79 Tage Jahresurlaub nicht genommen
Ein Beschäftigter des öffentlichen Dienstes übte von Februar 1992 bis Oktober 2016 bei der Gemeinde Copertino, Italien, die Tätigkeit eines „Technischen Leiters für öffentliche Bauvorhaben“ aus. Mit einem an die Gemeinde Copertino gerichteten Schreiben vom 24.03.2016 schied dieser Beschäftigte auf eigenen Wunsch aus dem Dienstaus, um ab dem 01.10.2016 in den vorzeitigen Ruhestand einzutreten. Er begehrte die Feststellung eines Anspruchs auf finanzielle Vergütung bezahlten Jahresurlaubs von 79 Tagen, den er während der Dauer der Beschäftigung nicht genommen hatte. Die Gemeinde erwiderte, dass er sich seiner Verpflichtung, seinen Resturlaub zu nehmen, bewusst gewesen sei und dass der Resturlaub nicht abgegolten werden könne. Dazu stützt sie sich auf die Regelung im italienischen Recht, wonach Arbeitnehmer im Bereich der öffentlichen Verwaltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses keinesfalls einen Anspruch auf finanzielle Vergütung des nicht genommenen Jahresurlaubshaben. Die Auslegung der italienischen Bestimmung durch die italienischen Gerichte erlaubt die Abgeltung von Jahresurlaub nur für diejenigen Fälle, in denen eine Inanspruchnahme des Urlaubs aus Gründen unterblieben ist, die der Arbeitnehmer nicht zu vertreten hat (z. B. Krankheit).
Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie?
Das mit der Sache befasste Gericht Lecce hat Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der italienischen Regelung mit der Arbeitszeitrichtlinie und möchte daher vom Gerichtshof wissen, ob diese Richtlinie eine solche nationale Regelung verbietet und, wenn nicht, ob der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber den Nachweis dafür zu erbringen hat, dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.
GenA EuGH: Mitgliedstaaten dürften Voraussetzungen festlegen
In ihren Schlussanträgen führt die Generalanwältin Tamara Ćapeta aus, dass es sich bei der finanziellen Vergütung nicht um ein eigenständiges, den Arbeitnehmern durch die Arbeitszeitrichtlinie verliehenes Recht handele (Schlussanträge v. 08.06.2023 – C‑218/22; Pressemitteilung des EuGH v. 08.06.2023). Nur für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis beendet werde, lasse die Arbeitszeitrichtlinie zu, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub durch eine finanzielle Vergütung abgegolten werde. Die Mitgliedstaaten dürften jedoch Voraussetzungen für die Ausübung des Anspruchs auf Jahresurlaub festlegen, um darauf hinzuwirken, dass der Jahresurlaub tatsächlich genommen werde. Der Vorrang der tatsächlichen Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs gegenüber dessen Abgeltung sei durch den Zweck des bezahlten Jahresurlaubs gerechtfertigt, der im Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer bestehe, indem die Möglichkeit eröffnet werde, sich von der Arbeit zu erholen. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur weist Generalanwältin Ćapeta darauf hin, dass die tatsächliche Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ein wichtiges Mittel für Arbeitnehmer sei, um ihre geistige und körperliche Energie wiederherzustellen sowie, allgemeiner, zu ihrer Gesundheit innerhalb und außerhalb des beruflichen Umfelds beizutragen.
Alles in allem stehe die Arbeitszeitrichtlinie im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht immer dem Wegfall nicht genommenen Jahresurlaubs entgegen. Habe der Arbeitnehmer seinen bezahlten Jahresurlaub aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht genommen, nachdem er in die Lage versetzt worden sei, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, stehe die Arbeitszeitrichtlinie dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – auch dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung nicht entgegen. Die Mitgliedstaaten dürften daher die tatsächliche Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs anstelle von dessen Abgeltung fördern.
Abgeltungsverbot unter bestimmten Voraussetzungen möglich
Schließlich ist Generalanwältin Ćapeta der Auffassung, dass die Arbeitszeitrichtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehe, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Abgeltungsverbot für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub vorsehe, sofern folgende Voraussetzungen erfüllt seien. Erstens könne sich das Abgeltungsverbot nicht auf den Urlaubsanspruch erstrecken, der in dem Bezugsjahr erworben worden sei, in dem die Beendigung der Tätigkeit erfolge. Zweitens müsse der Arbeitnehmer in den vorangegangenen Bezugsjahren einschließlich des Mindestübertragungszeitraums tatsächlich in die Lage versetzt worden sein, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Drittens müsse der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu angehalten haben, den Jahresurlaub zu nehmen. Viertens müsse der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mitgeteilt haben, dass nicht genommener bezahlter Jahresurlaub nicht angesammelt werden könne, um durch eine finanzielle Vergütung im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ersetzt zu werden.
Nach Ansicht von Generalanwältin Ćapeta ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob das italienische Recht in diesem Sinne ausgelegt werden könne und ob die aufgeführten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt seien.
Hinsichtlich der Beweislast vertritt Generalanwältin Ćapeta die Auffassung, dass sie nicht der Arbeitnehmer trage, sondern der Arbeitgeber. Nach der Arbeitszeitrichtlinie habe der Arbeitgeber nachzuweisen, dass er den Arbeitnehmer in die Lage versetzt und dazu angehalten habe, den Urlaub zu nehmen, dass er ihm mitgeteilt habe, dass die Abgeltung im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich sein werde, und dass sich der Arbeitnehmer dennoch dafür entschieden habe, den Jahresurlaub nicht zu nehmen.