Das Thema
Auch wenn in Deutschland erstellte AU-Bescheinigungen die Regel sind, kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern Atteste von im Ausland praktizierenden Ärzten vorlegen. Dies geschieht häufig in Zusammenhang mit einem Urlaubsaufenthalt. Das BAG hat in einem aktuellen Fall mit Bezug zum Nicht-EU-Ausland entschieden, welche Grundsätze für die Einordnung solcher Bescheinigungen gelten.
Grundsätze für in Deutschland erstellte Bescheinigungen
Einer in Deutschland erstellten AU-Bescheinigung kommt bekanntlich ein hoher Beweiswert zu. Normalerweise kann der Beweis, dass die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gegeben sind, als erbracht angesehen werden, wenn der Mitarbeiter eine ordnungsgemäß ausgestellte AU-Bescheinigung vorlegt bzw. das Unternehmen diese elektronisch abruft. Weitere Angaben muss der Beschäftigte nicht machen.
Dieser Beweiswert kann aber erschüttert werden. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und notfalls beweist, die Zweifel an der Erkrankung ergeben. Dabei dürfen keine überhöhten der Anforderungen an den Arbeitgeber gestellt werden, da er in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und nur in eingeschränktem Maß in der Lage ist, Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung vorzutragen.
Die Erschütterung des Beweiswertes hat nicht zur Folge, dass der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung hat, sondern lediglich, dass der Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Dem Mitarbeiter verbleibt also die Möglichkeit, die Voraussetzungen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung anders als durch eine AU-Bescheinigung darzulegen und ggf. zu beweisen.
Anders als früher erleichtert die Rechtsprechung Unternehmen mittlerweile die Erschütterung des Beweiswertes. Wesentlicher Ausgangspunkt für diese neuere Entwicklung war das Urteil des BAG vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21). Die hierauf folgende Entwicklung der Rechtsprechung wurde bereits in folgenden EFAR-Beiträgen vorgestellt:
- Entgeltfortzahlung – Teil 1: Erschütterter Beweiswert der AU-Bescheinigung
- Keine Entgeltfortzahlung bei mehr als sieben Tagen Fieber? Folgen einer falsch ausgestellten AU-Bescheinigung
- “Ich bin dann mal weg”: Wenn Kündigung und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gleichzeitig kommen
- Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen – das Ende des „hohen Beweiswerts“?
- Kranke dürfen Bahnfahren – Neues zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
- Gerichte schärfen Kriterien – Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Aktuelle BAG-Entscheidung zu einer im nicht-EU-Ausland erstellten Bescheinigung
In einem aktuellen Urteil vom 15.01.2025 (5 AZR 284/24, bisher liegt nur eine Pressemitteilung vor) hatte das BAG hingegen darüber zu entscheiden, was für eine im nicht-EU-Ausland erstellte AU-Bescheinigung gilt.
Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:
- Der Beschäftigte legte der Arbeitgeberin in den Jahren 2017, 2019 und 2020 im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinen Urlauben AU-Bescheinigungen vor.
- Vom 22.08.2022 bis zum 09.09.2022 hatte er Urlaub, den er in Tunesien verbrachte.
- Am 07.09.2022 teilte der Mitarbeiter dem Unternehmen per E-Mail mit, er sei bis zum 30.09.2022 krankgeschrieben. Beigefügt war ein Attest eines tunesischen Arztes in französischer Sprache vom 07.09.2022. Laut diesem habe der Arzt den Kläger untersucht, dieser leide an „schweren Ischialbeschwerden” im engen Lendenwirbelsäulenkanal, benötige 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.09.2022 und dürfe sich während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen.
- Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Arbeitnehmer am 08.09.2022 ein Fährticket für den 29.09.2022. An diesem Tag reiste er mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück.
- Danach legte der Beschäftigte der Arbeitgeberin eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 04.10.2022 vor. Darin wurde ihm Arbeitsunfähigkeit bis zum 08.10.2022 bescheinigt.
