Das Thema
Das Resultat der Unsicherheit: Ein umfangreicher und nicht leicht überschaubarer Kriterienkatalog, der durch Einzelfallentscheidungen der berufenen Gerichte immer wieder fortentwickelt und bisweilen abgewandelt wird. So auch in der diesem Beitrag zugrundeliegenden Entscheidung des BSG vom 24.10.2023 (B 12 R 9/21 R).
Schichtdienst in Räumen der KZV
Der Kläger, ein Zahnarzt aus Baden-Württemberg, verkaufte im Jahr 2017 seine Praxis und gab seine Zulassung zur vertragszahnärztlichen Versorgung auf. In den Jahren 2018 und 2019 war er an bestimmten Tagen für die Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KZV) im Rahmen des Notdienstes überwiegend am Wochenende in durch die KZV angemieteten und von dieser (technisch) ausgestatteten Räumlichkeiten tätig. Organisatorisch lag der Tätigkeit eine Notfalldienstordnung der KZV zugrunde, auf deren Grundlage (in Ansehung der vom Kläger übermittelten Wünsche) eine Schicht- bzw. Dienstplanung vorgenommen wurde. Der Kläger erhielt an Abhängigkeit der verrichteten Schichten eine Vergütung, deren Höhe sich pro Stunde zwischen 34 und 50 Euro bewegte und sich im Jahr 2018 insgesamt auf 9.651 Euro und im Jahr 2019 auf 3.290 Euro summierte.
Nachdem die KZV den Kläger (es war in der Zwischenzeit zu gewissen „Unstimmigkeiten“ gekommen) nicht mehr zu weiteren Notdiensten einsetzte, klagte dieser zunächst vor dem Arbeitsgericht auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses und damit verbundene Leistungen. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, weil der Kläger einer selbstständigen Tätigkeit nachgegangen sei, die hiergegen gerichtete Berufung blieb erfolglos.
Eingliederung oder Weisungsabhängigkeit?
Ähnlich erging es dem Kläger in der Folge vor den Sozialgerichten: Sowohl in erster als auch in zweiter Instanz stellten die Gerichte fest, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund zurecht das Vorliegen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses verneint habe, sodass keine Versicherungspflicht in den entsprechen Sozialversicherungszweigen bestanden habe. Das LSG betonte, dass das dem zahnärztlichen Notdienst zugrundeliegende Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und der KZV nahezu vollständig durch öffentlich-rechtliche Normen geprägt sei und weder eine Eingliederung in einen fremden Betrieb noch eine Weisungsabhängigkeit festgestellt werden könne.
Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers war vor dem BSG erfolgreich. Der 12. Senat hat entschieden, dass der Kläger während der einzelnen Dienste im Rahmen des vertragszahnärztlichen Notdienstes im oben genannten Zeitraum gegen Arbeitsentgelt abhängig beschäftigt und deshalb in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung versicherungspflichtig war.
Die Entscheidung des BSG
Das BSG referiert zu Beginn seiner Entscheidungsgründe – in Übereinstimmung mit seiner ständigen Rechtsprechung – den tradierten Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer Beschäftigung im Sinne der Sozialversicherung gemäß § 7 Abs. 1 SGB IV. Die Norm setze voraus, dass der Arbeitnehmer von der Arbeitgeberin persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb sei dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht der Arbeitgeberin unterliegt.
Diese Weisungsgebundenheit könne – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur “funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess” verfeinert sein. Demgegenüber sei eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch
- das eigene Unternehmensrisiko,
- das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte,
- die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und
- die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit
gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richte sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und hänge davon ab, welche Merkmale überwiegen.
Einzelfallcharakter des Urteils
Sodann stellt der 12. Senat fest, dass eine an diesen Maßstäben orientierte Abgrenzung nicht abstrakt entlang bestimmter Berufs- und Tätigkeitsbilder vorgenommen werden könne, sondern nur anhand der konkreten Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen sowie der innerhalb von diesen gelebten Praxis. Es könne also durchaus vorkommen, dass ein und derselbe Beruf – von Fall zu Fall – entweder im Rahmen abhängiger Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt werden könne. Insoweit betont das BSG nachdrücklich den Einzelfallcharakter seines Urteils, denn es sei gerade nicht auszuschließen, „dass die ärztliche Tätigkeit in einem auf andere Art und Weise betriebenen Notdienst einer anderen Statuszuordnung zugänglich ist.“ Der Senat erkennt zwar an, dass in der Berufspraxis ein Bedürfnis nach „allgemeingültigen“ Aussagen bestehe, verweist jedoch zugleich darauf, dass stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts maßgeblich seien.
