Das Thema
Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO wird vermutet, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch dringende betriebliche Erfordernisse i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG, die einer Weiterbeschäftigung im Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen, bedingt ist, wenn eine Betriebsänderung i.S.v. § 111 BetrVG geplant ist und zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande kommt, in dem der Arbeitnehmer namentlich bezeichnet ist. Wenn und soweit sich der Insolvenzverwalter zur Begründung einer betriebsbedingten Kündigung sodann auf die Vermutungsregel des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO beruft, muss er deren tatbestandliche Voraussetzungen darlegen und ggf. beweisen (BAG, Urt. v. 17.11.2005 – 6 AZR 118/05).
Der Fall
Das BAG hatte mit Urteil vom 17.08.2023 (6 AZR 56/23) darüber zu entscheiden, ob im vorliegenden Fall die Tatbestandsvoraussetzungen des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO erfüllt waren, insbesondere ob im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs eine Stilllegung des gesamten Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin ernstlich und endgültig geplant war und daher die betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers auf einer solchen Stilllegungsentscheidung beruhte.
Die Insolvenzschuldnerin betrieb ein Unternehmen zur Herstellung und Vertrieb von Spezialprofilen aus Stahl/Stahlerzeugnissen und beschäftigte ca. 400 Arbeitnehmer. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zum 01.03.2020 einigte sich der beklagte Insolvenzverwalter auf mehrere Interessenausgleiche: Ein erster Interessenausgleich vom 27.03.2020 sah betriebsbedingte Kündigungen von 61 namentlich benannten Arbeitnehmern vor (wobei der Kläger nicht darunter fiel). Etwa drei Monate später, am 29.06.2020, schloss der Insolvenzverwalter einen zweiten Interessenausgleich ab, welcher drei Namenslisten umfasste:
- 1. Liste: 107 Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis zum nächstzulässigen Termin beendet werden soll,
- 2. Liste: 190 Arbeitnehmer, welche noch für die Ausproduktion benötigt wurden und deren Arbeitsverhältnis zum 31.05.2021 enden sollte (darunter der Kläger) und
- 3. Liste: 40 Arbeitnehmer, welche bereits vom ersten Interessenausgleich betroffen waren und deren Arbeitsverhältnisse vorsorglich nochmals betriebsbedingt gekündigt werden sollten.
Dieser wurde wenige Tage nach der Sitzung des Gläubigerausschusses abgeschlossen, in welcher dieser beschlossen hatte, ein vorliegendes Angebot eines Dritten über den Erwerb des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin nicht anzunehmen.
Hiernach wurde das Arbeitsverhältnis des Klägers, welcher auf einer der Namenslisten aufgeführt war, am gleichen Tag zum 31.05.2021 betriebsbedingt gekündigt. Nachdem der Kläger sich auf den Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen berufen hatte, kündigte der Insolvenzverwalter nach erfolgter Zustimmung der zuständigen Behörde (wegen Ablehnung des Antrags des Klägers auf Feststellung einer Schwerbehinderung) am 20.08.2021 erneut das Arbeitsverhältnis. Vor Ausspruch der Kündigung unterzeichnete der Beklagte eine Vertraulichkeitserklärung zur Durchführung einer Due-Diligence-Prüfung mit einem Hauptkunden der Insolvenzschuldnerin.
Veräußerung des Geschäftsbetriebs nach Kündigungsausspruch
Nach Ausspruch der Kündigungen, aber vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers, veräußerte der beklagte Insolvenzverwalter Anfang 2021 einen Großteil des Geschäftsbetriebs der Insolvenzschuldnerin an ein Joint Venture, welches von zwei Hauptkunden der Insolvenzschuldnerin (u.a. dem Hauptkunden, mit welchem der Beklagte die Vertraulichkeitsvereinbarung abgeschlossen hatte) gebildet wurde; der Vollzug erfolgte zum 01.07.2021. Das nicht vom Joint Venture übernommene Betriebsgrundstück erwarb die Stadt, welche dem Joint Venture ein entsprechendes Erbbaurecht einräumte.
Der Kläger machte geltend, dass die Kündigungen unwirksam seien. Der Beklagte hat sich hinsichtlich der Wirksamkeit der Kündigung auf die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO berufen. Im Zeitpunkt (des Zugangs) der Kündigung habe der Entschluss zur Betriebsstilllegung vorgelegen. Zu diesem Zeitpunkt waren vorangehende Verhandlungen über eine Betriebsveräußerung gescheitert. Die nachfolgende Veräußerung sei erst aufgrund eines späteren Angebots erfolgt. Auch das Joint Venture sei erst zu einem späteren Zeitpunkt gegründet worden.
Während das ArbG Dortmund die Klage abgewiesen hat, hat das LAG Hamm auf die Berufung des Klägers hin der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Auf die Revision des Beklagten hin hat das BAG die Entscheidung des LAG aufgehoben und entschieden, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers jedenfalls durch die Kündigung vom 20.08.2020 zum 31.05.2021 beendet worden sei.
Eine im Rahmen eines weiteren Interessenausgleichs mit Schreiben vom 25.05.2021 erfolgte dritte sowie eine zwischenzeitlich ausgesprochene vierte Kündigung, welche der Kläger mit gesonderten Klagen angegriffen hat, waren nicht Gegenstand des Verfahrens.
