Das Thema
Ganz Deutschland wartet darauf, dass der Gesetzgeber infolge der „CCOO“-Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 (C-55/18) die in diesem Urteil aufgestellten Anforderungen zur Arbeitszeiterfassung umsetzt.
Ganz Deutschland? Nein, ein kleines Arbeitsgericht im Norden der Republik hat nun zum wiederholten Male selbst das Heft des Handelns in die Hand genommen und im Rahmen einer Vergütungsklage festgestellt, dass durch das Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 (auch) die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert werde.
Und: Die zweite Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden (vom 24. September 2020) ist in mehrfacher Hinsicht für die Praxis von Bedeutung. Wie auch immer man eine mögliche unmittelbare Handlungspflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung in der Folge der CCOO-Entscheidung bewertet, zeigt sie doch, dass eine fehlende Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeit – etwa bei Modellen der Vertrauensarbeitszeit -schon jetzt mit nicht unerheblichen Risiken behaftet ist.
Emden 2.0: Vergütung von Überstunden in Höhe von mehr als 20.000 Euro
In dem der (neuen) Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden vom 24. September 2020 (2 Ca 144/20) zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um die Vergütung von Überstunden in Höhe von über EUR 20.000. Die erste Entscheidung des Arbeitsgerichts Emdens zum gleichen Thema vom 20. Februar 2020, die für Aufsehen allerorten führte, drehte sich “nur” um wenige hundert Euro.
Bei der Beklagten, einem Unternehmen des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbes, galt Vertrauensarbeitszeit. Von der Klägerin wurden insoweit mittels einer von der Beklagten zur Verfügung gestellten Software „Kommt“- und „Geht“- sowie „Pausen“-Zeiten, die im Wege eines „Autoabzugs“ im Umfang von einer Stunde täglich verrechnet wurden, erfasst. Nachdem die Klägerin das Arbeitsverhältnis gekündigt hatte, machte sie gegenüber der Beklagten Überstunden im Umfang von 1.001 Stunden und 9 Minuten geltend und legte entsprechende Aufstellungen vor. Die Beklagte wandte hiergegen ein, dass es eine Anweisung zur Leistung von Überstunden nicht gegeben habe. Vielmehr sei es der Klägerin freigestellt gewesen, etwaige Mehrarbeit durch entsprechende selbstgenommene Ausgleichszeiten wieder zu egalisieren. Eine Anordnung, Duldung oder Billigung etwaiger Überstunden habe es nicht gegeben. Im Gegenteil: Nach ihrer Kündigung sei der Klägerin sogar deutlich mitgeteilt worden, dass Überstunden zu vermeiden seien. Insofern könnten etwaige Überstunden, die nach dem Ausspruch der Kündigung entstanden seien, ohnehin nicht mehr berücksichtigt werden.
Modifizierte Darlegungslest durch Entscheidung des EuGH aus dem Mai 2019
Das Arbeitsgericht Emden hat der Klage nahezu vollumfänglich stattgegeben. Danach habe die Klägerin den Nachweis erbracht, im streitgegenständlichen Zeitraum von der Beklagten nicht vergütete Überstunden im Umfang von 1.001 Stunden und 9 Minuten geleistet zu haben. Insoweit gelte – entsprechend der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Die Prüfung, ob geltend gemachte Überstunden zu vergüten seien, sei in zwei Stufen vorzunehmen.
Die Klägerin habe auf der ersten Stufe ihrer Darlegung der Vortragslast genügt, indem sie unter Vorlage von Ausdrucken aus dem bei der Beklagten installierten Zeiterfassungssystem bzw. einer Auflistung der jeweils monatlich erbrachten Arbeitsleistung vorgetragen habe, an welchen Tagen sie von wann bis wann Arbeit geleistet habe. Diesem Vortrag sei die Beklagte nicht hinreichend entgegengetreten, sodass der Sachverhalt gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen sei.
Aber auch auf der zweiten Stufe sei die Klägerin ihrer Darlegungslast nachgekommen. Danach habe die Beklagte die von der Klägerin geleisteten Überstunden jedenfalls „geduldet“. Die Beklagte habe die von der Klägerin behauptete arbeitgeberseitige „Veranlassung“ etwaiger von der Klägerin erbrachter Überstunden, insbesondere deren Anordnung, Duldung oder Billigung, zwar bestritten. Sie hatte insoweit u.a. vorgetragen, dass die Arbeitszeiten der Klägerin zwar aufgezeichnet, jedoch nicht kontrolliert worden seien. Vielmehr hätte die Klägerin selbst auf die Einhaltung ihrer Arbeitszeit achten sollen. Dieses Bestreiten sei jedoch – so das Arbeitsgericht Emden – nicht hinreichend, da aufgrund der CCOO-Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert sei.
Die vom Bundesarbeitsgericht bislang geforderte positive Kenntnis als Voraussetzung für eine Duldung der Leistung etwaiger Überstunden und damit für eine Zurechenbarkeit bzw. arbeitgeberseitige Veranlassung sei insoweit jedenfalls dann grundsätzlich nicht erforderlich, wenn sich der Arbeitgeber die Kenntnis der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers – wie vorliegend – durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Einführung und (!) Kontrolle der Arbeitgeber verpflichtet sei, hätte verschaffen können, ihm also eine Kenntnisnahme möglich gewesen sei.
