Das Thema
Arbeiten Beschäftigte länger als es die vertragliche Arbeitszeit vorsieht, stellt sich die Frage, ob und wie diese Überstunden zu vergüten sind. Häufig werden Überstunden vereinbarungsgemäß mit dem üblichen Stundenlohn abgegolten. Sofern der Arbeitsvertrag keine entsprechende Regelung enthält, werden Überstunden vergütet, wenn sie den Umständen nach nur gegen eine Vergütung erbracht werden. Um potenziellen Streit zu verhindern werden häufig Abgeltungsklauseln verwendet, die allerdings AGB-rechtlich wirksam sein müssen.
Sind Arbeitsbedingungen – etwa die wöchentliche Arbeitszeit – durch einen Tarifvertrag geregelt, können sie nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, außer der Tarifvertrag lässt dies ausdrücklich zu, siehe § 77 Abs. 3 BetrVG. Diese Regelungssperre greift dann nicht, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen, was das BAG jedoch in seiner Entscheidung vom 17. August 2021 (1 AZR 175/20) bezüglich der wöchentlichen Arbeitszeit verneint.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich nun mit dieser aktuellen BAG-Entscheidung und der Frage der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG.
Wenn Regelungen zu Überstunden in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen aufeinander treffen
In der Praxis finden sich Regelungen zu Überstunden auch in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen. Konfliktpotenzial kann dabei gerade im Bereich der freiwilligen Mitbestimmung die Regelung des § 77 Abs. 3 BetrVG bereiten.
Hiernach können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, es sei denn, der Tarifvertrag lässt den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zu. Tarifliche oder tarifübliche Regelungen entfalten mithin eine Sperrwirkung für die freiwillige betriebliche Mitbestimmung, die sogar das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG verdrängt.
Die Sperrwirkung hat dabei die Besonderheit, dass ein Unternehmen (lediglich) in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen muss, eine Tarifgebundenheit ist nicht erforderlich. Sie greift sogar ein, wenn tarifliche Regelung nicht (mehr) existiert, die Arbeitsbedingungen aber üblicherweise tariflich geregelt werden. Dies ist etwa der Fall, sofern ein Tarifvertrag gekündigt ist, nachwirkt und nach der bisherigen Tarifpraxis eine Regelung wieder zu erwarten ist. Dass die Tarifvertragsparteien eine Regelung bloß „beabsichtigen“ reicht nach der Rechtsprechung des BAG allerdings noch nicht aus (Urteil vom 5. März 2013 – 1 AZR 417/12).
Der Fall: Einführung einer 40-Stunden-Woche per Betriebsvereinbarung
Das beklagte Unternehmen ist im produzierenden Gewerbe tätig und „Mitglied ohne Tarifbindung“ in einem Verband. Die Beklagte unterfällt dem räumlichen und fachlichen Geltungsbereich eines Manteltarifvertrages, der Regelungen zur Arbeitszeit enthält.
In einer mit dem Betriebsrat abgeschlossenen Rahmenbetriebsvereinbarung wurde eine geringe prozentuale Gehaltserhöhung vereinbart sowie eine tägliche Arbeitszeiterhöhung von 30 Minuten, was zu einer 40-Stunden-Woche führte. Außerdem wurden Zeitkonten eingeführt. Der klagende Arbeitnehmer arbeitete entsprechend dieser Vorgaben in den Jahren 2014 bis 2017 40 Stunden pro Woche.
Mit seiner Klage macht der Kläger nun insbesondere Zahlung einer Überstundenvergütung für seine Mehrarbeit in diesem Zeitraum geltend, da die Einführung der 40-Stunden-Woche durch die Betriebsvereinbarung gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstoße. Maßgeblich sei deswegen seine vertraglich vereinbarte geringere Arbeitszeit von 37,5 Stunden pro Woche, was zu entsprechenden Überstunden führe.
Die Beklagte hält dem im Wesentlichen entgegen, dass der Umfang der Arbeitszeit jedenfalls konkludent aufgrund der mehr als 14 Jahre andauernden aktiven Teilnahme an dem in der Betriebsvereinbarung geregelten Arbeitszeitmodell geändert worden sei. Jedenfalls seien Ansprüche verwirkt.
