Das Thema
Wird über das Vermögen eines Unternehmens ein Insolvenzverfahren eröffnet, ist für Arbeitnehmer, aber auch den Insolvenzverwalter die Einordnung der Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis wichtig. Davon hängt ab, ob und in welcher Höhe diese befriedigt werden – und daran hängt der – für die Fortführungsprognose wichtige – Wille, an Bord zu bleiben. Tritt im Insolvenzverfahren Masseunzulänglichkeit ein, wird eine neue Anspruchsrangfolge ausgelöst. Doch was passiert bei der „Insolvenz in der Insolvenz“? Im Gegensatz zur (ersten) Masseunzulänglichkeitsanzeige ist die „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ gesetzlich nicht geregelt. Am 25.08.2022 hat das BAG nun die umstrittenen Auswirkungen der „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ klargestellt (6 AZR 441/21).
Insolvenzrechtliche Einordnung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis
Die Einordnung von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis hängt von dem Zeitpunkt ihres Entstehens ab. Entstehen diese bereits vor der Insolvenzeröffnung, sind sie als Insolvenzforderungen zur Tabelle anzumelden. In der Praxis werden diese häufig nur zu einem geringen Bruchteil befriedigt. Ab dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung entstehende Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis sind demgegenüber Masseverbindlichkeiten und werden -vorrangig vor den Insolvenzforderungen – in der Regel vollständig befriedigt.
Erkennt der Insolvenzverwalter, dass die Insolvenzmasse nicht mehr zur Befriedigung der Masseverbindlichkeiten ausreicht, ist er verpflichtet, dem Gericht die Masseunzulänglichkeit anzuzeigen. Durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit gem. § 208 Abs. 1 InsO werden die Masseverbindlichkeiten in Alt- und Neumasseverbindlichkeiten unterteilt. Die Insolvenzmasse wird dann nur noch nach den Maßgaben von §§ 209 ff. InsO nach einer strikten Rangfolge abgewickelt:
- Nach § 209 Abs. 1 InsO sind im ersten Rang die Kosten des Insolvenzverfahrens selbst zu befriedigen.
- Nachfolgend sind im zweiten Rang Neumasseverbindlichkeiten gem. § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO und anschließend
- im dritten Rang Altmasseverbindlichkeiten gem. § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO zu befriedigen.
Die Altmasseverbindlichkeiten unterliegen insofern dem Vollstreckungsverbot nach § 210 InsO, um die Einhaltung der Rangordnung zu gewährleisten.
„Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ gesetzlich nicht geregelt
Tritt hinsichtlich der Neumasseverbindlichkeiten erneut die Unzulänglichkeit der Masse ein, ist fraglich, ob eine erneute Anzeige notwendig ist und welche Folgen sie hat. Eine „Neumasseunzulänglichkeitsanzeige“ ist gesetzlich nicht geregelt. In einem Dauerschuldverhältnis wie dem Arbeitsverhältnis können jeden Monat Ansprüche des Arbeitnehmers neu entstehen. Würde eine Neumasseunzulänglichkeitsanzeige dieselben Auswirkungen wie die erste Masseunzulänglichkeitsanzeige entfalten, gäbe es eine erneute Unterteilung in Alt-Neumasseverbindlichkeiten und Neu-Neumasseverbindlichkeiten. Wie diese Unterteilung ausgestaltet wird und welche Auswirkungen sie hat, war lange Zeit umstritten.
Bisher hat die Rechtsprechung des BAG und des BGH die Zulässigkeit einer zweiten Masseunzulänglichkeitsanzeige offengelassen (vgl. BGH, Urt. v. 03.04.2003 – IX ZR 101/02). In der Literatur wurden bisweilen verschiedene Lösungsmöglichkeiten für diese „Insolvenz in der Insolvenz“ diskutiert. Hervorzuheben sind dabei einerseits der Vorschlag, eine analoge Anwendung der § 208 ff. InsO mit einer weiteren Unterteilung in Zwischenränge vorzunehmen und andererseits der Vorschlag, die bis zum Zeitpunkt der erneuten Masseunzulänglichkeit entstandenen Neumasseverbindlichkeiten zu Altmasseverbindlichkeiten zurückzustufen.
Die Entscheidung des BAG
In dem zugrundeliegenden Verfahren ging es um die Zahlung von Annahmeverzugsansprüchen in der Zeit von September 2019 bis Mai 2020. Am 01.11.2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Air Berlin PLC & Co Luftverkehrs KG eröffnet und der Beklagte als Sachwalter eingesetzt. Noch am selben Tag zeigte er nach § 208 Abs. 1 S. 1 InsO die drohende Masseunzulänglichkeit an. Am 16.01.2018 hob das Insolvenzgericht die Eigenverwaltung auf und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter. Als während des Verfahrens erneut die Unzulänglichkeit der Masse auftrat, zeigte der Beklagte am 30.04.2019 und am 27.05.2020 die Masseunzulänglichkeit erneut an. Das Arbeitsverhältnis des Klägers, eines Piloten, wurde zunächst zum 30.04.2018 – unwirksam – gekündigt und endete erst im Mai 2020. Bis dahin war der Kläger durchgehend von der Erbringung seiner Arbeitsleistung freigestellt. Daraufhin machte der Kläger im Wege der Leistungsklage Annahmeverzugslohnansprüche geltend. In erster und zweiter Instanz wurde die Klage wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig zurückgewiesen. Das LAG Düsseldorf (Urt. v. 29.04.2021 – 5 Sa 517/20) stellte auf den erstmals in der Berufungsinstanz gestellten Hilfsantrag hin fest, dass zugunsten des Klägers Differenzlohnansprüche in der von ihm geltend gemachten Höhe im Rang vor den bis zur ersten Masseunzulänglichkeitsanzeige am 01.11.2017 bestehenden Forderungen stehen.
