Das Thema
Die Kernaussagen des Urteils des LAG Schleswig-Holstein vom 27.09.2022 (1 Sa 39 öD/22) lauten:
- Der Arbeitgeber kann im Rettungsdienst die Dienstpläne zunehmend konkret gestalten und sich ein Letztgestaltungsrecht innerhalb des bereits eingegrenzten Rahmens bis zum Vorabend freihalten.
- Der Arbeitnehmer muss eine letzte Gestaltung des Dienstplans außerhalb seiner Arbeitszeit nicht abfragen oder aktiv zur Kenntnis nehmen. Nimmt er diese Information nicht zur Kenntnis, beginnt der Dienst auf der Grundlage der letzten Dienstplangestaltung.
- Offen bleibt, ob er der Gestaltung folgen muss, wenn er außerhalb seiner Arbeitszeit die Weisung entgegengenommen hat.
Betriebsvereinbarung Arbeitszeit
Der Kläger war seit mehr als 20 Jahren als Notfallsanitäter bei der Beklagten tätig. Die Beklagte stellt entsprechend einer Betriebsvereinbarung Arbeitszeit (BVA) in einem genau geregelten Verfahren einen Dienstplan zusammen, der in einem gestuften Verfahren präzisiert wird. Neben den festen Einsatzzeiten sind Springer- und Rufbereitschaftseinteilungen erforderlich, um Ausfälle oder Notwendigkeiten des Einsatzdienstes zu kompensieren. Springerdienste werden zunächst als „unkonkreter“ Dienst in einem Zeitrahmen mit einem Dienstbeginn zwischen 6.00 Uhr und 9.00 Uhr geplant und können bis kurz vor dem Einsatztag konkretisiert werden auf einen bestimmten Dienstbeginn, z.B. um 6.00 Uhr. Diese Konkretisierung darf für den Folgetag am Vorabend bis 21.00 Uhr erfolgen. Erfolgt keine Konkretisierung, musste der Mitarbeiter um 7.30 Uhr antreten, bzw. (coronabedingt) sich telefonisch zum Dienst melden. Es ist für die Arbeitnehmer der Beklagten angeboten, den geltenden Dienstplan jederzeit im Internet einzusehen; eine ausdrückliche Verpflichtung besteht dazu nicht.
Der erste Fall: Keine Arbeitszeit wegen Erkrankung des Kindes
Der Kläger beendete einen Dienst am 06.04.2021 um 19.00 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt war er für den 08.04. zu einem unkonkreten Springerdienst eingeteilt. Am 07.04. erschein er wegen einer Erkrankung seines Kindes nicht zum Dienst, wurde von der Beklagten jedoch um 13:21 Uhr für den 08.04.2021 zum Tagdienst ab 6.00 Uhr eingeteilt. Die Beklagte versuchte den Kläger erfolglos auf dem privaten Mobiltelefon zu erreichen, sandte daraufhin um 13:27 Uhr eine SMS mit der Mitteilung des Dienstbeginns um 6.00 Uhr. Der Kläger behauptete, weder den Telefonanruf, noch die SMS erhalten zu haben und meldete sich um 7:30 Uhr erfolglos zum Dienst. Die Beklagte hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Rufbereitschaft alarmiert und lehnte die Dienste des Klägers für diesen Tag ab. Die Beklagte bezahlte den Arbeitstag nicht und erteilte eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens.
Der zweite Fall: Keine Arbeitszeit wegen dienstfreiem Tag
Am 15.09.2021 war der Kläger erneut zum Springer im unkonkreten Tagdienst eingeteilt. Am 14.09., einem freien Tag für den Kläger, konkretisierte die Beklagte den Einsatzbeginn für den Kläger auf 6:30 Uhr. Sie versuchte erfolglos den Kläger telefonisch zu erreichen, gefolgt von einer SMS und einer E-Mail. Der Kläger meldete sich am 15.9. um 7:30 Uhr zum Dienst und behauptete erneut die Konkretisierung nicht erhalten zu haben. Er trat den Dienst gemäß dann erteilter Weisung vor Ort um 8:26 Uhr an. Erneut bewertete die Beklagte den Dienstantritt als verspätet und erteilte eine weitere Abmahnung und kürzte die Vergütung.
Divergierende Rechtsprechung
Der Kläger klagte auf Herausnahme der Abmahnungen und Nachzahlung von Vergütung. Das ArbG Elmshorn wies die Klage mit Urteil vom 27.01.2022 (5 Ca 1023 a/21) ab, das LAG Schleswig-Holstein gab der Klage am 27.09.2022 statt (1 Sa 39 öD/22).
Ein Nachweis, dass der Kläger die telefonische Nachricht bekommen, die SMS oder die E-Mail gelesen oder auch im Internet den Dienstplan geprüft habe, war nicht möglich (ArbG R.48; LAG R.39). Die rechtlichen Konsequenzen der beiden Gerichte könnten unterschiedlicher nicht sein:
Arbeitsgericht: Nebenleistungspflicht des Klägers
Das ArbG sieht eine auf die Hauptleistungspflicht bezogene Nebenleistungspflicht, die der Vorbereitung, der ordnungsgemäßen Durchführung und der Sicherung der Hauptleistung diene und diese ergänze, sich rechtzeitig aktuelle Kenntnisse über die von ihm zu verrichtenden Dienste zu verschaffen (ArbG R.49).
