Das Thema
Gemäß der Regelung des § 168 SGB IX müssen Arbeitgeber, die die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen beabsichtigen, zuvor die Zustimmung des Integrationsamts einholen. Das Zustimmungserfordernis gilt gleichermaßen, wenn ein Mitarbeiter einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist. Die Schwerbehinderung ist gegeben, wenn der Mitarbeiter einen Grad der Behinderung von mindestens 50 aufweist. Eine Gleichstellung bedarf hingegen einer behördlichen Feststellung und kommt ab einem Grad der Behinderung von 30 in Betracht. Liegt die Zustimmung des Integrationsamts nicht vor, gilt die Kündigung nach § 134 BGB als nichtig. Auch beginnt die Präklusionsfrist nach § 4 KSchG nicht zu laufen.
Doch dies ist nicht die einzige vom Arbeitgeber zu beachtende Rechtsfolge. Gegebenenfalls kann infolge der unterlassenen Beteiligung des Integrationsamts ein Diskriminierungsvorwurf drohen und damit einhergehend eine auf § 15 Abs. 2 AGG gestützte Entschädigungsklage des entlassenen Mitarbeiters.
Mit einem solchen Fall hatte sich im vergangenen Jahr das Bundesarbeitsgericht zu befassen, dessen Urteil vom 2. Juni 2022 (Az. 8 AZR 191/21) nachfolgend erläutert wird.
Zustimmung des Integrationsamts nicht abgefragt: Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG?
Der Kläger war bei der Beklagten als Hausmeister an einer Grundschule beschäftigt. Die Beschäftigung erfolgte auf Grundlage eines zwischen dem Beklagten und der Stadt geschlossenen „Vertrages über eine Personengestellung“. Seit dem 11. Februar 2018 war der Kläger arbeitsunfähig, denn er erlitt an diesem Tag einen Schlaganfall, in dessen Folge er mit halbseitiger Lähmung intensivmedizinisch betreut werden musste. Darüber informierte die Betreuerin des Klägers die Beklagte am 12. Februar 2018 und teilte mit, wegen der Lähmung sei nicht absehbar, wann der Kläger wieder arbeiten könne. Zwei Tage später, am 14. Februar 2018, kündigte die Stadt der Beklagten schriftlich den Vertrag, der Grundlage für die Beschäftigung des Klägers war, woraufhin die Beklagte rund sechs Wochen später das bestehende Arbeitsverhältnis mit dem Kläger kündigte. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage. Das Verfahren endete durch Vergleich.
Parallel erhob der Kläger Zahlungsklage gegen die Beklagte und vertrat die Auffassung, ihm stehe eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu, weil ihn die Beklagte aufgrund seiner Schwerbehinderung diskriminiert habe. Denn die Beklagte habe vor Ausspruch der Kündigung nicht die Zustimmung des Integrationsamts nach § 168 SGB IX eingeholt. Allerdings lag dem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung weder ein Nachweis über eine Schwerbehinderung des Klägers vor noch war der entsprechende Antrag vom Kläger gestellt.
Der Antrag und die darauf rückwirkende behördliche Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers erfolgten erst am 17. Oktober 2018. Der Kläger hat im Gerichtsverfahren die Auffassung vertreten, die bereits zum Kündigungszeitpunkt bestehende Schwerbehinderung sei für die Beklagte aufgrund der ihr vorliegenden Information über seinen Schlaganfall und seine halbseitige Lähmung „offensichtlich“ gewesen.
BAG sieht keinen Entschädigungsanspruch nach dem AGG
Nachdem bereits die Vorinstanzen zugunsten der beklagten Arbeitgeberin geurteilt hatten, hat auch die Revision dem Kläger nicht zu Erfolg verholfen.
Das Bundesarbeitsgericht hat geurteilt, dass dem Kläger kein Entschädigungsanspruch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zusteht, da er einen Verstoß des Arbeitgebers gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot nicht ausreichend dargelegt habe.
Zwar habe der Kläger eine Benachteiligung erfahren. Die Benachteiligung beruhe jedoch nicht auf seiner Behinderung. Zwar bedürfe es für die Frage, ob ein Mensch eine Behinderung vorweise, keiner behördlichen Anerkennung, sondern der Status als schwerbehinderter Mensch beginne grundsätzlich bereits im Zeitpunkt der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen.
Die Sonderkündigungsschutznorm nach § 168 SGB IX knüpfe dahingegen an die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. die Antragstellung bei der Behörde an. Ein Nachweis hierüber sei nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung nur dann entbehrlich, wenn sich die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch „gleichsam aufdränge“. Hierfür müsse der Arbeitgeberin die Schwerbehinderung, also nicht nur das Vorliegen einer Behinderung, sondern auch der Grad der Behinderung von mindestens 50, im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung „offensichtlich“ oder „offenkundig“ sein. Dies habe der Kläger vorliegend nicht ausreichend dargetan.
Allein aus dem Umstand, dass der Kläger einen Schlaganfall erlitten und eine halbseitige Lähmung erfahren habe, folge nicht, dass für der Beklagte im Kündigungszeitpunkt das Vorliegen des Grades der Behinderung von mindestens 50 offensichtlich war. Hierfür hätte der Kläger weitere Indizien vorbringen müssen.
Zustimmung des Integrationsamtes vor Ausspruch einer Kündigung gegenüber schwerbehinderten Mitarbeiter unerlässlich
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts sollte Arbeitgebern erneut in Erinnerung rufen, dass die Beachtung des behördlichen Zustimmungserfordernisses vor Ausspruch einer Kündigung gegenüber einem schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeiter unerlässlich ist. Ist die Schwerbehinderung offensichtlich, was etwa dann der Fall sein dürfte, wenn der Mitarbeiter vollständig erblindet oder gehörlos ist, hat der Arbeitgeber das Integrationsamt auch dann um Zustimmung zur Kündigung zu ersuchen, wenn ihm die Schwerbehinderung durch den Mitarbeiter bislang nicht nachgewiesen ist.
Die Entscheidung verdeutlicht auch, dass die unterlassene Anrufung des Integrationsamts vor einer Kündigung nicht unmittelbar einen Diskriminierungsvorwurf begründet. Sicher ist: Arbeitgeber dürfen Mitarbeiter und Bewerber nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Verstößt der Arbeitgeber in Kenntnis der Schwerbehinderung oder Gleichstellung gegen das Zustimmungserfordernis nach § 168 SGB IX, dann löst dies zwar in der Regel die Beweislastumkehr nach § 22 AGG aus. Nach dieser Regelung wird die (Mit-)Ursächlichkeit der Schwerbehinderung für eine benachteiligende Behandlung, also die Kündigung, des Arbeitgebers vermutet, wenn der Mitarbeiter hierfür ausreichende Indizien vorbringt.
Der Arbeitgeber hat diese Vermutung sodann zu widerlegen, indem er darlegt und beweist, dass die Benachteiligung nicht aufgrund der Schwerbehinderung oder Gleichstellung erfolgte. Hätte der Kläger im hier besprochenen Fall ausreichend Indizien für eine Diskriminierung vorgetragen, hätte die Beklagte immer noch die Möglichkeit gehabt, sich zu entlasten.