BAG hält Arbeitszeiterhöhung durch Betriebsvereinbarung für unwirksam
Das BAG hat nun in seiner Entscheidung vom 17. August 2021 (1 AZR 175/20) geurteilt, der Kläger habe für die Jahre 2014 bis 2017 Anspruch auf die Vergütung der geltend gemachten Überstunden. Erbringe der Arbeitnehmer Überstunden, sei der Arbeitgeber zur Vergütung verpflichtet, wenn er die Überstunden veranlasst habe oder sie ihm zumindest zuzurechnen seien, er sie also angeordnet, gebilligt, geduldet habe oder sie notwendig gewesen waren.
Die Arbeitszeit des Klägers bemesse sich entsprechend seines Arbeitsvertrages auf 156,6 Stunden im Monat. Diese Normalarbeitszeit sei nicht durch die Betriebsvereinbarung erhöht worden, da die fragliche Bestimmung wegen Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam sei.
Die Beklagte unterfalle dem Anwendungsbereich eines Manteltarifvertrages, der eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden vorsehe. Eine Verlängerung ist nach der tariflichen Regelung nur mit Zustimmung des Arbeitnehmers möglich. Eine Öffnungsklausel für Abweichungen durch Betriebsvereinbarungen enthalte der Tarifvertrag nicht. Zwar greife die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht, wenn es sich um Angelegenheiten der erzwingbaren Mitbestimmung handele, nach § 87 Abs. 1 BetrVG bestehe aber kein zwingendes Beteiligungsrecht bezüglich der Dauer der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit.
Auch widerspruchsloses Weiterarbeiten zählt nicht als Einverständnis
Auch eine konkludente Abänderung des Arbeitsvertrages hin zu einer 40-Stunden-Woche habe nicht stattgefunden. Dies wäre nur möglich, wenn der Arbeitnehmer hätte erkennen können, dass seine widerspruchslose Weiterarbeit als Einverständnis einer Vertragsänderung verstanden werde. Allerdings können in einer unwirksamen Betriebsvereinbarung bereits kein Angebot des Arbeitgebers gesehen werden. Auch die übrigen Regelungen der Betriebsvereinbarung, etwa hinsichtlich Arbeitszeitkonten, schlössen die Überstundenvergütung nicht aus, da die streitgegenständliche Betriebsvereinbarung insgesamt unwirksam sei.
Hinsichtlich der Höhe der Überstundenvergütung müsse der Kläger nicht im Einzelnen vortragen, an welchen Tagen welche konkreten Überstunden geleistet worden seien. Vielmehr genüge insoweit auch eine an Tatsachen orientierte Schätzung. Der Anspruch sei auch nicht verwirkt, da hierfür Kenntnis des Schuldners, also des beklagten Unternehmens, notwendig wäre. Vor unbekannten Forderungen werde durch die Verjährung geschützt.
Freiwillige oder zwingende Mitbestimmung genau prüfen
Das durchaus komplexe Verhältnis von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung hat für die Praxis – auch in nicht tarifgebundenen Unternehmen, wie das vorliegende Urteil zeigt – große Bedeutung. Betriebsvereinbarungen sind zwar nicht auf Fälle zwingender Mitbestimmung beschränkt. Vielmehr können Arbeitgeber und Betriebsrat auch Fragen der freiwilligen Mitbestimmung, etwa hinsichtlich der Entgelthöhe oder der Dauer der Arbeitszeit, mittels einer Betriebsvereinbarung regeln. Auch diese Betriebsvereinbarungen gelten unmittelbar und zwingend (§ 77 Abs. 4 BetrVG), bei Nichteinigung können sie allerdings nicht über eine Einigungsstelle erzwungen werden (vgl. § 87 Abs. 2 BetrVG).
Insbesondere bei der freiwilligen Mitbestimmung ist die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG zu beachten. Während in Bereichen der zwingenden Mitbestimmung alles geregelt werden kann, was nicht abschließend tarifvertraglich vorgegeben ist, können im Rahmen der freiwilligen Mitbestimmung nur solche Arbeitsbedingungen geregelt werden, die weder tarifvertraglich vorgesehen noch tarifüblich sind.
Da gegen die Regelungssperre verstoßende Betriebsvereinbarungen rechtsunwirksam sind, besteht das Risiko, Arbeitsverhältnisse lange in die Vergangenheit neu aufzurollen. Unternehmen sollten daher zum einen prüfen, ob es sich um einen Bereich der freiwilligen oder zwingenden Mitbestimmung handelt und zum anderen entgegenstehende tariflich bzw. tarifübliche Regelungen genau im Blick behalten.