Das Thema
Das VG Hannover hat mit Urteil vom 9. Februar 2023 (10 A 6199/20) entschieden, dass die dauerhafte Erfassung und Verarbeitung von Leistungsdaten der Arbeitnehmer durch Amazon mittels einer Software rechtmäßig seien. Die Datenverarbeitung sei zur Steuerung der logistischen Abläufe erforderlich; die Datenerhebung ist daher rechtmäßig.
Der dauerhafte Einsatz einer Software zur Erfassung und Verarbeitung von Leistungsdaten der Arbeitnehmer kann im Einzelfall rechtmäßig sein, wenn es entscheidend auf schnelle und effiziente Arbeitsabläufe ankommt. Die vorliegende Entscheidung dürfte daher in Bezug auf Logistikunternehmen, die ihren Kunden feste Liefertermine garantieren, eine herausragende Bedeutung zukommen.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht Hannover die Berufung gegen das Urteil zugelassen. Es bleibt daher abzuwarten, ob die vorliegende Entscheidung auch nach Durchlaufen des Instanzenzuges bestehen bleibt.
Verwendete Software ermöglicht Erfassung und Auswertung von Teamleistungen und Individualleistungen
In dem Logistikzentrum der Amazon Logistik Winsen GmbH (nachfolgend „Klägerin“ genannt) in Winsen sind jeweils zwischen 1.700 und 2.200 Arbeitnehmer auf einer Fläche von rund 64.000 Quadratmetern mit der Abfertigung von Online-Bestellungen beschäftigt. Täglich werden dort rund 220.000 Pakete mit garantierten Lieferterminen an den Kunden versandt, was umgerechnet einem Faktor von 153 Paketen pro Minute entsprich.
Das Logistikzentrum ist in die Bereiche Wareneingang, robotergesteuerte Prozessplattform und Warenausgang unterteilt. Diese Arbeitsbereiche sind jeweils in verschiedene Prozesspfade wie z.B. die Entladung, Annahme und Einlagerung von Waren sowie die Entnahme und Verpackung von Waren in Pakete und die Sortierung dieser Pakete nach Transportdienstleistern untergliedert. Diese Prozesspfade sind über ein komplexes Fördersystem mit einer Gesamtlänge von ca. 25 km verbunden, über das Transportbehälter mit Artikeln teils manuell, teils automatisiert von einem zum nächsten Prozesspfad befördert werden. Bei der Verrichtung ihrer Arbeit auf den verschiedenen Prozesspfaden benutzen die dort eingesetzten Arbeitnehmer Handscanner, um jeden ihrer Arbeitsschritte zu dokumentieren.
Die mittels der Handscanner in Echtzeit erhobenen Daten werden von der Klägerin gespeichert und mit Hilfe der Software „Fulfillment Center Labor Management“ (FCLM) ausgewertet. Mithilfe der Funktionen von FCLM ist die Erfassung und Auswertung von Teamleistungen auf einem bestimmten Prozesspfad sowie von individuellen Leistungen der jeweiligen Arbeitnehmer möglich. Das Programm ermöglicht es ferner, auf Basis der ausgewerteten Daten Feedbackvorschläge zu generieren, die den Vorgesetzten übermittelt werden und sodann als Grundlage für Feedbackgespräche mit den Arbeitnehmern dienen.
Datenerfassung zur Einsatzplanung, für Personalentscheidungen und für Feedback erforderlich
Zu den Datenverarbeitungszwecken teilt die Klägerin mit, aktuelle und minutengenaue individuelle Leistungswerte der Arbeitnehmer würden bei der Steuerung der Logistikprozesse benötigt, um auf Leistungsschwankungen auf den einzelnen Prozesspfaden durch das Verschieben von Arbeitnehmern zwischen den Prozesspfaden und Arbeitsbereichen reagieren zu können. Dies sei erforderlich, um einen gleichmäßigen Warenfluss durch das gesamte Logistikzentrum und die Einhaltung sämtlicher Liefertermine gewährleisten zu können. Mittelfristig würden die Werte benötigt, um die Stärken und Schwächen der Mitarbeitenden zuverlässig erfassen und bei der flexiblen Einsatzplanung berücksichtigen zu können. Zudem ermögliche die Vorgehensweise die Schaffung objektiver und fairer Bewertungsgrundlagen für Feedback und Personalentscheidungen. An der streitgegenständlichen Datenerhebung und -verarbeitung bestehe daher ein berechtigtes Interesse.
