Das Thema
Das BAG hat in einem wegweisenden Urteil vom 31. Mai 2023 (5 AZR 143/19) die Europarechtskonformität der Zeitarbeitstarifverträge und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) bestätigt. Vorausgegangen war dem Urteil ein langer Rechtsstreit bis hinauf zum EuGH und wieder zurück zum BAG zu der Frage, was eigentlich unter dem Begriff des „Gesamtschutzes“ der Zeitarbeitnehmer in der Zeitarbeitsrichtlinie zu verstehen ist und ob dieser ausreichend Berücksichtigung im AÜG und den Zeitarbeitstarifverträgen gefunden hat (vgl. EFAR-News vom 1. Juni 2023).
Dies hat das BAG letztendlich mit „ja“ beantwortet. Die seit September 2023 vorliegende Urteilsbegründung des BAG erläutert im Detail, warum im zugrundeliegenden Rechtsstreit auch bei niedrigerer Vergütung der Zeitarbeitnehmerin gegenüber den Stammmitarbeitern der Gesamtschutz gewahrt wurde und warum eine solche Abweichung sowohl bei unbefristet wie befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern zulässig ist.
Der Hintergrund des Verfahrens
Initiiert wurde das Verfahren von der sogenannten „Däubler-Kampagne“, die das AÜG und die auf seiner Grundlage geschlossenen Zeitarbeitstarifverträge für unwirksam hält. Mit der Unterstützung von Prof. Dr. Wolfgang Däubler suchte man im Rahmen der Kampagne nach klagewilligen Zeitarbeitnehmern, um höchstrichterlich klären zu lassen, dass das AÜG sowie die Zeitarbeitstarifverträge nicht europarechtskonform seien. Eine Abweichung vom Equal-Treatment-Prinzip sei nach Art. 5 Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie (2008/104/EG) nur „unter Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern“ möglich. Allerdings werde die nach der Zeitarbeitsrichtlinie erforderliche Wahrung des Gesamtschutzniveaus für Zeitarbeitnehmer weder im AÜG erwähnt noch in den Zeitarbeitstarifverträgen beachtet. Daher seien sowohl die gesetzliche Regelung wie die Zeitarbeitstarifverträge unwirksam. Den klagenden Zeitarbeitnehmern stünde ab dem ersten Einsatztag die gleiche Vergütung und andere wesentliche Arbeitsbedingungen wie vergleichbaren Stammarbeitnehmern des Entleihers zu.
Das Verfahren
Ausgangspunkt des Verfahrens ist die Klage einer Zeitarbeitnehmerin, die von Januar 2016 bis April 2017 auf Grundlage eines nach § 14 Abs. 2 TzBfG befristeten Arbeitsvertrags an ein Einzelhandelsunternehmen überlassen war. Während ihrer Überlassung erhielt sie für ihre Arbeit als Kommissioniererin zuletzt einen tariflichen Stundenlohn von EUR 9,23 brutto. Sie machte geltend, dass vergleichbare Stammmitarbeiter des Entleihers einen tariflichen Stundenlohn in Höhe von EUR 13,64 brutto erhielten. Die Zeitarbeitnehmerin klagte daraufhin auf Zahlung der Differenz der verschiedenen Stundenlöhne über den Zeitraum ihrer Beschäftigung. Sie vertrat die Auffassung, die Tariföffnung im AÜG sowie der auf ihr Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit anwendbare Tarifvertrag seien mit der Zeitarbeitsrichtlinie nicht vereinbar, weshalb das Equal-Treatment-Prinzip (§ 8 Abs. 1 AÜG) gelte. Ihr seien deshalb im Wesentlichen dieselben Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu gewähren, wie einem vergleichbaren Mitarbeiter des Entleihers.
Die Klage wurde sowohl vom ArbG Würzburg (Urt. v. 08.05.2018 – 2 Ca 1248/17) als auch vom LAG Nürnberg (Urt. v. 07.03.2019 – 5 Sa 230/18) abgewiesen. Das BAG (Beschl. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 [A]) hingegen setzte den Rechtsstreit aus und leitete ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art, 267 AEUV vor dem EuGH ein.
Auslegung der Zeitarbeitsrichtlinie durch den EuGH
Im Dezember 2020 hatte das BAG den Europäischen Gerichtshof zunächst um eine Auslegung der EU-Zeitarbeitsrichtlinie ersucht. Im Kern ging es um vier Fragen:
- Ist das AÜG und der darin enthaltene Gleichbehandlungsgrundsatz mit der Möglichkeit der Abweichung hiervon durch einen Tarifvertrag der Zeitarbeit überhaupt europarechtskonform und damit wirksam?
- Muss das AÜG einem Zeitarbeitstarifvertag im Einzelnen vorschreiben, in welchem Maße dieser von dem Gleichbehandlungsgrundsatz abweichen darf?
- Darf ein Zeitarbeitstarifvertrag auch dann von dem gesetzlichen Gleichbehandlungsprinzip abweichen, wenn dieser nicht insgesamt dem Niveau der Arbeits- und Entgeltbedingungen entspricht, das bei dem jeweiligen Entleiher gilt?
- Sind diese Fragen unterschiedlich zu beantworten je nachdem, ob der Zeitarbeitnehmer befristet oder unbefristet beschäftigt ist?