Emden begründet ausführlich
Zur Begründung führt das Arbeitsgericht Emden aus, dass nach den Grundsätzen der CCOO-Entscheidung die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten Gerichte verpflichtet seien, sämtliche nationale Rechtsnormen soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG auszurichten, insbesondere die hier in Betracht kommenden §§ 241 Abs. 2, 242, 315, 618 Abs. 1 BGB. Bei einer europarechtskonformen Auslegung folge schlussendlich schon aus § 618 Abs. 1 BGB eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Die aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta i.V.m. der Richtlinie 2003/88/EG folgende Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung sei zudem – jedenfalls hilfsweise – als vertragliche Nebenpflicht im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB zu klassifizieren, nach dem die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet seien. Eine Verpflichtung zur europarechts- bzw. richtlinienkonformen Auslegung der genannten Vorschriften des nationalen Arbeitsrechts bestehe unabhängig davon, ob möglicherweise – zusätzlich – eine Pflicht des deutschen Gesetzgebers bestehe, Änderungen der gesetzlichen Vorschriften der §§ 16 Abs. 2 ArbZG, 21 a Abs. 7 ArbZG, 17 MiLoG etc. infolge der CCOO-Entscheidung vom 14. Mai 2019 vorzunehmen.
Dass gemachte Ansprüche zum Teil aus der Zeit vor der EuGH-Entscheidung stammen, ist irrelevant
Die vorgenannten Vorschriften, welche die Erfassung der Arbeitszeiten vorsähen, ständen einer Verpflichtung zur umfassenden Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten nicht entgegen. Vielmehr enthielten die genannten §§ 241 Abs. 2, 242, 618 BGB in hinreichendem Maße ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe und Generalklauseln, die einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich seien. Ob sich die genannten Aufzeichnungs- und Kontrollpflichten der Beklagten gegebenenfalls – zusätzlich – aus einer unmittelbaren „horizontalen“ Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta zwischen Bürgern ergeben könnten, bedürfe insoweit keiner Entscheidung. Dass die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche zum Teil aus einer Zeit vor der CCOO-Entscheidung stammten, sei irrelevant. Da der EuGH in der vorgenannten Entscheidung keine Rückwirkungsbeschränkung vorgenommen habe, sei der Beklagten kein Vertrauensschutz zuzubilligen.
Arbeitsgericht Emden trägt Kritik – zumindest teilweise – Rechnung und sichert sich mit EuGH und BAG ab
Die erste Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden vom 20. Februar 2020 (2 Ca 94/19), mit welcher bereits über den Umweg einer Zahlungsklage eine allgemeine Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit angenommen wurde, ist in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen. Und wenngleich das Ergebnis durchaus überzeugend, zumindest vertretbar war, krankte die Entscheidung in der Tat vor allem daran, dass sie keine Begründung dahingehend enthielt, inwieweit die Vorgaben aus der Richtlinie 2003/88/EG i.V.m. Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta, welche die Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne betreffen, Konsequenzen für die Geltendmachung der Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne haben sollen.
Diese Kritik hat die 2. Kammer nun aufgenommen und verweist in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung vom 21. Februar 2018 (C-518/15), wo der EuGH für den zugrundeliegenden Fall festgestellt hat, dass die Auslegung der Richtlinie 2003/88/EG erforderlich sei, um den zugrundeliegenden Rechtsstreit zu entscheiden, auch wenn es dort (ebenfalls) um eine Frage des Arbeitsentgelts gehe.
Und auch das BAG habe – so das Arbeitsgericht Emden – in seinem Urteil vom 28. August 2019 (5 AZR 425/18) die Zulässigkeit der Geltendmachung eines Auskunftsanspruchs gemäß § 21 a Abs. 7 S. 3 ArbZG als Gegenstand der ersten Stufe einer Stufenklage gemäß § 254 ZPO im Zusammenhang mit einer Zahlungsklage bejaht.
Folgen für die Praxis: Implementierung der Zeiterfassung nicht mehr länger aufschieben
Die zweite Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden ist in mehrfacher Hinsicht für die Praxis von Bedeutung. Wie auch immer man eine mögliche unmittelbare Handlungspflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung in der Folge der CCOO-Entscheidung bewertet, zeigt sie doch, dass eine fehlende Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeit schon jetzt mit nicht unerheblichen Risiken behaftet ist.
Ob andere Gerichte der vom Arbeitsgericht Emden vorgenommenen Modifizierung der Darlegungs- und Beweislast folgen, ist zwar fraglich. Ausgehend davon, dass das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 28. August 2019 (5 AZR 425/18) aber in der Tat die Möglichkeit einer Stufenklage zu § 21 a Abs. 7 S. 3 ArbZG im Rahmen der Geltendmachung von Vergütungsansprüchen anerkannt hat, steht jedoch zu befürchten, dass sich Arbeitnehmer vermehrt hierauf stützen und diesen Weg wählen. Schon jetzt sollten Arbeitgeber sich dementsprechend mit der Arbeitszeiterfassung und deren Kontrolle befassen.
Dies gilt umso mehr, als die Implementierung einer allgemeinen Zeiterfassung zeitaufwändig ist, zumal in der Regel auch die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 und 6 BetrVG zu beachten sind.
Inanspruchnahme von Kurzarbeit fordert zusätzlich Arbeitszeiterfassung ein
Im Übrigen ist die Möglichkeit einer stichhaltigen Arbeitszeitargumentation auch im Hinblick auf das aktuell vielfach in Anspruch genommene Kurzarbeitergeld von großer Bedeutung. Schließlich muss der Arbeitgeber auch nach Beantragung und Auszahlung des Kurzarbeitergeldes die Voraussetzungen auf Verlangen der Agentur für Arbeit vollständig nachweisen. Die Arbeitsagenturen sind insoweit angehalten, für die Feststellung des Ausmaßes des Arbeitsausfalls entsprechende Unterlagen beim Arbeitgeber anzufordern.