Das Thema
Eine interne Regel einer Gemeindeverwaltung, die es den Mitarbeitenden allgemein und undifferenziert untersagt, am Arbeitsplatz sichtbare religiöse oder weltanschauliche Zeichen zu tragen, kann nach Auffassung des EuGH (Urt. v. 28.11.2023 – C-148/22) damit gerechtfertigt werden, dass die Gemeindeverwaltung unter Berücksichtigung ihres spezifischen Kontexts ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld schaffen möchte. Maßgeblich sei, ob diese Regel unter Berücksichtigung ihres Kontextes und unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen geeignet, erforderlich und angemessen – mithin verhältnismäßig – ist.
Ausgangsverfahren
Im Ausgangsverfahren stritten die Klägerin, die seit dem 11.04.2016 für die Gemeinde zuletzt als „Büroleiterin“ tätig war, und die Gemeinde über die Wirksamkeit eines seitens der Gemeinde ausgesprochenen Verbots, am Arbeitsplatz sichtbare religiöse oder weltanschauliche Zeichen oder solche Zeichen zu tragen, die die politischen Überzeugungen erkennen lassen. Im Rahmen ihrer Tätigkeit kam die Klägerin nicht mit Personen in Kontakt, die die öffentlichen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Sie war vielmehr im Backoffice beschäftigt. Anfang Februar 2021 beantragte die Klägerin, ab dem 22.02.2021 am Arbeitsplatz ein Kopftuch tragen zu dürfen.
Die Gemeinde lehnte den Antrag der Klägerin in der Folgezeit ab und untersagte ihr vorläufig, bis zu dem Erlass einer allgemeinen Regelung, am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen.
Am 29.03.2021 änderte die Gemeinde ihre Arbeitsordnung sodann dahingehend, dass für die Mitarbeitenden fortan eine Verpflichtung zur „exklusiven Neutralität“ am Arbeitsplatz bestehe, die dahingehend verstanden werde, dass es allen Mitarbeitenden untersagt sei, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen zu tragen, die ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen erkennen lassen. Diese Regelung sollte unabhängig davon gelten, ob die Mitarbeitenden Publikumskontakt haben oder nicht.
Unterlassungsklage und Entscheidung des Arbeitsgerichts Lüttich
Die Klägerin erhob sodann vor dem Arbeitsgericht Lüttich Unterlassungsklage sowohl gegen die Entscheidung der Gemeinde in ihrem Einzelfall als auch gegen die Änderung der Arbeitsordnung mit dem Argument, darin liege eine Diskriminierung wegen ihrer Religion.
Das Gericht gab der Klage für den Zeitraum von der Entscheidung der Gemeinde an bis zum Zeitpunkt der Änderung der Arbeitsordnung statt. Es sah eine unmittelbare Diskriminierung der Klägerin wegen ihrer Religion als gegeben an, zumal die Gemeinde in der Vergangenheit das unauffällige Tragen religiöser Zeichen am Arbeitsplatz geduldet habe. Damit war es der Klägerin vorläufig erlaubt, am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen, solange sie im Backoffice arbeitet und keinen Publikumskontakt hat und solange sie keine Aufgabe ausübt, bei der sie Weisungen erteilt.
Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH
Das Arbeitsgericht Lüttich hatte jedoch Zweifel, ob eine Bestimmung in einer Arbeitsordnung, die für alle Mitarbeitenden einer öffentlichen Verwaltung unabhängig vom Vorliegen einer Tätigkeit mit Publikumskontakt, eine Verpflichtung zur „exklusiven Neutralität“ vorsieht, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Bestimmungen der RL 2000/78/EG, vereinbar ist. Es setzte das Ausgangsverfahren aus und legte diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Der Gerichtshof beantwortete die Vorlagefrage dahingehend, dass eine interne Regelung in der Arbeitsordnung, die es den Mitarbeitenden allgemein und undifferenziert untersagt, am Arbeitsplatz sichtbare religiöse oder weltanschauliche Zeichen zu tragen, damit gerechtfertigt werden kann, dass die Gemeindeverwaltung unter Berücksichtigung ihres spezifischen Kontexts ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld schaffen möchte, soweit die Regelung verhältnismäßig ist.
Allenfalls mittelbare Diskriminierung gegeben
Die Regelung stelle keine unmittelbare Diskriminierung dar, da sie unterschiedslos für die Bekundung aller religiösen, weltanschaulichen und politischen Überzeugungen gelte und alle Arbeitnehmer der Gemeinde gleichbehandele, indem sie ihnen untersagt, derartige Zeichen sichtbar am Arbeitsplatz zu tragen.
Die Regelung könne jedoch eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellen, wenn die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden. Eine mittelbare Diskriminierung liege gleichwohl dann nicht vor, wenn die Ungleichbehandlung durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt sei und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels erforderlich und angemessen sind (vgl. EuGH, Urt. v. 15.07.2021 – C-804/18 und C-341/10, NJW 2021, 2715).
Umsetzung der Neutralitätspflicht des öffentlichen Dienstes als legitimes Ziel
Ein legitimes Ziel sieht der EuGH vorliegend in der Umsetzung der Neutralität des öffentlichen Dienstes, der die Regelung in der Arbeitsordnung der Gemeinde letztlich dient. Insoweit sei jedem Mitgliedstaat ein Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung dieser Neutralität am Arbeitsplatz zuzuerkennen. Denn die RL 2000/78/EG lege lediglich einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf fest. Daher könne auch die von der Gemeinde vorliegend geforderte „exklusive Neutralität“ durch das genannte legitime Ziel grundsätzlich gerechtfertigt sein. Gerechtfertigt sein könne ebenfalls die Entscheidung einer Gemeinde, das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz generell zuzulassen oder nur dann zu verbieten, wenn mit der Tätigkeit Publikumskontakt einhergeht.