- Auf Monieren des Unterehmens, dass es sich bei dem Attest vom 07.09.2022 nicht um eine AU-Bescheinigung handele, legte der Mitarbeiter eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17.10.2022 vor. Darin bescheinigte der Arzt, den Arbeitnehmer am 07.09.2022 untersucht zu haben. Weiter heißt es: „Er hatte eine beidseitige Lumboischialgie, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis zum 30/09/2022 erforderlich machte.“
- Die Arbeitgeberin lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung für September 2022. Diese Vergütung machte der Kläger geltend.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das LAG München (Urt. v. 16.05.2024 – 9 Sa 538/23) änderte das Urteil ab und verurteilte die Arbeitgeberin zur Zahlung.
Ernsthafte Zweifel am Beweiswert in der Gesamtschau
Das BAG hat das Urteil des LAG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückzuverweisen. Dies hat das Gericht wie folgt begründet:
Das LAG hat zwar laut BAG im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass einer AU-Bescheinigung, die im Nicht-EU-Ausland ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt, wenn sie erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat.
Der Beweiswert einer solchen im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Bescheinigung kann jedoch erschüttert sein, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Umstände vorliegen, die zwar für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, in der Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung begründen. Insoweit gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten AU-Bescheinigung.
Diese rechtlich gebotene Gesamtwürdigung hat das LAG nach Ansicht des BAG unterlassen, sondern die von der Arbeitgeberin vorgetragenen tatsächlichen Umstände nur als jeden Aspekt einzeln und isoliert betrachtet. In der Gesamtschau begründen die einzelnen Umstände des Falles laut BAG jedoch, selbst wenn man sie – wie das LAG – jeweils für sich betrachtet als unverfänglich ansehen wollte, ernsthafte Zweifel am Beweiswert der AU-Bescheinigung.
Das hat zur Folge, dass nunmehr der Beschäftigte die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit trägt. Das LAG wird nunmehr hierzu (also nicht mehr zum Beweiswert) weiter zu verhandeln und zu entscheiden haben.
Exkurs: Grundsätze bei einer im EU-Ausland erstellten Bescheinigung?
Die sich danach zwangsläufig aufdrängende Frage lautet: Gilt dasselbe auch für im EU-Ausland erstellte AU-Bescheinigungen? In der Entscheidung stellt das BAG ausdrücklich auf im Nicht-EU-Ausland ausgestellte Bescheinigungen ab.
Der vom BAG aktuell entschiedene Fall erinnert, wie einige Stimmen etwa in der Literatur (vgl. Bauer FD-ArbR 2025, 802319) zu Recht anmerken, an den berühmten vom BAG und EuGH entschiedenen Paletta-Fall aus den 1990er Jahren (BAG, Urt. v. 19.2.1997 – 5 AZR 747/93, im Anschluss an EuGH, Urt. v. 03.06.1992 – C-45/90 – Paletta I; siehe danach auch BAG, Beschl. v. 27.04.1994 – 5 AZR 747/93 (A) und im Anschluss EuGH, Urt. v. 02.05.1996 – C-206/94 – Paletta II; sodann BAG, Urt. v. 19.02.1997 – 5 AZR 747/93). Diese Rechtsprechung legte die Grundsätze für im EU-Ausland ausgestellte AU-Bescheinigungen fest.
Und diese sind für Unternehmen strenger. Es gelten danach nicht die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland bzw. einer im Nicht-EU-ausland ausgestellten AU-Bescheinigung. Denn es dazu reicht nicht aus, dass der Arbeitgeber Umstände beweist, die nur zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Vielmehr trägt er die Beweislast dafür, dass der Mitarbeiter nicht arbeitsunfähig krank war. Mit den Worten des EuGH und BAG ist es Unternehmen nicht verwehrt, Nachweise zu erbringen, anhand deren das Gericht ggf. feststellen kann, dass der Beschäftigte missbräuchlich oder betrügerisch eine Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein. Allerdings hat das BAG den Arbeitgeber nicht darauf beschränkt, den Beweis dafür unmittelbar, etwa durch Vernehmung des Arztes, führen zum müssen, sondern – entsprechend den allgemeinen Beweisregeln – auch einen Indizienbeweis, also einen Beweis über (Hilfs)Tatsachen, aus denen auf das Vorliegen der zu beweisenden rechtserheblichen Tatsache zu schließen ist, als zulässig angesehen. Auch im Rahmen seiner Ausführungen zur freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO hat das BAG versucht, es ihm zu ermöglichen, seiner Beweislast nachzukommen. Jedenfalls im konkreten Paletta-Fall hatte dies dem Arbeitgeber im Ergebnis seinerzeit auch geholfen (vgl. LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 09.05.2000 – 10 Sa 85/97).