Das BAG wies die Revision zurück. Das LAG habe rechtsfehlerfrei erkannt, dass die zulässige Feststellungsklage unbegründet ist, soweit der Kläger die Feststellung von Masseverbindlichkeiten im Rang vor den bis zum 27.5.2020 und weiter hilfsweise im Rang vor den bis zum 30.4.2019 begründeten Masseverbindlichkeiten begehre, die Klage aber begründet sei, soweit der Kläger die Feststellung des Vorrangs der streitbefangenen Ansprüche aus Annahmeverzug vor den Altmasseverbindlichkeiten begehre. Zur Begründung führt das BAG zunächst aus:
„Bereits der Wortlaut der §§ 208 ff. InsO macht deutlich, dass die durch die Anzeige der Masseunzulänglichkeit eingetretene neue Rangfolge mit der Unterteilung in Alt- und Neumasseverbindlichkeiten abschließend ist und sich auch dann nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr ändert, wenn es zu einer Neumasseunzulänglichkeit kommt.“ [Hervorhebung hinzugefügt]
Dafür sprächen auch systematische Erwägungen. Da der Gesetzgeber die Zahl der Rangklassen habe niedrig halten wollen und § 209 InsO ein ausdifferenziertes Rangfolgesystemregele, während § 211 InsO den Verwalter verpflichte, nach Abschluss des Insolvenzverfahrens die Erlöse an die Gläubiger nach Maßgabe des § 209 InsO und nicht nach einer anderen, selbstgesetzten Rangfolge zu verteilen, liege ein abgeschlossenes Regelungssystem vor.
Aufgrund des eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers fehle es darüber hinaus auch an einer planwidrige Regelungslücke, um eine analoge Anwendung der §§ 208 ff. InsO auf die Neumasseunzulänglichkeit zu rechtfertigen. Ob die Lösungen der Literatur „sinnvoll“ wären, um die Problematik der erneuten Masseunzulänglichkeit zu lösen, lässt das BAG hingegen offen. Durch das Rechtsstaatsprinzip sei es der Rechtsprechung verwehrt, sich über den eindeutigen Willen des Gesetzgebers hinwegzusetzen und die abschließend geregelte Rangordnung weiterzuentwickeln.
Einer erneuten Anzeige bedarf es nicht
Damit stellt das BAG klar: Einer erneuten Anzeige bedarf es nicht. Für eine haftungsrechtliche Einrede zugunsten einer differenzierenden Entscheidung des Insolvenzverwalters, wie sie in der Literatur vorgeschlagen wird, fehle es an der dafür erforderlichen Rechtsgrundlage.
Eine Verletzung des Grundgesetzes sieht das Gericht ebenfalls nicht. Im Gegenteil: Gerade durch die Rangfolge werde die Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 GG gewahrt. § 208 ff. InsO stellten eine verfassungskonforme Schranke des Grundrechts dar. Darüber hinausgehende Einschränkungen seien weder gesetzlich vorgesehen noch verfassungskonform. Der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG sei ebenfalls gewahrt, da der Rangvortritt der Kosten des Verfahrens nach § 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO verfassungsrechtlich geboten sei.
Prozessual hat das BAG jedoch bestätigt, dass das Vollstreckungsverbot des § 210 InsO insoweit analog anzuwenden ist, als Neumasseverbindlichkeiten nach Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit nicht mehr mit der Leistungsklage verfolgt werden können. Ziel ist dabei, einen Wettlauf der Gläubiger zu verhindern und das Vertrauen in das Insolvenzverfahren zu stärken. Dies tritt jedoch erst mit der substantiierten Darlegung der Neumasseunzulänglichkeit durch den Insolvenzverwalter ein. Dann kann im Fall der erneuten Unzulänglichkeit keine Leistungsklage mehr erhoben werden.
Fazit
Mit dieser Entscheidung hat das BAG die Auswirkungen der Neumasseunzulänglichkeit klargestellt. Es bleibt bei der gesetzlichen Rangordnung und die erneute Masseunzulänglichkeit bleibt lediglich eine Einrede, die zur Folge hat, dass Neumassegläubiger dem Vollstreckungsverbot analog § 210 InsO unterliegen. Wichtig ist allerdings, dass eine Leistungsklage nach erfolgter Masseunzulänglichkeitsanzeige nicht per se unzulässig ist, sondern erst unzulässig wird, wenn der Insolvenzverwalter im Rechtsstreit darlegt und ggf. beweist, dass tatsächlich eine Neumasseunzulänglichkeit vorliegt.
Für Arbeitnehmer führt die Entscheidung damit zum teilweisen Aufatmen, für Insolvenzverwalter zu einem erheblichen Haftungsrisiko, da sie die Neumassegläubiger nach Eintritt der Neumasseunzulänglichkeit bis zu deren Überwindung nur gleichmäßig quotal befriedigen dürfen. Würde der Verwalter entgegen dieser Verpflichtung einzelne Gläubiger vollständig befriedigen, hätte er seine Pflichten als Insolvenzverwalter verletzt.