Verhältnismäßigkeit im Einzelfall maßgeblich
Zu prüfen sei jedoch in jedem Einzelfall, ob die Regelung verhältnismäßig ist.
Um keine mittelbare Diskriminierung darzustellen, müsse die interne Regel dazu geeignet sein, die ordnungsgemäße Umsetzung des von dem Arbeitgeber verfolgten Ziels zu gewährleisten. Dies setze voraus, dass das Ziel der „exklusiven Neutralität“, das sich die Gemeinde gesetzt hat, tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise von dieser verfolgt wird und dass sich das in der Arbeitsordnung festgelegte Verbot des Tragens jedes sichtbaren religiösen, weltanschaulichen oder politischen Zeichens auf das absolut Notwendige beschränkt. Dies sei von dem vorlegenden Ausgangsgericht zu prüfen. Sodann sei durch dieses eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen. Dabei seien auf Seiten der Klägerin das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 10 GRCh sowie das in Art. 21 GRCh geregelte Diskriminierungsverbot zu berücksichtigen. Auf Seiten der Gemeindeverwaltung sei der Grundsatz der Neutralität des Staates in die Abwägung einzubeziehen, dem mit dem in der Arbeitsordnung geregelten Verbot Genüge getan werden sollte.
Praxishinweis
Nachdem sich der EuGH in der Vergangenheit bislang lediglich mit der Bedeutung der RL 2000/78/EG für Unternehmen im Bereich des Privatrechts zu befassen hatte (vgl. z.B. Urt. v. 14.03.2017 – C-157/15, NJW 2017, 1087, dazu auch den EFAR-Beitrag „EuGH entscheidet zum Kopftuch am Arbeitsplatz“, oder EuGH, Urt v. 13.10.2022 – C-344/20, dazu auch den EFAR-Beitrag „Darf Beschäftigten das Tragen religiöser Symbole oder Kleidung verboten werden?“), befasst er sich nun erstmals mit der Bedeutung der Richtlinie für eine öffentliche Gemeindeverwaltung.
Festhalten an der bisherigen Rechtsprechungslinie
Wie bereits in seinen Entscheidungen in Bezug auf private Unternehmen nimmt der Gerichtshof auch im vorliegenden Fall eine trennscharfe Abgrenzung zwischen dem Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung und dem Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung vor.
Der Entscheidung lässt sich entnehmen, dass der öffentlichen Verwaltung – wie auch den privaten Unternehmen – ein Wertungsspielraum bei der konkreten Ausgestaltung eines Verbotes zum sichtbaren Tragen religiöser, weltanschaulicher oder politischer Zeichen am Arbeitsplatz zukommt. Denkbar sei zum einen ein vollständiges Verbot im Sinne einer „exklusiven Neutralität“ unabhängig vom Vorliegen einer Tätigkeit mit Publikumskontakt. Umgekehrt sei jedoch auch eine vollständige Erlaubnis zum sichtbaren Tragen religiöser, weltanschaulicher oder politischer Zeichen am Arbeitsplatz unabhängig vom Vorliegen einer Tätigkeit mit Publikumskontakt denkbar. Möglich seien daneben aber auch teilweise Verbote, die beispielsweise danach unterscheiden, ob eine Tätigkeit mit Publikumskontakt vorliegt oder nicht. Maßgeblich sei einzig, dass das legitime Ziel der Regelung von der Gemeindeverwaltung tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird und dass die im Einzelfall gewählte Regelung zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen (= verhältnismäßig im engeren Sinne) ist, was von den nationalen Gerichten zu prüfen ist.
Indem der EuGH lediglich ausführt, dass sich ein etwaiges Verbot des Tragens religiöser Zeichen am Arbeitsplatz auf das „absolut Notwendige“ beschränken muss, lässt er offen, ob ein solches nur für Mitarbeitende mit Publikumskontakt verhältnismäßig ist oder auch für im Backoffice tätige. Insoweit wäre eine unionsgerichtliche Klarstellung wünschenswert gewesen.
Insgesamt bleibt der EuGH seiner bisherigen Rechtsprechungslinie auch mit der vorliegenden Entscheidung treu, indem er den öffentlichen Verwaltungen – wie bislang auch den privatrechtlichen Unternehmen – weitreichende Gestaltungsspielräume bei der Ausgestaltung von Verboten des Tragens religiöser Zeichen am Arbeitsplatz einräumt und keine klaren Grenzen aufzeigt.
Keine zwingende Übertragbarkeit der Entscheidung auf nationales Recht
Zu beachten ist, dass aus der Entscheidung des EuGH nicht zwingend folgt, dass die Verbotsregelung in der Arbeitsordnung auch mit deutschem Recht, insbesondere mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit aus Art. 4 GG in Einklang steht. Dies wäre im Rahmen einer gesonderten Verhältnismäßigkeitsprüfung am Maßstab des Art. 4 GG zu beurteilen. Insoweit erscheint es naheliegend, dass eine Verbotsregelung nur für solche Mitarbeitenden verhältnismäßig ist, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Publikumskontakt haben und mithin überhaupt dazu im Stande sind, durch das Tragen religiöser Zeichen am Arbeitsplatz das Vertrauen der Bürger in die Neutralität der öffentlichen Verwaltung zu erschüttern. Ein absolut geltendes Verbot auch für Mitarbeitende ohne Publikumskontakt dürfte dagegen schon mangels Eignung zur Gefährdung der staatlichen Neutralität unverhältnismäßig sein.