Das Thema
Die #MeToo-Bewegungen in den letzten Jahren haben noch einmal deutlich gemacht, dass sexuelle Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, insbesondere gegen Frauen, keine Seltenheit sind und klare, gesetzliche Normen zu deren Verhinderung und Beseitigung notwendig sind. Anlässlich dessen hat die allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) am 21.06.2019 die Konvention Nr.190 über die Beseitigung von Belästigung und Gewalt in der Arbeitswelt angenommen.
Damit setzt erstmalig ein internationales Abkommen ein klares Zeichen gegen sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz und legt weltweit gültige Mindeststandards zur Prävention und Beseitigung fest.
Ratifizierung durch die einzelnen Mitgliedsstaaten erforderlich
Die Konvention Nr.190 der ILO regelt umfassend den Schutz von Arbeitnehmer/innen sowie anderen Personen vor Demütigungen, Belästigungen oder Übergriffen am Arbeitsplatz. Vor diesem Hintergrund ist “Nulltoleranz“ das Schlagwort. Jedes Individuum hat das Recht seine oder ihre Arbeit frei von sexueller Gewalt, Belästigung oder Unterdrückung auszuüben. Bisher existierte kein äquivalentes Übereinkommen, welches der Verhinderung und Beendigung von sexueller Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz diente.
Damit das Übereinkommen jedoch auch in den einzelnen Staaten verbindlich wird, muss es zunächst ratifiziert und anschließend in nationales Recht umgesetzt werden. Bereits 27 Staaten haben das Übereinkommen ratifiziert, denen sich jetzt auch Deutschland durch den Beschluss des Bundestags vom 19. April 2023 angeschlossen hat.
Klarer, rechtlicher Rahmen durch allgemeingültige Definitionen von Gewalt und Belästigung
Erstmalig finden sich in dem Übereinkommen allgemeingültige Definitionen für die Begriffe Gewalt und Belästigung und deren Auswirkungen auf die betroffenen Arbeitnehmer/innen. Dadurch wird ein klarer, rechtlicher Rahmen geschaffen und eine genaue Identifizierung inakzeptabler Verhaltensweisen in der Arbeitswelt ermöglicht.
Inakzeptabel sind in diesem Zusammenhang alle Verhaltensweisen, die Menschen in ihrem Arbeitsumfeld herabsetzen, demütigen, sexuell belästigen oder auch physisch oder psychisch angreifen. Eine wichtige Bedeutung kommt auch der geschlechtsspezifischen Belästigung und Gewalt gegen Frauen zu. Bei einer Zusammenschau deutscher Studien in den vergangenen Jahren kann davon ausgegangen werden, dass etwa jede vierte bis fünfte Frau und nur jeder zwölfte bis vierzehnte Mann bereits am Arbeitsplatz sexuell belästigt wurde. Diese Erkenntnisse erfordern demnach auch eine Auseinandersetzung mit der in der Konvention verankerten, geschlechtsspezifischen Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz.
Zudem wird erstmals in einem internationalen Abkommen anerkannt, dass auch häusliche Gewalt Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben kann und dass dies von den Mitgliedsstaaten anerkannt und die Auswirkungen auf die Arbeitswelt – wenn möglich – minimiert werden sollten.
Weitreichender Schutzbereich des Übereinkommens
Inhaltlich sind insbesondere der weite und umfangreiche sachliche sowie persönliche Schutzbereich des Übereinkommens hervorzuheben. Nicht nur der Arbeitsplatz an sich ist vom sachlichen Anwendungsbereich geschützt, sondern daneben u.a. auch der Weg zur Arbeit, der Aufenthalt in Pausenräumen oder der Kantine sowie der Bereich der Sanitäranlagen. Dies ermöglicht einen größeren Schutzbereich für die betroffenen Personen.
Zudem bietet der weite, persönliche Anwendungsbereich einen weitreichenden Schutz von Arbeitnehmer/innen, unabhängig von ihrer Position und der Arbeitsstätte. Ausgehend davon sind Praktikanten, Arbeitssuchende oder auch in der Ausbildung befindliche Personen ebenso wie Festangestellte umfassend geschützt. Des Weiteren sind auch natürliche Personen, die Aufgaben, Befugnisse oder Pflichten eines Arbeitgebers wahrnehmen, vom persönlichen Schutzbereich umfasst. Hervorzuheben ist zudem, dass Gewalt und Belästigung, die von Dritten ausgeht, ebenfalls berücksichtigt werden.
Leichter Zugang zu Präventions- und Schutzmaßnahmen – Welche Verpflichtungen treffen die Mitgliedsstaaten zur Umsetzung des Übereinkommens?