Landesarbeitsgericht: SMS-Aufruf ist Arbeitsleistung
Das LAG hält fest, dass der Kläger nicht verpflichtet sei, während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen (LAG R. 44). Die Beklagte verlange eine Arbeitsleistung, die in der Freizeit nicht verlangt werden dürfe, wie sich aus dem Recht auf Unerreichbarkeit ergebe. Eine treuwidrige Zugangsvereitelung liege nicht vor. Offen könne bleiben, ob die Rechtslage anders zu beurteilen wäre, wenn der Kläger die Weisung in der Freizeit entgegengenommen hätte.
Bewertung und praktische Auswirkungen
Dem LAG ist zuzustimmen, dass in der Festlegung eines Dienstzeitbeginns grundsätzlich eine Weisung gemäß § 106 GewO zu sehen ist. Die Entgegennahme der Weisung ist auch grundsätzlich Arbeit, die dazu aufgewendete Zeit grundsätzlich Arbeitszeit. Dies gilt für den Empfang der Weisung während der Arbeitszeit des Arbeitnehmers.
Außerhalb der Arbeitszeit ist aber anerkannt, dass nicht jede Zeit zur Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis auch als Arbeitszeit bewertet werden muss. Das BAG (Urt. v. 02.11.2016 – 10 AZR 596/15, NZA 2017, 183, R. 25f m.w.N.) geht davon aus, dass es für beide Parteien des arbeitsrechtlichen Schuldverhältnisses nach § 241 BGB eine nicht abschließende, je nach den Umständen zu bestimmende Vielzahl von Nebenpflichten gibt, deren Erfüllung unumgänglich ist, um den Austausch der Hauptpflichten sinnvoll zu ermöglichen. Diese Nebenleistungspflichten dienen dazu, die Hauptleistungspflichten vorzubereiten, zu unterstützen oder die ordnungsgemäße Durchführung der Hauptleistung zu sichern. Es ist daher abzuwägen, zwischen den Möglichkeiten des Arbeitgebers und den schutzwürdigen Interessen des Arbeitnehmers.
Bezogen auf diesem Fall bedeutet dies, dass – bei einer Abwesenheit des Klägers am Vortag, gleich aus welchem Grund – die von beiden Betriebsparteien anerkanntermaßen notwendige stufenweise Präzisierung des Dienstplanes auf der Seite des Arbeitgebers abzuwägen ist gegen den Eingriff in die Freizeit des Arbeitnehmers. Auf der Seite des Arbeitnehmers ist zu berücksichtigen, dass dieser nicht den Telefonanruf auf seinem Mobiltelefon entgegennehmen muss, sondern auch über eine SMS informiert wird, die er bei Zugang der SMS oder auch später, in einem ihm passenden Moment entgegennehmen kann. Oder der Arbeitnehmer kann – unabhängig vom Erhalt der SMS – im Internet die Dienstplanung prüfen. Der jeweils darin liegende Eingriff in die Freizeit des Klägers ist gering, da die Abfrage nur wenige Sekunden dauert und Zeitpunkt und Dauer dieser Abfrage von ihm selbst gesteuert werden kann. Im Ergebnis ist der Kläger aus einer Nebenpflicht des Arbeitsvertrages, den Leistungserfolg der Arbeitsleistung zu sichern verpflichtet im Falle der Abwesenheit am Vortag und bei einer Einteilung als Springer am Folgetag die genaue Startzeit am nächsten Tag zeitgerecht abzufragen.
Die vom LAG zitierte eine Entscheidung des BAG (Urt. v. 18.03.2020 – 5 AZR 36/19, NZA 2020, 868, 870) stellt fest, dass der Weg eines Außendienstmitarbeiters zum ersten Kunden vergütungspflichtige Arbeitszeit ist. Diese Entscheidung ist jedoch für die Bewertung des vorliegenden Falles nicht maßgeblich. Der Weg zum ersten Kunden ist Arbeitszeit, weil dieser Einsatz des Mitarbeiters nicht für sich steht und nur sehr kurz dauert, sondern Teil des Besuchs des Kunden ist und Zeit und Ort der Tätigkeit selbst vom Arbeitgeber vorgegeben werden. Im Fall der Dienstplanabfrage kann dagegen der Abruf des Dienstbeginns jederzeit und von überall aus erfolgen. Die Kenntnisnahme des Arbeitsbeginns ist für die Durchführung des Rettungsdienstes erforderlich und die Intensität des Eingriffs ist weder zeitlich, noch in der Arbeitsleistung mit dem Weg zum ersten Kunden vergleichbar.
Fazit
Eine solche Nebenpflicht hat mit einer Verpflichtung dauerhaft erreichbar zu sein oder dem Recht auf Unerreichbarkeit nichts zu tun: Weder musste der Kläger den Telefonanruf entgegennehmen, noch sonst erreichbar sein. Es hätte genügt zu irgendeinem Zeitpunkt, spätestens um 21.00 Uhr des Vortages, die SMS zu prüfen oder in der Internetabfrage bei der Beklagten den Dienstbeginn abzufragen. Diese Abfrage dauert nur wenige Sekunden und kann die Freizeit nicht unterbrechen. In einer Zeit, in der die Menschen ständig in die Mobiltelefone sehen und Informationen aufnehmen, dann die Information des Arbeitgebers ausblenden zu dürfen, ist dies eine Entscheidung, die nicht nachvollziehbar ist.
Dennoch wird die Praxis davon ausgehen müssen, dass auf der Grundlage dieser Rechtsprechung Mitarbeiter generell nicht verpflichtet sind, in der Freizeit Informationen des Arbeitgebers zur Kenntnis zu nehmen. Arbeitgeber müssen sich bis zu einer endgültigen Klärung durch das BAG darauf einstellen.