Untersagung der Datenerfassung durch die Datenschutzbeauftragte in Niedersachsen
Mit Bescheid vom 28. Oktober 2020 untersagte die Beauftragte für Datenschutz in Niedersachsen (nachfolgend „Beklagte“ genannt) der Klägerin, aktuelle und minutengenaue Quantitäts- und Qualitätsdaten ihrer Arbeitnehmer ununterbrochen zu erheben und diese zur Erstellung von Quantitätsleistungs- und Qualitätsleistungsprofilen sowie für Feedbackgespräche und Prozessanalysen zu nutzen.
Die ununterbrochene Erhebung jeweils aktueller und minutengenauer Leistungsdaten der Arbeitnehmer sei wegen Verstoßes gegen § 26 BDSG rechtswidrig. Zwar sei die Datenerhebung und -auswertung geeignet, um die von der Klägerin damit verfolgten Zwecke zu erreichen, sie sei für die Erreichung dieser Zwecke jedoch nicht erforderlich. Um einschätzen zu können, ob ein gegenüber einem Kunden garantierter Liefertermin eingehalten werden könne, sei die Erfassung von Daten zur Art der Ware, zum Eingang der Ware, zum genauen Standort der Ware innerhalb des Logistikzentrums, zur für die Bearbeitung der Ware auf den verschiedenen Prozesspfaden durchschnittlich aufzuwendenden Bearbeitungszeit, zu dem Zeitpunkt, an dem sich die Ware an einem bestimmten Standort bzw. auf einem bestimmten Prozesspfad befinden müsse sowie zu dem vereinbarten Liefertermin ausreichend. Ergibt diese Auswertung eine Abweichung des tatsächlichen Warenstandorts von dem Standort, an dem sich die Ware nach der Vorberechnung befinden müsse, um den Liefertermin einhalten zu können, könne die Klägerin in den Bearbeitungsprozess eingreifen und gegebenenfalls mehr Arbeitnehmer auf dem Prozesspfad einsetzen, damit der Liefertermin noch eingehalten werden könne.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht Hannover.
Gericht hält Datenverarbeitung zur Steuerung der logistischen Abläufe für erforderlich
Der Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 2020 war materiell rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Denn die Datenerhebung und -verarbeitung durch die Klägerin war rechtmäßig.
Rechtsgrundlage der Datenerhebung und -verarbeitung durch die Klägerin ist Art. 88 Abs. 1 DS-GVO in Verbindung mit § 26 BDSG. § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG rechtfertigt die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten von Arbeitnehmern unter anderem dann, wenn dies für die Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist. Der Begriff der Erforderlichkeit sei in diesem Zusammenhang eng auszulegen. Inwieweit die Verarbeitung personenbezogener Arbeitnehmerdaten durch den Arbeitgeber zulässig ist, sei im Rahmen einer Interessenabwägung zu beurteilen. Damit die Datenverarbeitung rechtmäßig ist, müsse der Arbeitgeber an der Verwendung bestimmter Daten ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse haben. Dieses Interesse müsse aus objektiver Sicht so schwerwiegend sein, dass das Interesse der Arbeitnehmer am Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte zurücktritt.
Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung
Nach Ansicht des Gerichts diene die Datenerhebung und -verarbeitung durch die Klägerin einem legitimen Zweck, nämlich der Steuerung der Logistikprozesse, der Steuerung der individuellen Qualifizierung von Arbeitnehmern sowie der Schaffung objektiver Bewertungsgrundlagen für individuelles Feedback und Personalentscheidungen.
Die Datenverarbeitung sei auch ohne Weiteres dazu geeignet, diese legitimen Zwecke zu erreichen.
Die Datenverarbeitung sei auch erforderlich, um die mit ihr verfolgten Interessen der Klägerin zu wahren. Mildere Mittel, die das Recht der Arbeitnehmer auf den Schutz ihrer personenbezogenen Daten weniger stark beeinträchtigende, stünden der Klägerin nicht zur Verfügung. Den klägerischen Ausführungen sei dahingehend zu folgen, dass die gegenüber den Kunden garantierten Liefertermine ohne die streitgegenständliche Datenverarbeitung nicht eingehalten werden können.
