Das Thema
Ausgangspunkt der EuGH-Entscheidung (Urt. v. 15.12.2022 – C-311/21) ist die Klage einer Zeitarbeitnehmerin, die für ihre Arbeit bei einem Einzelhandelsunternehmen einen tariflichen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto erhalten hat. Sie machte geltend, dass vergleichbare Stammmitarbeiter des Entleihers einen tariflichen Stundenlohn in Höhe von 13,64 Euro brutto erhielten. Die Zeitarbeitnehmerin klagte daraufhin auf Zahlung der Differenz der verschiedenen Stundenlöhne über den Zeitraum ihrer Beschäftigung. Zur Begründung führte sie aus, dass die gesetzliche Regelung sowie die Zeitarbeits-Tarifverträge nicht europarechtskonform seien. Die nach der Zeitarbeitsrichtlinie (Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit) erforderliche Wahrung des Gesamtschutzniveaus für Zeitarbeitnehmer werde weder im AÜG erwähnt noch in den Zeitarbeits-Tarifverträgen beachtet. Daher seien sowohl die gesetzliche Regelung wie die Zeitarbeitstarifverträge unwirksam.
Die Klage der Klägerin wurde sowohl vom ArbG Würzburg (Urt. v. 08.05.2018 – 2 Ca 1248/17) als auch vom LAG Nürnberg (Urt. v. 07.03.2019 – 5 Sa 230/18) abgewiesen. Das BAG hingegen leitete ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zur Klärung der Frage ein, wie der in der Zeitarbeitsrichtlinie genannte Gesamtschutz der Zeitarbeitnehmer zu verstehen sei, d.h. unter welchen Bedingungen von dem Gleichbehandlungsgrundsatz des § 8 Abs. 2 AÜG abgewichen werden könne. Im Kern ging es bei den Vorlagefragen darum zu klären, ob und welche Vorgaben die Zeitarbeitsrichtlinie dem nationalen Gesetzgeber zum „Gesamtschutz von Zeitarbeitnehmern“ macht, welche Spielräume für die Tarifvertragsparteien bestehen und wie die bereits vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen (Lohnuntergrenze, Equal Pay nach neun Monaten Überlassungshöchstdauer etc.) zu bewerten sind.
Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH hat mit seiner Entscheidung vom 15.12.2022 wichtige „Leitplanken“ für die Auslegung des AÜG sowie der Zeitarbeitstarifverträge aufgestellt, die das BAG zukünftig wird beachten müssen. Im Kern hat der EuGH folgende Aussagen getroffen:
AÜG ist europarechtskonform
Der EuGH stellte nunmehr fest, dass das AÜG europarechtskonform ist, obwohl die Wahrung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer hierin nicht ausdrücklich angesprochen ist. Das AÜG ist aber europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass diese Anforderung für die auf Grundlage des AÜG erlassenen Tarifverträge grundsätzlich besteht.
Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz mittels Tarifvertrags ist zulässig – Einzelfallvergleich erforderlich
Der EuGH urteilte ferner, dass Zeitarbeitstarifverträge in Summe mit dem Niveau der Arbeits- und Entgeltbedingungen der jeweiligen Kundenbranche vergleichbar sein müssen. Wenn dies im Einzelfall nicht so ist, findet der Gleichbehandlungsgrundsatz (Equal Treatment) statt der Tarifbedingungen Anwendung. Ob eine solche Vergleichbarkeit gegeben ist, ist durch die deutschen Arbeitsgerichte in jedem Einzelfall („Branche für Branche“, nicht „Mitarbeiter für Mitarbeiter“) überprüfbar.
Damit hat der EuGH klargestellt, dass die Tarifverträge des BAP sowie des iGZ grundsätzlich eine wirksame Option zur Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz sind und lediglich eine Überprüfung im Einzelfall anheimgestellt. Die Zeitarbeitstarifverträge sind nicht insgesamt unwirksam. Damit ist auch klar, dass es kein „CGZP 2.0“ geben wird.
Unterscheidung zwischen unbefristeten und befristeten Arbeitsverträgen von Zeitarbeitnehmern
Bei dem vorzunehmenden Einzelfallvergleich ist zu berücksichtigen, dass Zeitarbeitnehmer, die unbefristet beim Verleiher beschäftigt sind, die Rechte und Leistungen aus dem jeweiligen Zeitarbeitstarifvertrag auch in verleihfreien Zeiten erhalten und somit abgesichert sind. In diesem Fall darf der Zeitarbeitstarifvertrag in gewissen Grenzen hinter den Arbeits- und Entgeltbedingungen der Kundenbranche zurückbleiben. Das „Weniger“ in Einsatzzeiten werde ggf. durch das „Mehr“ in verleihfreien Zeiten ausgeglichen. Ob dies jeweils ausreichend ist, ist im Einzelfall anhand eines Gesamtvergleichs zwischen den Arbeits- und Entgeltbedingungen des jeweiligen Zeitarbeitstarifvertrages einerseits und denjenigen des Kunden andererseits zu bestimmen.
Im Hinblick auf lediglich befristet beschäftigte Zeitarbeitnehmer ist der EuGH indes deutlich strenger: Hier müsse in dem Zeitarbeitstarifvertrag selbst jedes „Weniger“ gegenüber den Arbeits- und Entgeltbedingungen des Kunden durch ein „Mehr“ ausgeglichen werden; weniger Lohn also bspw. durch mehr Urlaub. Soweit dies nicht der Fall sei, könne durch diesen Zeitarbeitstarifvertrag jedenfalls für einen befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmer nicht von dem gesetzlichen Gleichbehandlungsgrundsatz abgewichen werden. Unklar ist jedoch noch, ob der vom EuGH verwendete Begriff der „befristeten Beschäftigung“ eine Befristung im Sinne des deutschen TzBfG meint oder eher mit „Synchronisation“ gleichzusetzen ist, d.h. nur für solche Fälle gilt, in denen das Arbeitsverhältnis des Zeitarbeitnehmers lediglich solange andauert, wie der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag mit dem jeweiligen Kunden. Jedenfalls in solchen Fällen kann ein „Weniger“ in Einsatzzeiten bei einem Kunden nicht durch ein „Mehr“ in verleihfreien Zeiten ausgeglichen werden.
Fazit
Es liegt nun am BAG die Vorgaben des EuGH für den dort vorliegenden Einzelfall in die deutsche Gesetzes- und Zeitarbeitssystematik zu übersetzen. Das BAG wird den Fall am 31.05.2023 verhandeln, so dass recht schnell mit einer (ersten) Klärung der offenen Fragen zu rechnen ist. Bis dahin ist es aufgrund der strengen Vorgaben des EuGH für Personaldienstleister empfehlenswert, auf den Einsatz befristet beschäftigter Zeitarbeitnehmer auf Grundlage eines Zeitarbeitstarifvertrages, also ohne Equal-Treatment-Anwendung, vorsorglich zu verzichten.