Es wird infrage gestellt, ob diese strengeren Grundsätze für im EU-Ausland ausgestellten AU-Bescheinigungen auch weiterhin gelten. Laut einigen Stimmen in der Literatur spreche weiterhin für die strengen Grundsätze, dass die zugrundeliegenden europäischen Regelungen mittlerweile zwar abgelöst worden seien (statt EWG-VO Nr. 1408/71 nunmehr VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. der VO (EG) Nr. 987/2009), sich an den wesentlichen Verfahrensregelungen inhaltlich aber nichts geändert habe. Dagegen könne man jedoch anführen, dass die im Ausland ausgestellte Bescheinigung nunmehr (nur) dieselbe Rechtsgültigkeit wie eine im zuständigen Mitgliedstaat ausgestellte AU-Bescheinigung hat (vgl. Art. 27 Abs. 8 VO (EG) Nr. 987/2009). Damit wäre der Weg für differenzierende nationale Betrachtung offen (vgl. zum Vorstehenden ErfK/Reinhard, 25. Aufl. 2025, EFZG § 5 Rn. 28; Schaub ArbR-HdB/Linck, 20. Aufl. 2023, § 98. Rn. 114; MüKoBGB/Müller-Glöge, 9. Aufl. 2023, EFZG § 3 Rn. 84). Es ist also durchaus möglich, dass die Rechtsprechung künftig annimmt, dass auch für eine im EU-Ausland ausgestellte AU-Bescheinigung die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung gelten.
Fazit und Einordnung
Mit der neuen Entscheidung bestätigt das BAG seine schon etwas ältere Rechtsprechung (BAG, Urt. v. 20.02.1985 – 5 AZR 180/83; v. 19.02.1997 – 5 AZR 83/96; vgl. auch LAG Hamm, Urt. v. 08.06.2005 – 18 Sa 1962/04). Auch weiterhin gilt, dass für eine im Nicht-EU-Ausland ausgestellte AU-Bescheinigung die gleichen Grundsätze wie bei einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung gelten. Einzige zusätzliche Voraussetzung ist, dass sie erkennen lassen muss, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat.
Da die neuere Rechtsprechung dem Arbeitgeber die Erschütterung des Beweiswertes mittlerweile erleichtert, gilt dies also auch für im Nicht-EU-Ausland ausgestellte AU-Bescheinigungen. Der vom BAG entschiedene Fall mit der vom Gericht angenommenen Erschütterung des Beweiswertes ist ein anschauliches Beispiel hierfür.
Das BAG hat in der aktuellen Entscheidung nicht entschieden und nichts dazu ausgeführt sowie auch nicht ausführen müssen (jedenfalls ausweislich der Pressemitteilung), welche Grundsätze bei einer im EU-Ausland ausgestellten AU-Bescheinigung gelten. Nach der in den 1990er Jahren ergangenen Rechtsprechung sind die Grundsätze hier strenger. Es reicht bisher nicht aus, dass der Arbeitgeber Umstände beweist, die nur zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Vielmehr trägt er bislang die Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig krank war. Es ist derzeit offen, ob die Rechtsprechung künftig hieran etwas ändern wird. Es wäre begrüßenswert, wenn sich das BAG in den bisher nicht veröffentlichten Urteilsgründen seiner aktuellen Entscheidung auch dazu nebenbei – in einem sog. obiter dictum – äußern würde, was allerdings nicht ohne Weiteres erwartet werden kann.