Vor dem Hintergrund des erheblichen Paketaufkommens in dem Logistikzentrum der Klägerin sei es verständlich, dass die Bearbeitungsvorgänge auf den diversen Prozesspfaden und arbeitsbereichsübergreifend in Echtzeit so aufeinander abgestimmt sein müssen, dass Wartezeiten in der Warenbearbeitung entlang der gesamten Bearbeitungskette verhindert werden. Insbesondere sei es erforderlich, auf etwaige Verzögerungen in der Kette mit der Umverteilung von Arbeitnehmern mit hoher individueller Packleistung zu reagieren. Ohne die streitgegenständliche Datenverarbeitung könne es zu einem Warenstau im Bereich des Warenausgangs kommen, der zu empfindlichen Verzögerungen im Betriebsablauf führen würde. Die Größe der betrieblichen Räumlichkeiten, die Anzahl der dort beschäftigten Arbeitnehmer und die Komplexität der Prozessabläufe machten es erforderlich, dass personenbezogene Daten verarbeitet werden, um den Bearbeitungsprozess vom Wareneingang bis zum Warenausgang optimal aufeinander abstimmen und steuern zu können. Die kontinuierliche Durchführung von Feedbackgesprächen im Beschäftigtenverhältnis zähle zu den gesicherten Grundsätzen guter Mitarbeiterführung.
Erhobene Daten sind dem Kernbereich betrieblicher Planung zuzuordnen
Die Datenverarbeitung erweise sich auch als verhältnismäßig im engeren Sinne. Der mit ihr verbundene Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Arbeitnehmer aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG stehe nicht außer Verhältnis zu den mit ihr verfolgten schätzenswerten Interessen der Klägerin. Insbesondere seien die erhobenen Daten dem Kernbereich betrieblicher Planung zuzuordnen und rührten gerade nicht aus der Privat- oder gar der Intimsphäre der Arbeitnehmer her.
Die Einsichtnahme in die Daten sei zudem auf die den jeweiligen Arbeitnehmern zugeordneten Führungskräfte sowie einige wenige Arbeitnehmer der Personal- und Finanzabteilung der Klägerin begrenzt. Auch wenn die Auswertungen der Leistungsdaten zum Teil für Personalentscheidungen herangezogen werden, sei aufgrund der hohen Anzahl der derzeit offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt und aufgrund der Tatsache, dass sich dieser zunehmend zu einem „Arbeitnehmermarkt“ entwickelt, nicht davon auszugehen, dass sich die Arbeitnehmer aufgrund der Datenverarbeitung ununterbrochen um den Verlust ihres Arbeitsplatzes sorgen müssten, selbst wenn sie nicht den durchschnittlichen Anforderungen der Klägerin entsprechen. Daher sei die Intensität des Eingriffs in das Recht der Arbeitnehmer auf informationelle Selbstbestimmung nicht übermäßig hoch.
Software zur Erfassung und Verarbeitung von Leistungsdaten von Arbeitnehmern kann im Einzelfall rechtmäßig sein
Die vorliegende Entscheidung schafft für Unternehmen Klarheit darüber, das auch der dauerhafte Einsatz einer Software zur Erfassung und Verarbeitung von Leistungsdaten der Arbeitnehmer im Einzelfall rechtmäßig sein kann. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, bei denen es wie bei Amazon entscheidend auf schnelle und effiziente Arbeitsabläufe ankommt. Der vorliegenden Entscheidung dürfte daher in Bezug auf Logistikunternehmen, die ihren Kunden feste Liefertermine garantieren, eine herausragende Bedeutung zukommen.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht Hannover die Berufung gegen das Urteil zugelassen. Es bleibt daher abzuwarten, ob die vorliegende Entscheidung auch nach Durchlaufen des Instanzenzuges bestehen bleibt.
In jedem Fall ist Unternehmen dazu zu raten, die Arbeitnehmerinteressen bei der Entscheidung über den Einsatz einer solchen Software zur dauerhaften Erfassung und Verarbeitung von Leistungsdaten angemessen zu berücksichtigen und die vorgenommene Interessenabwägung sowie die Maßnahmen zum Schutze der Arbeitnehmerinteressen sorgfältig zu dokumentieren.