BAG bestätigt Rechtsprechung zu Voraussetzungen und Reichweite der Vermutungswirkung
Die Revision des Beklagten war erfolgreich. Bei der (zweiten) Kündigung des Beklagten vom 20.08.2020 habe es sich, so das BAG, um eine gegenüber der ersten Kündigung eigenständige Kündigung gehandelt, namentlich um etwaigen Unwirksamkeitsgründen im Hinblick auf den vom Kläger geltend gemachten Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen (§ 168 SGB IX) zu begegnen. Der Beklagte konnte sich insoweit auf dieselben Kündigungsgründe berufen.
Zudem habe der Beklagte hinreichend die (Tatbestands-)Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO dargelegt, namentlich das Vorliegen einer für die streitgegenständliche Kündigung des Klägers ursächlichen Betriebsänderung i.S.v. § 111 Satz 1 BetrVG sowie das wirksame Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste (im Zeitpunkt der Kündigung).
Vorliegend war, so das BAG, im Zeitpunkt des – im Übrigen wirksamen – Abschlusses des Interessenausgleichs mit der Betriebsstilllegung zum 31.05.2021 eine Betriebsänderung i.S.v. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO i.V.m. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG geplant. Die geplante Betriebsstilllegung sei ebenso wie der entsprechende Arbeitsplatzabbau im Interessenausgleich belegt. Hieran habe sich auch nichts im Zeitpunkt des Kündigungszugangs geändert. Entgegen der Berufungsinstanz komme es für die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO auch nicht darauf an, ob die Betriebsänderung (Betriebsstilllegung) eingeleitet war oder bereits greifbare Formen angenommen habe (hierzu z.B. BAG, Urt v. 14.05.2020 – 6 AZR 235/19). Somit habe die vom Beklagten geplante und in der Folge mit dem Betriebsrat im Interessenausgleich vereinbarte Maßnahme die Vermutungswirkung ausgelöst.
Der Kläger habe vorliegend auch keine wesentliche Änderung der Sachlage i.S.v. § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO dargelegt, welche die Vermutungswirkung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO hätte entfallen lassen. Eine solche wesentliche Änderung sei nur anzunehmen, wenn im Kündigungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass die Geschäftsgrundlage für den Interessenausgleich entfallen ist, also nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, dass eine oder beide Betriebsparteien den Interessenausgleich in Kenntnis der späteren Änderung nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätte/hätten (vgl. z.B. BAG, Urt. v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11). Die sei vorliegend nicht der Fall: So reiche allein die Auffassung, dass es aufgrund der Due-Diligence-Vereinbarung zu einer wesentlichen Änderung der Sachlage gekommen sei, nicht aus. Es sei, so das BAG, nicht ersichtlich, dass jedenfalls der Betriebsrat vor dem Hintergrund, dass sich ein Hauptkunde der Insolvenzschuldnerin den Erwerb von Betriebsteilen „vorstellen könne“ oder dass eine Vertraulichkeitsvereinbarung zur Durchführung eine Due-Diligence-Prüfung abgeschlossen wurde, den Interessenausgleich nicht oder nur mit einem anderen Inhalt abgeschlossen hätte. Die nachfolgende Veräußerung war ohne Belang, da diese erst nach Zugang der Kündigung zustande gekommen sei.
Konsequenzen und Hinweise
Das BAG bestätigt in der vorliegenden Entscheidung seine Rechtsprechung zur Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO, wonach die Betriebsänderung „geplant“ gewesen sein muss, nicht aber, dass diese bereits eingeleitet gewesen sein oder jedenfalls greifbare Formen angenommen haben muss.
Zudem betont die Entscheidung den Regelungszweck des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO, wonach der Kündigungsgrund – Wegfall einer (Weiter-)Beschäftigungsmöglichkeit aus dringenden betrieblichen Gründen – vermutet wird, wenn ein Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen wurde. Hiernach ist es am klagenden Arbeitnehmer darzulegen (und ggf. zu beweisen), dass eine wesentliche Änderung der Sachlage eingetreten ist. Der vorliegende Fall zeigt insoweit, wie wichtig eine ausreichende Dokumentation der Betriebsänderung im Interessenausgleich sowie im Hinblick auf etwaige Sachverhaltsentwicklungen, etwa im Hinblick auf ein (alternatives) Veräußerungsszenario, in diesem Zusammenhang ist. Insbesondere ist in der Praxis darauf zu achten, den Betriebsrat hinreichend in solche möglichen Szenarien einzubinden, zum einen im Hinblick auf die Unterrichtungspflicht nach § 111 Satz 1 BetrVG als auch zur Entkräftung etwaiger Einwendungen, wonach der Betriebsrat den Interessenausgleich in Kenntnis solcher etwaigen späteren Änderungen nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätte.
Nicht zuletzt zeigt diese Entscheidung, wie wichtig es aus Arbeitgebersicht ist, beim Abschluss eines Interessenausgleichs eine Namensliste zu vereinbaren. Dies gilt sowohl wie vorliegend innerhalb, aber auch außerhalb von Insolvenzszenarien (siehe § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG).