Das Thema
Werden die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG erreicht, beinhaltet das sog. Massenentlassungsverfahren zwei getrennt durchzuführende Verfahren:
- das Konsultationsverfahren: die Pflicht zur Konsultation eines (soweit vorhandenen) Betriebsrats gem. § 17 Abs. 2 KSchG sowie
- das Anzeigeverfahren: die Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG.
Beide Verfahren bestehen bei Massenentlassungen selbständig nebeneinander, sind sehr komplex, fehleranfällig und jeweils eigenständige Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen und Aufhebungsverträge.
Arbeitgeber sollten daher bei beabsichtigten Massenentlassungen angesichts der gravierenden Folgen eines fehlerhaften Konsultations- und Anzeigeverfahrens größte Sorgfalt auf deren Planung und auf deren rechtzeitige, ordnungsgemäße und rechtskonforme Durchführung legen. Zu beachten gilt, dass Mängel bei der Massenentlassungsanzeige und beim Konsultationsverfahren auch nicht durch ein Bestätigungsschreiben oder einen späteren Bescheid der Agentur für Arbeit geheilt werden; die Arbeitsgerichtsbarkeit ist nicht daran gehindert, die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige festzustellen (vgl. BAG, Urt. v. 13.02.2020 – 6 AZR 146/19).
Anzeigeverfahren
Der Arbeitgeber muss die Massenentlassung gem. § 17 Abs. 1, 3 KSchG der (zuständigen) Agentur für Arbeit anzeigen (Anzeigeverfahren). Zweck der Anzeige ist die Information der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit über die bevorstehende Massenentlassung, damit diese ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen kann. Diese Anzeigepflicht besteht unabhängig von der Existenz eines Betriebsrats im Betrieb.
Eine Massenentlassungsanzeige ist immer dann zu stellen, wenn Arbeitgeber beabsichtigen, innerhalb von 30 Tagen,
- in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
- in Betrieben mit in der Regel mehr als 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern, mehr als 10 von Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer oder
- in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmer, mehr als 30 Arbeitnehmer
zu entlassen.
Bei einem gemeinschaftlichen Betrieb wird die Anzahl der Arbeitnehmer addiert. Maßgeblich ist die Beschäftigtenzahl, die für den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnend ist. Dies erfordert einen Rückblick auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs sowie ggf. auch eine Einschätzung der künftigen Entwicklungen.
Das BAG (Urt. v. 08.11.2022 – 6 AZR 15/22) hat jüngst entscheiden, dass eine marginale Abweichung bei der Anzahl der Nennung der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer in der Massenentlassungsanzeige unschädlich ist. Bleibe – wie im Fall des BAG – ein Arbeitnehmer unberücksichtigt, handele es sich um eine marginale Abweichung. Mit dem Zweck der Anzeige stünde es nicht im Einklang, wenn die fehlende Angabe einer einzigen Entlassung die Auflösung der Arbeitsverhältnisse auch aller anderen von der Anzeige erfassten Arbeitnehmer hindern würde (Anm. d. Red.: vgl. dazu auch den EFAR-Beitrag „Massenentlassungsanzeige: Neues zur Auswirkung von Formfehlern auf Rechtswirksamkeit von Kündigungen“).
Inhalte der Massenentlassungsanzeige
Die Massenentlassungsanzeige muss gemäß § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG
- den Namen des Arbeitgebers,
- den Sitz und die Art des Betriebs,
- die Gründe für die geplanten Entlassungen,
- die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
- den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und
- die Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer enthalten.
Ein Fehlen dieser sog. „Muss-Angaben“ macht die Anzeige und somit die Entlassung unwirksam!
Darüber hinaus „sollen“ weitere persönliche Daten der zu entlassenden Arbeitnehmer mitgeteilt werden, nämlich Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit (§ 17 Abs. 3 S. 5 KSchG). Das BAG hat im Mai 2022 entschieden, dass das Fehlen dieser Soll-Angaben in einer Massenentlassungsanzeige für sich allein noch nicht zur Fehlerhaftigkeit der Anzeige und somit nicht zur Unwirksamkeit der später ausgesprochenen Kündigungen führt (vgl. BAG, Urt. v. 19.05.2022 – 2 AZR 467/21). Die begrüßenswerte Entscheidung des BAG führt in diesem wichtigen Punkt zur Rechtssicherheit für Arbeitgeber. In der Praxis empfiehlt sich, bei der Formulierung der Massenentlassungsanzeige die Formulare der Agentur für Arbeit zu verwenden und auch für die Bezeichnung der Berufsgruppen den Katalog und die Kennziffern der Bundesagentur heranzuziehen.
Konsultationsverfahren
Das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat besteht aus
- der rechtzeitigen Unterrichtung (Mitteilung) des Betriebsrats über die in § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG genannten Mindestinhalte und
- der Beratung mit dem Gremium über die Möglichkeiten, die Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern (vgl. § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG).
Zu beachten ist, dass andere Beteiligungsrechte wie etwa §§ 111, 112 BetrVG (Interessenausgleichs- und Sozialplanverfahren) von der Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG unberührt bleiben. Der Abschluss eines Interessenausgleichs- und Sozialplans entbindet grundsätzlich nicht von der Konsultationspflicht nach § 17 Abs. 2 KSchG (vgl. BAG, Urt. v. 26.02.2015 – 2 AZR 371/14). Die Verfahren können jedoch parallel erfolgen. Voraussetzung ist aber, dass der Arbeitgeber deutlich macht, welche der Verfahren gleichzeitig durchgeführt werden sollen (BAG, Urt. v. 09.06.2016 – 6 AZR 405/15). So muss er den Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 KSchG insbesondere deutlich erkennbar in Textform über die dort geregelten Mindestinhalte (s.u.) gesondert unterrichten.
Mindestinhalt der Unterrichtung im Konsultationsverfahren
Der Mindestinhalt der Unterrichtung des Betriebsrats ergibt aus dem gesetzlichen Katalog des § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 6 KSchG.
Nach einer aktuellen Entscheidung des BAG genügt es bei Einleitung des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 KSchG, wenn als Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, der beabsichtigte Monat der Kündigungserklärungen mitgeteilt wird. Abhängig vom Verlauf des Konsultationsverfahrens und des Planungsstands kann der Arbeitgeber jedoch später zur Aktualisierung seiner Angaben verpflichtet sein (vgl. BAG, Urt. v. 08.11.2022 – 6 AZR 15/22).
Eine erneute Unterrichtung bzw. Ergänzung der bisher erteilten Informationen bezüglich des Zeitraums i. S. v. § 17 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 KSchG soll nicht erforderlich sein, wenn der Betriebsrat die aktuelle Planung des Zeitablaufs ohnehin kennt oder zumindest einschätzen kann und der Arbeitgeber erkennbar an der Massenentlassung konzeptionell unverändert festhalten will (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 10.09.2009 – C-44/08).
Die Unterrichtung hat nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG „schriftlich“ zu erfolgen, wobei hierzu die Wahrung der Textform (z.B. Telefax, E-Mail) entsprechend § 126b BGB ausreicht (BAG, Urt. v. 22.09.2016 – 2 AZR 276/16). Empfehlenswert ist es, sich die Übergabe der entsprechenden Unterlagen durch ein Empfangsbekenntnis vom Betriebsrat quittieren zu lassen.
Einleitung des Konsultationsverfahrens
Das Konsultationsverfahren ist nach § 17 Abs. 2 KSchG „rechtzeitig“ einzuleiten. Da es dem Betriebsrat nach Sinn und Zweck möglich sein soll, Einfluss auf die Entscheidung des Arbeitgebers zu nehmen, sollte die Konsultation möglichst frühzeitig erfolgen. Unumkehrbare und die Entlassungen bedingende Maßnahmen des Arbeitgebers (z.B. der Verkauf aller Produktionsmaschinen) dürfen noch nicht vollzogen werden. Mit Blick auf § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG (vgl. dazu sogleich unten) sollte die Konsultation spätestens zwei Wochen vor dem geplanten Datum für die Erstattung der Massenentlassungsanzeige erfolgen.