Dem schließt sich eine weitere „schlechte Botschaft“ an die Praxis an, wenngleich sich auch dahinter keine wirkliche Neuigkeit verbirgt:
„Es besteht kein vollständiger Gleichklang des arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs mit dem Beschäftigtenbegriff nach § 7 SGB IV.“
Während grundsätzlich eine Beschäftigung vorliege, wenn ein Arbeitsverhältnis besteht, könne umgekehrt eine Beschäftigung (im sozialversicherungsrechtlichen Sinne) auch dann ausgeübt werden, wenn kein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist. Hintergrund dieser Aussage sind divergierende gesetzliche Konzeptionen von Arbeitsrecht (Betonung der privatautonomen Entscheidung der Vertragsparteien) einerseits und Sozialversicherungsrecht (kollektiver Schutz der Mitglieder der Pflichtversicherungssysteme im Sinne einer Solidargemeinschaft) andererseits.
Eingliederung in die organisierten Abläufe
Im Folgenden subsumiert der 12. Senat die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten unter Zugrundelegung der ausgeführten Maßstäbe und konstatiert, dass insbesondere eine Eingliederung des Klägers in die von der KZV organisierten Abläufe erfolgt sei, ohne dass dem Kläger unternehmerische Einflussnahme möglich gewesen wäre. Die bloße Vorgabe von Zeit und Ort der Dienstleistung sei insoweit zwar nicht entscheidend (der Kläger konnte frei entscheiden, ob er das Angebot zur Übernahme dieser Tätigkeit an einem bestimmten, zeitlich und örtlich fixierten Termin annehmen wollte oder nicht), die Eingliederung sei vielmehr dadurch erkennbar, dass der Kläger auf die Ausgestaltung der Organisation des Notdienstes „keinen substantiellen, erst recht keinen unternehmerischen Einfluss“ gehabt habe. Der äußere Rahmen der Tätigkeit (insbesondere Räumlichkeiten, Ausstattung, Gerätschaften, weitere Hilfskräfte) sei dem Kläger umfassend vorgegeben gewesen, ohne dass er „das Verhältnis von Aufwand und Ertrag durch eigene (unternehmerische) Entscheidungen zu seinen Gunsten hätte verändern können“.
Auch die Möglichkeit, Schichten im Einzelfall zu tauschen, falle angesichts der hiermit verbundenen organisatorischen Einschränkungen nicht entscheidend ins Gewicht. Auch aus einem Vergleich mit der Eingliederung von Honorarärzten im Krankenhaus (hierzu hatte das BSG bereits vor einigen Jahren entschieden) lasse sich nichts anderes ableiten, da eine Eingliederung ohne Weiteres auch bei „weniger komplexen und kooperationspflichtigen Abläufen“ angenommen werden könne. Schließlich sprächen auch der feste Lohn für geleistete Einsatzstunden sowie das fehlende Risiko von Verdienstausfall gegen die Annahme von Selbstständigkeit.
Bewertung und Bedeutung für die Praxis
Die dargestellte Entscheidung des BSG bewegt sich juristisch auf bekanntem Terrain und zeigt zunächst einmal erneut, dass bei der Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit ein verlässlicher „Gleichlauf“ zwischen Arbeits- und Sozialversicherungsrecht nicht (mehr) existiert. Der Grund hierfür liegt, wie oben geschildert, in unterschiedlichen Zweckrichtungen der jeweiligen Rechtsgebiete und ist dogmatisch an sich gut nachvollziehbar. Gleichwohl wird jeder (Einzel-)Fall, der zu unterschiedlichen Ergebnissen und daran anknüpfenden (bisweilen belastenden) Rechtsfolgen führt, die Verunsicherung in der Praxis weiter befeuern.
Dementsprechend haben auch öffentlich getätigte und medial breit gestreute Reaktionen infolge der Urteilsverkündung im Oktober des vergangenen Jahres gezeigt, dass der gerichtliche Hinweis auf den „Einzelfallcharakter“ der Entscheidung nur vergleichsweise wenig Beruhigungspotential bieten konnte. Während der 12. Senat nämlich durch seinen Vorsitzenden, Vizepräsident des BSG Heinz, verkünden ließ, dass aus der Entscheidung nicht zwangsläufig landes- oder bundesweite Konsequenzen entstehen müssten, reagierten ärztliche Organisationen über Landesgrenzen hinweg nervös und verwiesen u.a. darauf, dass sich unter den bestehenden Rahmenbedingungen und der Voraussetzung abhängiger Beschäftigung ausreichendes Personal zur Abdeckung der Notdienste nicht mehr finden lassen werde.
Bemerkenswert erscheint in eben diesem Zusammenhang, dass im Bundesrat bereits Mitte des vergangenen Jahres, und damit im Vorfeld der BSG-Entscheidung, eine Initiative zur Einführung einer Ausnahme von der Sozialversicherungspflicht für den ärztlichen Bereitschaftsdienst (als Änderung des bestehenden § 23c SGB IV) erwogen und vorgeschlagen wurde, welche die vorgenannten Bedenken der Ärzteschaft in der Begründung reflektiert (BR-Drs. 166/23, S. 2). Bislang ist der Vorschlag nicht weiter aufgegriffen worden. Es bleibt abzuwarten, ob und wann der Gesetzgeber hier (wieder) tätig wird.