrere Male betont habe, dass „dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union besondere Bedeutung“ (Rn. 33) zukomme. Daraus folge, dass eine Anwendung der deutschen Verjährungsvorschriften nur zulässig sei, wenn „der Arbeitnehmer von den seinen Anspruch begründenden Umständen und der Person seines Arbeitgebers Kenntnis erlangt“ (Rn. 40) habe. Und da dieser „als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen“ (Rn. 44) sei, könne eine Verjährung ohne vorherige Aufklärung dazu führen, dass „man im Ergebnis ein Verhalten billigt, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers [führe] und dem eigentlichen von Art. 31 II der Charta verfolgen Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft“ (Rn. 52).
Was folgt daraus für Arbeitgeber?
Man mag die Entscheidung in rechtsdogmatischer Hinsicht aus nationaler Sicht kritisieren: Denn nach nationalem Recht setzt das Anlaufen der Verjährung gem. § 199 Abs. 2 Nr. 1 BGB voraus, dass der Gläubiger „von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste“. Hierfür ist es unerheblich, ob und inwieweit der Gläubiger die Tatumstände tatsächlich bzw. rechtlich zutreffend würdigt (ständige Rspr., s. nur BGH, Urt. v. 16.06.2016 – I ZR 222/14; v. 28.10.2014 – XI ZR 348/13). Selbst eine Parallelwertung in der Laiensphäre ist nicht erforderlich, da es genügt, wenn sich der Gläubiger seinen Anspruch aus den ihm bekannten Tatsachen erschließen könnte (s. etwa BGH, Urt. v. 17.10.1995 – VI ZR 246/94; Grothe in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl., 2021, § 199, Rn. 21 m.w.N.).
Gleichwohl ist mit der Entscheidung umzugehen. Und: Das den EuGH nationale Vorschriften wenig kümmern, wenn diese unionsrechtlichen Vorgaben zuwiderlaufen, ist überdies keine Neuheit (s. u. zuletzt die Diskussion bei BAG, Vorlagebeschl. v. 18.10.2016 – 9 AZR 45/16 [A] zur Frage der Urlaubsabgeltung bei Tod im laufenden Arbeitsverhältnis mit Blick auf das nationale Verständnis von § 1922 BGB).
Für die Praxis ergeben sich aus der Entscheidung mithin folgende Konsequenzen und Schlussfolgerungen:
Ob eine Klagewelle auf Urlaubsabgeltung in den letzten Jahren aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedener Arbeitnehmer droht, wird maßgeblich davon abhängen, wie das BAG bei seiner noch anstehenden Umsetzung der Entscheidung die Stellschrauben an die Darlegung hinsichtlich des noch offenen Urlaubs justieren wird. Wenn Beschäftigte nachweisen müssen, dass ihnen aus früheren Jahren noch Urlaub zusteht, dürfte die Geltendmachung sehr erschwert sein. Sollte das BAG aber annehmen, dass im Falle eines Arbeitgebers, der nicht nachweisen kann, dass er seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, eine entsprechende Darlegungs- und Beweislastverschiebung zugunsten des Arbeitnehmers annehmen, könnten zahlreiche Verfahren auf Unternehmen zukommen.
Auf der sicheren Seite sind – jedenfalls bei „Bestandsarbeitnehmern“ – Unternehmen, die nachweisen können, seit dem Jahr 2018, also dem Jahr der Entstehung der Rechtsprechung des EuGH zu Hinweisobliegenheiten, diese erfüllt zu haben. Denn diese Unternehmen werden sich erfolgreich auf Verjährung berufen können.
Eine weitere Frage wird sein, ob Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen oder abgeschlossenen Aufhebungsverträgen eine sichere Begrenzung etwaiger finanzieller Abgeltungsrisiken darstellen. Es könnten gute Argumente dafür streiten, dass diese Klauseln unter Anwendung der AGB-Rechtsprechung vom BAG als unwirksam qualifiziert würden, wenn sie Urlaubs(abgeltungs)ansprüche nicht ausdrücklich herausnehmen.