Das Thema
Mindestens 54 Stunden am Stück arbeitsfrei pro Woche – für viele Berufstätige hierzulande mag dies der Regelfall sein. In bestimmten Branchen aber ist ein freies Wochenende nicht selbstverständlich. Das deutsche Arbeitszeitrecht geht von einer 6-Tage-Woche aus und gewährt wöchentlich 35 Stunden Ruhezeit am Stück, wobei Tarifverträge gelegentliche Kürzungen vorsehen dürfen. Kürzungen sind etwa in der Eisenbahnbranche bei auswärtigen Ruhezeiten nicht unüblich. Ein Lokführer aus Ungarn hat nun aufgrund der Ruhezeitregelung seines Arbeitgebers ein Urteil des EuGH erwirkt, mit dem sich der nachfolgende Beitrag auseinandersetzt.
Der Rechtsrahmen der Arbeitszeitrichtlinie
Die europarechtliche Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung) differenziert zwischen
- täglicher (Art. 3) und
- wöchentlicher (Art. 5) Ruhezeit.
Demnach haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen dafür zu treffen, dass jedem Arbeitnehmer eine Mindestruhezeit von 11 Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum gewährt wird sowie zusätzlich eine Mindestruhezeit von 24 Stunden pro Siebentageszeitraum. Es muss demnach in einer Woche einen mindestens 35 Stunden langen Zeitraum geben, in dem nicht gearbeitet wird.
Die Entscheidung
Die aktuelle Entscheidung des EuGH (Urt. v. 02.03.2023 – C-477/21) hat ein Vorabentscheidungsersuchen eines ungarischen Gerichts zum Gegenstand, das sich im Rahmen einer arbeitsrechtlichen Streitigkeit eines Lokführers mit seinem Arbeitgeber die Frage gestellt hatte, ob die tägliche Ruhezeit als Bestandteil der wöchentlichen Ruhezeit begriffen werden könne, wenn die europarechtliche Mindestvorgabe (35 Stunden am Stück) eingehalten wird.
Das ungarische Recht gewährt eine tägliche Mindestruhezeit von 11 Stunden sowie zwei wöchentliche Ruhetage. Der auf das Arbeitsverhältnis anwendbare Tarifvertrag gewährt Lokführern sogar eine tägliche Mindestruhezeit von 12 Stunden. Weiter sind nach dem Tarifvertrag die beiden gesetzlich vorgeschriebenen wöchentlichen Ruhetage zusammenhängend zu gewähren. Die wöchentliche Ruhezeit beträgt somit mindestens 42 Stunden, durchschnittlich aber 48 Stunden.
Der EuGH hat auf die Vorlage geurteilt, dass die europarechtlich determinierte tägliche und wöchentliche Ruhezeit zwei unterschiedliche Schutzbereiche betreffen:
- Sinn und Zweck der täglichen Ruhezeit sei es, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich für eine bestimmte Zeit aus seiner Arbeitsumgebung zurückzuziehen.
- Die wöchentliche Ruhezeit ziele demgegenüber auf Ruhe und Erholung ab.
Folglich sei den Arbeitnehmern die tatsächliche Inanspruchnahme beider autonomen Rechte nebeneinander zu gewährleisten. Da die Arbeitszeitrichtlinie lediglich Mindestvorgaben für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung vorgebe, von dem die Mitgliedstaaten zu Gunsten der Arbeitnehmer abweichen dürfen, befreie eine nationale Regelung, die eine sehr umfangreiche wöchentliche Ruhezeit regele, den Arbeitgeber nicht von seiner Pflicht, zusätzlich noch die tägliche Ruhezeit zu gewähren.
Schließlich sei die tägliche Ruhezeit nach jeder Arbeitsperiode zu gewähren und zwar unabhängig davon, ob sich eine Arbeitsperiode anschließe oder nicht. Die tägliche Ruhezeit gelte mithin auch dann, wenn sich Urlaub anschließe, weil das Recht hierauf andernfalls ausgehöhlt werde.
Praxistipp
Deutschland setzt die EU-Vorgabe zur täglichen Ruhezeit im Arbeitszeitgesetz in § 5 Abs. 1 sowie die der wöchentlichen Ruhezeit in seinem § 9 Abs. 1 zur Sonn- und Feiertagsruhe um. Mitarbeiter dürfen demnach an Sonntagen grundsätzlich nicht beschäftigt werden. Wird ein Mitarbeiter ausnahmsweise an einem Sonntag (oder einem Feiertag) beschäftigt, muss ihm hierfür nach § 11 Abs. 3 ArbZG ein Ersatzruhetag gewährt werden. Gemeint ist nach der Auslegung des BAG ein voller, arbeitsfreier Kalendertag (00:00 Uhr bis 24:00 Uhr). Absatz 4 regelt sodann den Grundsatz, dass die Sonntags- (bzw. Feiertags-)ruhe, mithin die wöchentliche Ruhezeit unmittelbar in Verbindung mit der täglichen Ruhezeit zu gewähren ist.
Vorbehaltlich arbeitnehmerfreundlicher Einzel- und Kollektivvereinbarungen besteht nach dem Arbeitszeitgesetz, welches lediglich die europarechtlichen Mindestvorgaben umsetzt und nicht über sie hinausgeht, kein Raum für ein dem ungarischen Rechtsstreit entsprechendes Verfahren. Hierzulande ist das Urteil trotzdem relevant, denn es legt fest, dass Ruhezeiten auch zu gewähren sind, wenn sich eine arbeitsfreie Phase wie Urlaub anschließt. Wer Arbeitnehmer im Ausland beschäftigt, ist zur Einhaltung des jeweiligen internationalen Arbeitszeitgesetzes verpflichtet. Das ungarische Beispiel zeigt solchen Arbeitgebern die Notwendigkeit auf, die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften zu kennen, und sich nicht darauf zu verlassen, mit der Einhaltung des Mindeststandards stets richtig zu liegen. Schließlich ist das Urteil auch vor dem Hintergrund der angekündigten Novelle des Arbeitszeitgesetzes beachtlich, denn es lässt erkennen, dass eine Abkehr von des strengen Ruhezeitregelungen selbst vor dem Hintergrund der Etablierung neuer Arbeitsmodelle vorerst nicht in Aussicht ist.