Das Thema
Das BAG denkt – angestoßen von einer Stellungnahme des Generalanwalts beim EuGH – laut darüber nach „sein Sanktionssystem für fehlerhafte Massenentlassungen“ zu überarbeiten, da dieses – so das Gericht – eventuell nicht im Einklang mit dem Sanktionssystem der europäischen Richtlinie 98/59/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (fortan: MERL) stehe und daher unverhältnismäßig sein könnte.
Kurz zusammengefasst: Kündigungen, bei denen fehlerhaft die Massenentlassungsanzeige unterblieben ist oder fehlerhaft erstattet wurde, könnten wirksam bleiben. Weil eben die Sanktion „Unwirksamkeit der Kündigung“ ohne die europarechtliche Rückendeckung unverhältnismäßig wäre.
Bisherige Rechtsprechung des BAG: Fehler schlagen aufs Individualrecht durch (Unwirksamkeit der Kündigung)
Bisher hatte sich das BAG eher gnadenlos bei der Sanktionierung von Fehlern im Massenentlassungsverfahren gezeigt. Alle Fehler im Anzeige- oder Konsultationsverfahren schlugen nach der BAG-Rechtsprechung aufs Individualrecht durch – obwohl § 17 KSchG diese Sanktion selbst nicht explizit vorsieht.
Schlussanträge des Generalanwalts: MERL sieht keine individualrechtliche Sanktion vor
In dem EuGH-Verfahren C-134/22 hatte der Generalanwalt Ende März mit seinen Schlussanträgen klargestellt, dass die MERL aus seiner Sicht keinen Individualrechtsschutz verleiht und ein Verstoß daher nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führt.
Eine Unwirksamkeit der Kündigung als Sanktion der MERL lehnte der Generalanwalt auch im Hinblick auf die historische Auslegung der Richtlinie ab. Eine Unwirksamkeit der Kündigungen war im Gesetzgebungsverfahren diskutiert, aber nicht umgesetzt worden. Überdies sei nach der Rechtsprechung des EuGH das Konsultationsverfahren kollektiver Natur, das über die Arbeitnehmervertreter ausgeübt werde. Daher entstünde ein kollektives und nicht individualrechtliches Schutzrecht.
Gleichzeitig betonte der Generalanwalt jedoch, dass die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt bleibe, im Rahmen ihres Ermessens ergänzende Vorschriften zu schaffen, den Arbeitnehmern individuelle Maßnahmen mit gleichem Ziel zu gestatten und sich auf die Folgen des Verstoßes für die Auflösung des Arbeitsvertrags zu berufen. Es reiche bereits aus, dass diese Maßnahmen einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleiste und eine wirklich abschreckende Wirkung habe.
BAG im Mai 2023
In dem nun dem BAG vorliegenden Fall hatte der Arbeitgeber aufgrund seiner Einschätzung der in der Regel beschäftigten Mitarbeiter vor Ausspruch der Kündigungen keine Massenentlassungsanzeige erstattet, weil er diese nicht für erforderlich hielt. Das Landesarbeitsgericht Hamburg hatte dies Urteil vom 03.02.2022 (3 Sa 16/21) anders gesehen und die Kündigung für unwirksam gehalten.
Nach Vorliegen der Einschätzung des Generalanwalts in der Rechtssache C-134/22, sah sich das BAG jedoch zur Aussetzung des Rechtsstreits bis zur dortigen Entscheidung gezwungen. Das vom BAG entwickelte Sanktionssystem stehe möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die MERL vermittelt wird, und könnte folglich unverhältnismäßig sein, so das BAG in seiner Pressemeldung zum Beschluss vom 11.05.2023 – 6 AZR 157/22.
Kurz zusammengefasst scheint das BAG daran zu zweifeln, ob sich die bisherige Auslegung des § 17 KSchG – also die Unwirksamkeit der Kündigung als Folge von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige – aufrechterhalten lässt, sofern die europäische Richtlinie keinen individualrechtlichen Schutz gewährt, eine europarechtskonforme Auslegung in diesem Sinne demnach auch nicht möglich ist.
Praxistipp: Vorsichtiger Optimismus
Zwar dürfen Arbeitgeber für die Zukunft berechtigte Hoffnung auf ein erleichtertes Kündigungsverfahren haben. Bereits heute schon die Massenentlassungsanzeige zu unterlassen oder ohne die nötige Sorgfalt zu erstatten, kann jedoch extrem teuer werden.
Zunächst ist das Urteil des EuGH abzuwarten. Selbst wenn das Gericht jedoch den Vorschlägen des Generalanwalts folgt, besteht keine Garantie, dass das BAG seine bisherige Rechtsprechung komplett über Bord wirft. Bislang war in der Rechtsprechung eher die Tendenz zu einer stetig schärferen Sanktion in Bezug auf die Massenentlassungsanzeige festzustellen. Dass das BAG nun plötzlich sämtliche Fehler als unbeachtlich für die Wirksamkeit der Kündigung ansieht, wäre eine beachtliche Wendung.
Auch kann die Rechtsprechung des EuGH das BAG nicht zu dieser vollständigen Wendung zwingen, wenn diese vom BAG nicht gewollt ist. Der EuGH kann lediglich zur Auslegung der MERL Stellung nehmen – nicht zur Auslegung des § 17 KSchG. Auch hat der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung immer betont, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, auch individualrechtliche Sanktionen festzuschreiben, die über die Sanktionen der MERL hinausgehen. Ob in § 17 KSchG ein solcher überschießender Individualrechtsschutz enthalten ist, lässt sich zwar anhand des Wortlauts bezweifeln, ist jedoch vom BAG auszulegen.
Einfallstore für eine fortgesetzte Rechtsprechung des BAG im Sinne eines Individualrechtsschutzes sind nach wie vor gegeben. Der EuGH betont in seiner Rechtsprechung zur Massenentlassungsanzeige stets das Erfordernis des effektiven Rechtsschutzes. Das BAG könnte also argumentieren, dass § 17 KSchG ohne den hineingelesenen Individualrechtsschutz mangels effektiven anderweitigen Rechtsschutzes europarechtswidrig – und daher eine europarechtskonforme Auslegung des § 17 KSchG geboten – sei.