Das Thema
Neben einer Absicherung der Risiken Alter und Tod verfolgen betriebliche Versorgungssysteme regelmäßig auch das Ziel, eine Versorgung im Falle der Invalidität zu gewährleisten. Solche Zusagen sehen in der Regel vor, dass die Invalidenrente nur dann gezahlt wird, wenn der Versorgungsberechtigte
- invalide im Sinne der Versorgungszusage wird und zusätzlich
- aus den Diensten des Arbeitgebers ausscheidet.
Nachdem das BAG jedoch im Frühjahr 2021 entschieden hatte, eine per Gesamtzusage erteilte Versorgungszusage sei nach § 305c Abs. 2 BGB im Zweifel dahingehend auszulegen, dass bereits das Ruhen der beiderseitigen Hauptleitungspflichten genügt, um einen Anspruch auf die betriebliche Invalidenrente zu begründen (BAG, Urt. v. 23.03.2021 – 3 AZR 99/22, Rz. 16 ff.), und es nur wenige Monate später zu dem Ergebnis gelangt war, der vollständige Ausschluss einer betrieblichen Invalidenrente vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses stelle eine unangemessene Benachteiligung im Sinne des § 307 BGB dar (BAG, Urt. v. 13.07.2021 – 3 AZR 298/20, Rz. 36 ff.), bestand im Markt erhebliche Verunsicherung dazu, ob und innerhalb welcher Grenzen es überhaupt noch zulässig ist, den Bezug einer betrieblichen Invalidenrente an eine rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu koppeln.
Mit Urteil vom 10.10.2023 (3 AZR 250/22) hat das BAG seine Rechtsprechung nunmehr deutlich präzisiert und damit zugleich dem Mark ein erfreuliches Maß an Rechtssicherheit zurückgegeben.
Wann liegt Erwerbsminderung vor?
Bei der Ausgestaltung der Frage, ab wann eine Erwerbsminderung im Sinne der betrieblichen Versorgungszusage vorliegt, ist der Arbeitgeber grundsätzlich frei. Er ist insbesondere nicht verpflichtet, die Regeln der gesetzlichen Rentenversicherung zu kopieren. Es ist daher auch unschädlich, wenn die Anspruchsvoraussetzungen enger gefasst werden, als der Gesetzgeber dies in § 43 SGB VI für die „Rente wegen Erwerbsminderung“ vorsieht. Umgekehrt ist aber auch zu berücksichtigen, dass in der wörtlichen Übernahme sozialversicherungsrechtlicher Termini (z.B. des Begriffs der „vollen Erwerbsminderung“) in der Regel eine dynamische Bezugnahme auf die jeweiligen sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben zu sehen ist (ständige Rechtsprechung; vgl. nur BAG, Urt. v. 09.10.2012 – 3 AZR 539/10, Rz. 25 ff.; BAG, Urt. v. 13.07.2021 – 3 AZR 445/20, Rz. 17). Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise dann, wenn die Versorgungsordnung eine eigenständige, vom Sozialversicherungsrecht abweichende Definition des jeweiligen Begriffs enthält. Definiert der Arbeitgeber den Versorgungsfall hingegen nicht selbst, sondern umschreibt er ihn lediglich unter Verwendung sozialversicherungsrechtlich belegter Begriffe (z.B. desjenigen der vollen Erwerbsminderung), so liegt ein Versorgungsfall im Sinne der betrieblichen Zusage vor, wenn auch die sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 Abs. 2 SGB VI erfüllt sind (vgl. nur BAG v. 13.07.2021 – 3 AZR 445/20, Rz. 16 ff.).
Wie das BAG nunmehr im Rahmen seines Urteils vom 10.10.2023 nochmals klargestellt hat, gilt dies wegen der Dynamik der Bezugnahme im Übrigen auch dann, wenn der Arbeitgeber in seiner Zusage zunächst noch die bis zum 31.12.2000 maßgeblichen (nunmehr veralteten) Begriffe der „Erwerbsunfähigkeit“ bzw. der „Berufsunfähigkeit“ genutzt hat. Insofern ist mit dem in einer Versorgungsordnung ursprünglich verwendeten Begriff der Erwerbsunfähigkeitsrente mithin seit dem 01.01.2001 der Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gemeint (so auch bereits BAG v. 13.07.2021 – 3 AZR 445/20).