In der Praxis empfiehlt es sich, die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 KSchG zeitlich schon früher einzuleiten, etwa parallel mit der Aufnahme der Interessenausgleichsverhandlungen, jedoch mit einem gesonderten Unterrichtungsschreiben.
Gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG hat der Arbeitgeber „gleichzeitig“ der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung (Unterrichtung) an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muss zumindest die in § 17 Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 KSchG vorgeschriebenen Angaben enthalten. Aktuell ist die äußerst relevante Frage, ob ein Verstoß gegen diese Übermittlungspflicht zur Nichtigkeit einer Kündigung führt, vom BAG dem EuGH vorgelegt worden (BAG, Vorlagebeschl. v. 27.01.2022 – 6 AZR 155/21 [A]). Solange diese Frage höchstrichterlich nicht geklärt ist, sollten Arbeitgeber der Agentur für Arbeit immer eine Abschrift der schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrats übermitteln.
Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrats
Nach § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG hat der Arbeitgeber seiner schriftlichen Anzeige die Stellungnahme des Betriebsrats „zu den Entlassungen“ beizufügen. Hier zeigt sich wieder die Verbindung zwischen Anzeige- und Konsultationsverfahren.
Gemäß § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG ist die Massenentlassungsanzeige auch dann wirksam erfolgt, wenn zwar keine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats vorliegt, der Arbeitgeber aber glaubhaft macht, dass er das Gremium mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG unterrichtet hat, und er gleichzeitig den Stand der Beratungen darlegt. Nach dem Zweck des Anzeigeverfahrens muss durch die Beifügung der Betriebsratsstellungnahme oder – ersatzweise – die Darlegung des Beratungsstands die Durchführung und gegebenenfalls das Ergebnis des Konsultationsverfahrens dokumentiert werden. Dementsprechend ist die Massenentlassungsanzeige unwirksam, wenn der Arbeitgeber ihr eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht beifügt bzw. Darlegungen gem. § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG unterlässt oder den Stand der Beratungen mit dem Betriebsrat in einer Weise irreführend darstellt, die geeignet ist, eine für den Arbeitgeber günstige Entscheidung der Behörde zu erwirken (BAG, Urt. v. 08.11.2022 – 6 AZR 15/22).
Übermittlung einer Abschrift der Anzeige an Betriebsrat
Gem. § 17 Abs. 3 S.6 KSchG hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat schließlich eine Abschrift der Massenentlassungsanzeige zuzuleiten.
Das BAG hat hierzu jüngst entschieden, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S.6 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Anzeige und damit der Kündigungen führt. Die Weiterleitung der Anzeige dient lediglich der Information der Arbeitnehmervertretung, nicht der Erfüllung der Aufgaben der Arbeitsverwaltung (vgl. BAG, Urt. v. 08.11.2022 – 6 AZR 15/22). Es bestehe offenkundig kein Bezug zur individualrechtlichen Ebene. Dies werde insbesondere dadurch deutlich, dass Stellungnahmen des Betriebsrats zur Anzeige erst nach dem Zugang der Kündigung erfolgen können, wenn der Arbeitgeber die Kündigungen sofort nach Eingang der Anzeige erklärt. Die Wirksamkeit einer Kündigung bestimme sich aber nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt ihres Zugangs. Daraus ergebe sich, dass sich das Wechselspiel von Information und Stellungnahme auf einen kündigungsrechtlich irrelevanten Zeitraum beziehe.
Fazit
Die Rechtsprechung hat für Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen hohe Hürden aufgestellt. Dies liegt nicht zuletzt an den immer stärker werdenden unionsrechtlichen Einflüssen. Eine rechtskonforme Durchführung des Massenentlassungsverfahrens nach § 17 KSchG ist ohne vertiefte Kenntnisse der jeweils aktuellen Rechtsprechung kaum noch möglich. Es empfiehlt sich daher stets, die aktuelle Rechtsprechung des BAG und EuGH genau im Blick zu halten.