Der EuGH stellte zum einen fest, dass das AÜG europarechtskonform ist, obwohl die Wahrung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer hierin nicht ausdrücklich angesprochen ist. Das AÜG ist aber europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass diese Anforderung für die auf Grundlage des AÜG erlassenen Tarifverträge grundsätzlich besteht.
Zudem erkannte der EuGH an, dass die Zeitarbeitstarifverträge des BAP sowie des iGZ grundsätzlich eine wirksame Option zur Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz sind. Der Gesamtschutz sei dann gewahrt, wenn Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen. Hierbei gab der EuGH den deutschen Arbeitsgerichten vor, dass Zeitarbeitnehmer beispielsweise im Hinblick auf das Arbeitsentgelt nur dann durch einen Tarifvertrag schlechter gestellt werden dürfen, wenn diese Schlechterstellung durch Vorteile im Hinblick auf andere Arbeits- und Entgeltbedingungen ausgeglichen wird.
Folgeentscheidung des BAG
Das BAG setzte mit seinem Urteil vom 31. Mai 2023 die Vorgaben des EuGH um und wies die Klage endgültig ab. Der “Gesamtschutz” der Zeitarbeitnehmer sei durch das Zusammenspiel der gesetzlichen Schutzmechanismen des AÜG und des iGZ-Tarifvertrages gewährleistet.
Dabei wendeten die Erfurter Richter die vom EuGH vorgegebene konkrete „Prüfung in drei Schritten“ (EuGH 15. Dezember 2022 – C-311/21 Rn.49) an. Hiernach ist folgendes Prüfschema einzuhalten:
- In einem ersten Schritt sind die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu bestimmen, die für den Zeitarbeitnehmer gelten würden, wenn er von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre.
- In einem zweiten Schritt sind diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit denen zu vergleichen, die sich aus dem Tarifvertrag ergeben, dem der Zeitarbeitnehmer tatsächlich unterliegt.
- In einem dritten Schritt ist, um den Gesamtschutz von Zeitarbeitnehmern zu achten, zu beurteilen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen.
Im Rahmen dieser Prüfung kam das BAG zu dem Ergebnis, dass selbst wenn ein Nachteil bezüglich des Arbeitsentgeltes vorgelegen habe, der Gesamtschutz dennoch gewahrt wurde. Die Richter entschieden, dass insbesondere durch die gesetzliche Verpflichtung des Zeitarbeitsunternehmens, auch in Nichteinsatzzeiten das Tarifentgelt in voller Höhe weiterzuzahlen, der Nachteil einer geringeren Vergütung pro Stunde ausgeglichen wird.
Klarstellung, in welchen Fällen Gesamtschutz auch bei befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern gewahrt ist
Das BAG stellte ausdrücklich klar, dass anders als in einigen anderen europäischen Ländern verleihfreie Zeiten nach deutschem Recht auch bei befristeten Zeitarbeitsverhältnissen stets möglich sind, etwa wenn – wie im Streitfall – der Zeitarbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt wird oder der Entleiher sich vertraglich ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Zeitarbeitnehmer vorbehält. Damit wird der nach der Zeitarbeitsrichtlinie zu wahrende Gesamtschutz auch bei befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern gewahrt.
Die Wahrung des Gesamtschutzes wird laut BAG auch dadurch sichergestellt, dass der deutsche Gesetzgeber mit § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG für den Bereich der Zeitarbeit zwingend sicherstellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen, weil der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 Satz 1 BGB, der an sich abdingbar ist, im Bereich der Zeitarbeit nicht abbedungen werden kann. Auch habe der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Zeitarbeitnehmern staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten darf. Zudem sei seit dem 1. April 2017 die Abweichung vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts nach § 8 Abs. 4 Satz 1 AÜG zeitlich grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Zeitarbeitsverhältnisses begrenzt.
Das Zusammenspiel der gesetzlichen und tariflichen Regelungen hat insofern dazu geführt, dass der (behauptete) Nachteil bei der Vergütung neutralisiert wurde. Nicht zu entscheiden hatte das BAG über die Frage, ob sich die Einschätzung gegebenenfalls ändert, wenn nicht nur die Vergütung der Zeitarbeitnehmer von denen der Stammmitarbeiter abweicht, sondern auch andere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.
Fazit: Abweichungen mittels Zeitarbeitstarifverträge sind möglich
Allen Unkenrufen zum Trotz: Das BAG hat bestätigt, dass das AÜG und die Tarifwerke der Zeitarbeit europarechtskonform sind. Vom Gleichbehandlungsgrundsatz kann mittels der Zeitarbeitstarifverträge abgewichen werden – und das gilt nicht nur für Einsätze von unbefristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern, sondern auch für befristet Beschäftigte. Das Urteil hat insofern für mehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gesorgt.
Zwar wurden durch das Urteil nicht alle offenen Fragen geklärt, so dass die weitere Entwicklung abzuwarten ist. Klar ist jedoch, dass dieser Rechtsstreit endgültig beendet ist, da ver.di die zunächst erwogene Verfassungsbeschwerde gegen das BAG-Urteil nicht einreichen wird.