Rechtliche Beendigung als Voraussetzung?
Während der Dritte Senat in seinem Urteil vom 23.03.2021 noch die Auffassung vertreten hatte, eine per Gesamtzusage erteilte Versorgungszusage sei nach § 305c Abs. 2 BGB im Zweifel dahingehend auszulegen, dass bereits das Ruhen der beiderseitigen Hauptleistungspflichten nach Ablauf der Entgeltfortzahlung genüge, um einen Anspruch auf die betriebliche Invalidenrente zu begründen (vgl. BAG. v. 23.3.2021 – 3 AZR 99/20, Rz. 25), ist es in dem nunmehr entschiedenen Fall zu dem Ergebnis gelangt, die dort streitgegenständliche Versorgungszusage sei dahingehend auszulegen, dass eine Invalidenrente nur beansprucht werden kann, wenn das Arbeitsverhältnis auch rechtlich beendet ist. Ein bloßes faktisches Ausscheiden reiche nicht aus (vgl. BAG v. 10.10.2023 – 3 AZR 250/22, Rz. 18). In den Entscheidungsgründen heißt es hierzu wörtlich:
„Schon der Wortsinn des Begriffs ‚Ausscheiden‘ legt nahe, dass damit eine endgültige, rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses und nicht nur ein vorübergehendes Ruhen der Hauptleistungspflichten gemeint ist […]. Für dieses Verständnis […] spricht [auch] die identische Wortwahl in § 7 Abs. 1 [der Versorgungszusage]. [Hiernach] erhalten Ruhegeld wegen Erreichung der Altersgrenze Arbeitnehmer, die deshalb „aus dem Dienst […] ausscheiden“. Bei einem Ausscheiden wegen der Altersgrenze handelt es sich [aber] regelmäßig um ein endgültiges, rechtliches Ausscheiden.“
Überall dort, wo die Versorgungszusage ein Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis zur Voraussetzung sowohl für den Bezug der Invaliden- als auch der Altersrente macht, wird man sich mithin künftig unter Berufung auf das Urteil vom 10.10.2023 mit guten Argumenten auf den Standpunkt stellen können, dass der Begriff des Ausscheidens einheitlich im Sinne einer rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses auszulegen ist. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auslegung von Gesamtzusagen immer eine Frage des Einzelfalls und der konkreten Ausgestaltung der Zusage ist. Daher sollte bei Versorgungszusagen, die dem Anwendungsbereich des AGB-Rechts unterliegen und bei denen sich ein eindeutiges Auslegungsergebnis weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik der Zusage ergibt, ausdrücklich klargestellt werden, ob mit dem Ausscheiden
- die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder
- lediglich ein vollständiges Ruhen der Hauptleistungspflichten
gemeint ist. Erfolgt eine solche Klarstellung nicht und lässt sich auch aus der Systematik der Zusage hierzu nichts ableiten, ist weiterhin davon auszugehen, dass das BAG im Streitfall eine Auslegung zu Lasten des Arbeitgebers über § 305c Abs. 2 BGB vornehmen wird.
Unangemessene Benachteiligung?
Noch wichtiger als die oben dargestellte Klarstellung zur Auslegung ist jedoch, dass die im BAG-Urteil vom 13.07.2021 (3 AZR 298/20) scheinbar pauschal getroffene Aussage, ein „vollständiger Ausschluss einer betrieblichen Invaliditätsrente vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses [stelle] eine unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 BGB dar“, nunmehr durch die aktuelle Entscheidung vom 10.10.2023 (3 AZR 250/22) deutlich relativiert wurde. In den Entscheidungsgründen heißt es hierzu wörtlich:
„Die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Leistungsvoraussetzung […] benachteiligt den Kläger nicht unangemessen i.S.d. § 307 BGB. [Durch das Ausscheidenserfordernis wird auf die betroffenen Arbeitnehmer] zwar ein gewisser, aber kein unzumutbarer Druck zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgeübt. Sie sind nicht etwa gezwungen, über ihr Arbeitsverhältnis zu einem Zeitpunkt verbindlich zu disponieren und dieses aufzugeben, zu dem noch gar nicht feststeht, ob die Voraussetzungen für ihr betriebliches Ruhegeld erfüllt sind oder wie lange die Arbeitgeberin für eine Entscheidung über die materiellen Voraussetzungen des Ruhegeldes benötigt […]. [Die Versorgungszusage] knüpft an den Bezug der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente an. Dieser Termin lässt sich für die Arbeitnehmer eindeutig bestimmen. Die Arbeitgeberin verfügt nach der [Zusage auch] nicht über einen eigenen Prüfungszeitraum, der den Leistungsbeginn verzögern könnte. Der einzelne Arbeitnehmer kennt mit der Bewilligung der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente alle relevanten Umstände: seine gesundheitliche Situation, persönlichen Verhältnisse und das Rentenverfahren. Er kann diese Umstände bewerten und auf ihrer Grundlage entscheiden, ob er und wie lange er am Arbeitsverhältnis festhalten will […]. Wünscht er den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses, muss er im Gegenzug hinnehmen, in dieser Zeit kein Ruhegeld zu erhalten. Das berechtigte Interesse des Arbeitgebers, keine Doppelleistungen erbringen zu müssen und Planungssicherheit zu haben, ist dem Interesse des Arbeitnehmers am Bezug betrieblichen Ruhegeldes bei Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zumindest gleichgewichtig.“
Soweit die Entscheidung vom 13.07.2021 (3 AZR 298/20) bislang – insbesondere von Arbeitnehmervertretern – dahingehend verstanden wurde, dass jeder Ausschluss einer betrieblichen Invalidenrente vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses unwirksam sei, hat das BAG diesem Verständnis nunmehr eine klare Absage erteilt. Vielmehr soll es grundsätzlich mit § 307 BGB vereinbar sein, den Beginn einer betrieblichen Invalidenrente kumulativ sowohl vom Eintritt des biometrischen Ereignisses (der Invalidität) als auch davon abhängig zu machen, dass der Versorgungsberechtigte (rechtlich) aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet.
Dies gilt nach Ansicht des Dritten Senats im Übrigen auch dann, wenn die gesetzliche Erwerbsminderungsrente – was der Regelfall ist – nur befristet gewährt wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt sei es nicht unzumutbar, so das BAG, bei „Fortbestand des Arbeitsverhältnisses (noch) kein betriebliches Ruhegeld zu gewähren“.
Besonderheiten und Praxishinweise
Folgende Besonderheiten sind jedoch auch weiterhin zu beachten:
Sieht die Zusage vor, dass der Versorgungsberechtigte sein Arbeitsverhältnis zu einem Zeitpunkt beenden muss, zu dem er noch nicht sicher weiß, ob er später die Voraussetzungen für den Bezug einer betrieblichen Invalidenrente erfüllen wird, so ist hierin – auch nach dem aktuellen BAG-Urteil vom 10.10.2023 – weiterhin eine unangemessene Benachteiligung im Sinne des § 307 BGB zu sehen.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich alle vorgenannten BAG-Urteile auf dem Terrain der sog. arbeitsvertraglichen Einheitsregelung (d.h. der Gesamtzusage oder sonstiger allgemeiner Geschäftsbedingungen) bewegen. Beruht die Zusage dagegen auf einem Kollektivvertrag (einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung) ist weder § 305c Abs. 2 BGB noch der Angemessenheitsmaßstab des § 307 BGB anwendbar (vgl. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB). Vielmehr verfügen die Tarif- und Betriebsparteien bei der Ausgestaltung entsprechender Zusagen über einen deutlich weiteren Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum (vgl. auch LAG Düsseldorf, Urt. v. 12.08.2022 – 6 Sa 85/22).