Auf dem Weg zu einer Arbeitswelt frei von sexueller Belästigung und Gewalt sind zunächst die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer/innen zu ergreifen, um die festgelegten Standards umzusetzen. Das Übereinkommen schafft somit keine individuellen Rechte der einzelnen Arbeitnehmer/innen, sondern vielmehr Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten und Arbeitgeber/innen, um die aus dem Übereinkommen hervorgehenden Rechte der Arbeitnehmer/innen zu gewährleisten. Dies umfasst die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt zu erlassen sowie die Umsetzung einer umfassenden Strategie zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt und Belästigung, die Einrichtung und Stärkung bestehender Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen, Sanktionsmöglichkeiten, Bereitstellung von Leitlinien, Bildungs- und Schulungsangeboten zur Sensibilisierung und Sensibilisierungskampagnen.
Insbesondere besonders verletzliche Gruppen sollen durch entsprechende Maßnahmen der Mitgliedsstaaten geschützt werden. Dies betrifft beispielweise lesbische, schwule, bi-, trans- oder intersexuelle Menschen. Doch wie kommen betroffene Arbeitnehmer/innen zu ihren Rechten? In Fällen von sexueller Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz müssen die Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass Betroffene einen leichten Zugang zu geeigneten und wirksamen Abhilfemaßnahmen sowie zu fairen und sicheren Melde- und Streitbeilegungsmechanismen, wie etwa Gerichten, haben. Neben einer medizinischen Versorgung und einer sozialen Betreuung sollen Betroffene auch rechtliche Hilfestellungen erhalten.
Treffen künftig auch Arbeitgeber/innen Pflichten aus dem Übereinkommen?
Durch entsprechende Maßnahmen der Mitgliedsstaaten treffen künftig auch Arbeitgeber/innen umfangreiche Pflichten, um Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zu verhindern. Dies umfasst ebenfalls Präventions- und Schutzmaßnahmen. Arbeitgeber/innen sollen in Beratung mit ihren Arbeitnehmer/innen Regelungen im Zusammenhang mit Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz annehmen und umsetzen.
Zudem sollen psychosoziale Risiken von Gewalt und Belästigung beim Arbeitsschutzmanagement berücksichtigt und vor diesem Hintergrund in Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmer/innen Gefahren und Risiken ermittelt werden, um Präventionsmaßnahmen einzuführen. Durch Schulungen und Informationsangebote sollen Arbeitnehmer/innen über Risiken und die zur Verfügung stehenden Präventions- und Schutzmaßnahmen aufgeklärt werden.
Rechtsfolgen der Ratifikation in Deutschland
Das Übereinkommen tritt nach Artikel 14 Nr.3 für jeden Mitgliedsstaat – somit auch für Deutschland – zwölf Monate nach der Eintragung seiner Ratifikation in Kraft. Erst ab diesem Zeitpunkt ist das Übereinkommen somit bindend. In einem weiteren Schritt ist auch der deutsche Gesetzgeber zur Umsetzung des Übereinkommens in nationales Recht verpflichtet, um die Maßnahmen zur Verhinderung von sexueller Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz in die Praxis umzusetzen.
Ausblick: Welche gesetzlichen Anpassungen in Deutschland sind die Folge?
Vor allem die wirtschaftliche Abhängigkeit von Arbeitnehmer/innen im Arbeitsverhältnis macht diese im Vergleich zu anderen verwundbarer und erfordert eine strikte Umsetzung der genannten Maßnahmen des Abkommens. Eine unmittelbare Verantwortlichkeit für die Umsetzung der Schutzmaßnahmen trifft dabei neben dem Staat auch die Arbeitgeber/innen.
Völlig offen ist derzeit noch, welche gesetzlichen Anpassungen in Deutschland zu erwarten sind. Neben zivilrechtlichen und strafrechtlichen Regelungen bieten bereits die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Bereich des Arbeitsrechts Schutz vor sexuellen Belästigungen und Gewalt am Arbeitsplatz. Über diese gesetzlichen Regelungen des AGG hinaus ermöglicht das Übereinkommen einen noch weiterreichenden Schutz für Arbeitnehmer/innen, da es – anders als im AGG – ausschließlich um die Verhinderung und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt geht. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Anpassung des AGG sinnvoll, um die in dem Übereinkommen festgelegten Mindeststandards umzusetzen. Wie und ob dies geschieht, bleibt abzuwarten.
Mit der Ratifizierung der Konvention haben die Mitgliedsstaaten jedoch einen wichtigen Schritt gemacht, um die gesellschaftliche Einstellung zu sexueller Gewalt und Belästigung – insbesondere geschlechtsspezifisch – nachhaltig positiv zu beeinflussen und eine Arbeitswelt frei von sexueller Gewalt und Belästigung zu schaffen.