Der Hintergrund: Pflicht zur Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit
Arbeitgeber sind nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX verpflichtet, „frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit“ aufzunehmen, wenn sie freie Stellen besetzen. Ziel dieser Vorschrift ist es, schwerbehinderten Menschen bessere Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen und die Arbeitslosigkeit dieser Personengruppe zu bekämpfen – unter anderem dadurch, dass die Agentur für Arbeit in die Lage versetzt wird, dem ausschreibenden Unternehmen Vermittlungsvorschläge zu unterbreiten (BT-Drs. 14/3372 S. 18).
Das BAG hat in seiner jüngsten Entscheidung (Urt. v. 27.03.2025 -8 AZR 123/24) unmissverständlich festgestellt, dass diese „Verbindungsaufnahme“ eine aktive Handlung erfordert: Arbeitgeber müssen einen formellen Vermittlungsauftrag gegenüber der dafür bei der Agentur vorgesehenen Stelle i.S.d. § 187 Abs. 4 SGB IX erteilen. Konkret müsse der von der Bundesagentur dafür vorgesehene Kommunikationsweg genutzt werden, um der zuständigen Stelle alle für die Unterbreitung eines Vermittlungsvorschlags erforderlichen Daten zukommen zu lassen. Das bloße Einstellen eines Stellenangebots in die Jobbörse erfüllt die gesetzliche Pflicht danach nicht.
Diese Verpflichtung gilt nach gefestigter Rechtsprechung des BAG gemäß § 165 Satz 1 SGB IX für öffentliche Arbeitgeber (vgl. BAG, Urt. v. 25.11.2021 – 8 AZR 313/20) und wird durch den 8. BAG-Senat nunmehr noch einmal entsprechend auch auf den Bereich der privaten Arbeitgeber übertragen. Denn beide Normen dienen der Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen und damit auch der Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG.
Die Entscheidung: Wann droht eine Entschädigungspflicht?
Im entschiedenen Fall klagte ein schwerbehinderter Bewerber auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Er hatte sich auf eine Stelle beworben, die an einen anderen Mitbewerber vergeben worden war. Zwar hatte die Arbeitgeberin das Stellenangebot in der Jobbörse der Bundesagentur veröffentlicht – einen Vermittlungsauftrag gegenüber der Agentur für Arbeit hatte sie jedoch nicht erteilt.
Das BAG erkannte hierin einen Verstoß gegen § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB IX, der grundsätzlich die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung (§ 22 AGG) indiziert. Allerdings wies das Gericht die Klage gleichwohl ab, da das Unternehmen nachweisen konnte, dass die Einstellungsentscheidung zugunsten des Mitbewerbers bereits vor Eingang der Bewerbung des schwerbehinderten Klägers verbindlich getroffen worden war. Letzterer hatte sich somit erst nach Abschluss des Auswahlverfahrens beworben – wobei der Umstand, dass die Stelle noch ein paar Tage länger im Internet ausgeschrieben war für das BAG dabei ohne Belang war.
Für Arbeitgeber bedeutet das: Auch bei einer formal „noch“ laufenden Ausschreibung kann eine Diskriminierung ausgeschlossen sein, wenn das Auswahlverfahren bei Bewerbungseingang des schwerbehinderten Menschen nachweislich bereits abgeschlossen ist. Diese Beweisführung erfordert jedoch eine belastbare Dokumentation des Zeitpunkts der Einstellungsentscheidung seitens des Unterehmens.
Wann ist die Pflicht zur Kontaktaufnahme erfüllt?
Nach der Entscheidung des BAG müssen Arbeitgeber einen Vermittlungsauftrag aktiv und frühzeitig bei der Bundesagentur für Arbeit einreichen. Das beinhaltet:
- Übermittlung über den vorgesehenen Kommunikationsweg, § 187 Abs. 4 SGB IX (z.B. per Formular oder Online-Maske),
- Angabe aller für die Vermittlung relevanten Daten,
- Bezug auf eine konkret zu besetzende Stelle.
Das Einstellen in die Jobbörse ist lediglich eine Veröffentlichung – nicht aber eine Aufforderung zur Vermittlung, weil dadurch nicht der Vermittlungsservice der Bundesagentur für Arbeit ausgelöst wird.
Das BAG verweist insoweit auf die Gesetzeshistorie: Die Regelung geht zurück auf § 14 SchwbG in der Fassung von 2000 und wurde in § 164 Abs. 1 SGB IX (§ 81 Abs. 1 SGB IX aF.) überführt. Ziel ist stets gewesen, der Bundesagentur eine tatsächliche Vermittlungstätigkeit zu ermöglichen – nicht nur Informationsbereitstellung.
Auswirkungen für die betriebliche Praxis
Für private Arbeitgeber ist die Tragweite dieser Entscheidung erheblich:
- Wer ohne Vermittlungsauftrag einstellt, riskiert eine Indizwirkung nach § 22 AGG – selbst, wenn keine Diskriminierung gewollt war.
- Kommt ein schwerbehinderter Bewerber zum Zug, kann der Verstoß folgenlos bleiben – wird dieser aber abgelehnt, steigt das Risiko einer Entschädigungsklage.
- Wurde nachweislich bereits vor Bewerbungseingang eine verbindliche Einstellungsentscheidung getroffen, ist die Vermutungswirkung nach § 22 AGG widerlegt.
Personalverantwortliche sollten daher jedes Stellenbesetzungsverfahren in Bezug auf schwerbehinderte Bewerber doppelt absichern:
- Formaler Vermittlungsauftrag an die Bundesagentur
- Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung genau dokumentieren
Für Unternehmen, die regelmäßig ausschreiben, empfiehlt sich zudem die Entwicklung eines Standardverfahrens zur Vermittlungsmeldung, um rechtliche Risiken zu minimieren.
Fazit: Klare Pflicht – klare Folgen
Die Entscheidung des BAG beseitigt letzte Unklarheiten: Die Pflicht zur frühzeitigen Kontaktaufnahme mit der Bundesagentur erfordert zwingend einen aktiven Vermittlungsauftrag – auch für private Arbeitgeber. Ein Verstoß kann eine Diskriminierung nach AGG indizieren, mit potenziell hohen Entschädigungsforderungen.
Unternehmen, die auf Nummer sicher gehen wollen, sollten ihre Recruiting-Prozesse anpassen und alle relevanten Schritte lückenlos dokumentieren – insbesondere den Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung.