Das Thema
Wird eine „arbeitnehmerlose“ SE ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in das Register eines Mitgliedstaats eingetragen, kann dieses Verfahren nachzuholen sein, wenn die SE nach ihrer Gründung herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union geworden ist. Ob eine solche Nachholungspflicht besteht, hängt davon ab, ob das Unionsrecht dies gebietet. Der erste Senat des BAG hat mit Beschluss vom 17.5.2022 (1 ABR 37/20 (A) den Gerichtshof der Europäischen Union insoweit um Vorabentscheidung ersucht.
Die (erste) Vorlagefrage betrifft einen Brennpunkt der bisherigen Diskussion im Schrifttum um die Erforderlichkeit der Nachholung eines Mitarbeiterbeteiligungsverfahrens bei einer Vorrats-SE. Abhängig von der Entscheidung in dem nun anhängigen Vorlageverfahren (C-706/22) und seiner weiteren Verfeinerung durch das BAG besteht ein nicht unerhebliches Risiko, dass für eine Vielzahl von bestehenden SE erstmalig Beteiligungsverfahren durchzuführen sind, wenn dieses bislang unterlassen wurde, weil die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG nicht vorlagen.
Ausgangspunkt: Gründung einer SE in Großbritannien durch mitarbeiterlose Gesellschaften
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob ein Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE einzuleiten ist, wenn diese bei ihrer Gründung weder eigene noch Arbeitnehmer in Tochtergesellschaften hatte.
Laut Sachverhalt wurde in Großbritannien durch Verschmelzung zweier mitarbeiterloser Gesellschaften eine SE (die „Holding-SE“) gegründet, Tochtergesellschaften gibt es nicht. Sie war ab 2013 alleinige Gesellschafterin einer mitbestimmten deutschen GmbH. Diese wird umgewandelt in eine KG, die Komplementärfunktion wird durch eine weitere SE (die „Management-SE“) wahrgenommen. Zu einem späteren Zeitpunkt verlegt die Holding-SE ihren Sitz nach Hamburg. Der Konzernbetriebsrat der SE & Co. KG (ohne unternehmerische Mitbestimmung) klagt auf Durchführung eines Beteiligungsverfahrens nach dem SEBG in der Muttergesellschaft. Beide SE sind mitarbeiterlos, in der KG sind 816 Arbeitnehmer tätig. In anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es ebenfalls Tochtergesellschaften, in den insgesamt etwa 2200 Arbeitnehmer beschäftigt sind.
Die zu klärenden Fragen durch den EuGH
Das BAG hält die Frage, ob ein Beteiligungsverfahren durchzuführen ist oder nicht, für klärungsbedürftig hinsichtlich der zugrunde liegenden Richtlinien, und legt dem EuGH die folgenden, verkürzt wiedergegebenen Fragen vor:
Ist bei Gründung und Eintragung einer SE ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahren dieses nachzuholen, wenn die SE herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften wird, die in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union Mitarbeiter beschäftigen? Falls ja, besteht eine zeitliche Begrenzung für eine solche Verhandlungsverpflichtung?
Ist das Recht des Sitzstaates für die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens maßgeblich, wenn die arbeitnehmerlose SE ursprünglich in einem anderen Mitgliedstaat gegründet wurde?
Begründung der Vorlage und Überlegungen des BAG zu einer Nachholungspflicht ohne zeitliche Begrenzung
Zur Begründung der Vorlagefragen führt das Bundesarbeitsgericht wie folgt aus: Das deutsche SEBG enthält nur eine Vorschrift über die Durchführung eines Beteiligungsverfahrens nach Gründung, namentlich § 18 Abs. 3 SEBG, der in Fällen struktureller Änderungen einschlägig ist. Dieser sei aber nicht anwendbar, da weder eine strukturelle Änderung eingetreten sei, noch ursprünglich eine Verhandlung durchgeführt wurde, die man hätte wieder aufnehmen können.
Die §§ 4 bis 17 sowie §§ 19 und 20 SEBG könnten allerdings möglicherweise analog angewandt werden, weil das Verhandlungsverfahren im Gründungszeitpunkt schlicht nicht durchgeführt werden konnte, dies aber mit der Übernahme mitarbeiterbeschäftigender Tochtergesellschaften möglich wurde. Die hierfür notwendige planwidrige Regelungslücke im SEBG bestehe aber nur, wenn das Unionsrecht eine Pflicht zur Nachholung der Verhandlungen in einem Fall wie dem Ausgangsfall geböte. Dies sei naheliegend, weil sowohl die Richtlinie als auch die SE-VO nach ihrer Konzeption davon ausgingen, dass die Gründung einer SE immer die Durchführung eines Verhandlungsverfahren voraussetzt.
Wenn eine solche Nachholungspflicht besteht, besteht diese aus Sicht des BAG ohne zeitliche Begrenzung; der Umstand, dass sich im Laufe der Zeit die Zahl der in einer Holding SE und ihrer Tochtergesellschaft tätigen Arbeitnehmer ändern kann, könne eine Pflicht zur nachträglichen Durchführung des Verhandlungsverfahrens nicht entfallen lassen.
Da im vorliegenden Fall der Sitzstaat nicht der Gründungsstaat ist stellt sich das BAG die Frage, welches Recht für etwaige nachzuholende Verhandlungen einzuhalten ist.
Risiko besteht: Erstmalige Beteiligungsverfahren ändern nachträglich Mitbestimmung im Aufsichtsrat
Die erste Vorlagefrage betrifft einen Brennpunkt der Diskussion im Schrifttum um die Erforderlichkeit der Nachholung eines Mitarbeiterbeteiligungsverfahrens bei einer Vorrats-SE.
Seit der Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 30.3.2009 (I-3 Wx 248/08) zur Zulässigkeit der Vorrats-SE als solcher, die eine Verpflichtung zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bereits impliziert, ist unentschieden geblieben, unter welchen Voraussetzungen ein solches durchgeführt werden muss.
Eine Auffassung knüpft insoweit starr an das geschriebene Recht an und bejaht eine Verhandlungspflicht nur, wenn ein Fall des § 18 Abs. 3 SEBG (sei es direkt oder analog) vorliegt, wobei hier im Einzelnen unklar ist, was genau unter einer strukturellen Änderung zu verstehen ist. Das BAG deutet in der vorliegenden Entscheidung im Einklang mit einer anderen in der Literatur vertretenen Auffassung an, dass letztlich bei jeder Situation, in der eine Vorratsgesellschaft erstmalig über ausreichende Mitarbeiter verfügt, um ein Beteiligungsverfahren durchzuführen, dieses auch durchzuführen sei.
Abhängig von der Entscheidung in diesem Vorlageverfahren (C-706/22) und seiner weiteren Verfeinerung durch das BAG besteht das Risiko, dass für eine Vielzahl von bestehenden SE erstmalig Beteiligungsverfahren durchzuführen sind, wenn dieses bislang unterlassen wurde, weil die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG nicht vorlagen. Ob dies tatsächlich zu einer relevanten Veränderung in der Mitbestimmung im Aufsichtsrat führt, ist maßgeblich von der Frage abhängig, welche Situation die Gerichte als maßgeblich ansehen. Denkbar ist hier einerseits auf die Situation des tatsächlich nachgeholten Beteiligungsverfahrens abzustellen, also bei Anwendung der Auffanglösung die Mitarbeiterzahlen/Unternehmensstruktur im Entscheidungszeitpunkt.
Andererseits ließe sich auch vertreten, dass auf den Zeitpunkt abzustellen ist, in der erstmalig die Durchführung eines Beteiligungsverfahren möglich wurde.