Politiker kritisieren Arbeitskampf
„Der Bahnstreik darf nicht dazu führen, dass der Tarifstreit zwischen Gewerkschaft und Bahn jetzt über Wochen auf dem Rücken von Wirtschaft und Passagieren ausgetragen wird. Bei allem Respekt – dafür habe ich kein Verständnis mehr“, meinte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen) vergangene Woche im Tagesspiegel. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) kritisierte die GDL: „Man kann ja nicht sagen, man streikt, aber man verhandelt nicht“, meinte der Liberale im ARD-Morgenmagazin.
Kritik gibt es auch aus den Reihen der CDU/CSU-Opposition. So fordert etwa der Unionsfraktionsvize Ulrich Lange (CSU) in der Bild am Sonntag, dass „dieses Tarif-Theater … jetzt ein Ende haben“ muss.
Als Arbeitsrechtler reibt man sich bei derartigen Statements verwundert die Augen. Dass ein solches Chaos wie derzeit überhaupt entstehen kann, liegt an der Arbeitsverweigerung des Gesetzgebers. Aus der Wissenschaft gibt es mehrere Vorschläge, wie man Tarifauseinandersetzungen in vernünftige Bahnen lenken kann. Wo ein politischer Wille wäre, wäre also auch ein juristischer Weg.
Verfassungsrechtliche Vorgaben
Art. 9 Abs. 3 GG garantiert das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Dadurch werden nicht nur die freiheitliche Bildung der Koalitionen, sondern alle „koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere [der] Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen“ geschützt (BVerfG, Urt. v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15 u.A.).
Das alles bedarf aber der unterverfassungsrechtlichen Konkretisierung. Das Grundrecht unterliegt, wie das BVerfG ausführt, „von vornherein der gesetzlichen Ausgestaltung“. „Diese besteht nicht nur in der Schaffung der Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die erforderlich sind, um die grundrechtlich garantierten Freiheiten ausüben zu können“.
„Die Bedeutung und Vielzahl der von der Tätigkeit der Koalitionen berührten Belange im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung machen vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen können; dies umso mehr, als der Gegenstand der Gewährleistung auf sich wandelnde wirtschaftliche und soziale Bedingungen bezogen ist, die mehr als bei anderen Freiheitsrechten die Möglichkeit zu Modifikationen und Fortentwicklungen lassen müssen“ (BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981 – 1 BvR 404/78).
Vorschläge aus der Wissenschaft
„Der Gesetzgeber ist berufen, die Tragweite der Koalitionsfreiheit dadurch zu bestimmen, daß er die Befugnisse der Koalitionen im Einzelnen gestaltet und näher regelt“, so das Karlsruher Gericht (BVerfG a.a.O.). Dieser Pflicht ist er im Arbeitskampfrecht bislang nicht nachgekommen.
Er hat zwar in § 11 Abs. 5 AÜG Bestimmungen zum Einsatz von Leiharbeitnehmern während eines Arbeitskampfes geschaffen. Regelungen zur Zulässigkeit und Durchführung von Arbeitskämpfen selbst sucht man aber vergeblich. Dabei wäre ein solches Gesetz wahrlich kein Hexenwerk. Das zeigen die Vorschläge aus den Reihen der Wissenschaft.
Die Professoren Birk, Konzen, Löwisch, Raiser und Seiter haben bereits 1989 einen Entwurf für ein „Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte“ nebst Begründung erarbeitet. Der Entwurf versteht sich als „Kodifikation mit begrenzter Sachreform“. Er baut auf der Rechtsprechung des BAG auf und entwickelt auf dieser Basis das Arbeitskampfrecht behutsam weiter.
Kompromiss vor Kampf
Geleitet wird der Entwurf von dem Gedanken, dass Kompromisse gefördert werden und Arbeitskämpfe die Ausnahme bilden sollen.
In der rechtswissenschaftlichen Literatur hat das viel Zustimmung gefunden. Der ehemalige Präsident des BAG Prof. Dr. Gerhard Müller bezeichnete den Entwurf „mit seiner gründlichen und dabei relativ knappen Begründung“ als „wichtige(n) Beitrag zur Frage der gesetzlichen Regelung des Arbeitskampfrechts“ (DB 1989, 42).
Seine Hoffnung, dass die Ausarbeitung „hohe Beachtung“ findet und „nicht untergehen darf“, hat sich indes nicht erfüllt. Der Gesetzgeber hat die darin genannten Empfehlungen ignoriert.
Arbeitskämpfe in der Daseinsvorsorge
Ebenso erging es der Initiative der Professoren Franzen, Thüsing und Waldhoff, die 2012 den Entwurf eines „Gesetz(es) zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte in der Daseinsvorsorge“ vorgelegt haben. Er knüpft inhaltlich an den „Professorenentwurf“ aus dem Jahr 1989 an und ist geprägt durch das damalige Aufkommen der Spartengewerkschaften.
Die Zielrichtung dieses Entwurfs ist auf Arbeitskämpfe in der Daseinsvorsorge beschränkt. Gemeint sind damit Leistungen, auf die Menschen existenziell angewiesen sind. Dazu gehören Krankenversorgung, Müllabfuhr und Abwasserbeseitigung ebenso wie beispielsweise Verkehrs- und Beförderungseinrichtungen.
Viele Einrichtungen der Daseinsvorsorge sind nach wie vor in öffentlicher Hand. Das gilt auch für die Deutsche Bahn, die mittlerweile zwar als Aktiengesellschaft agiert, sich aber vollständig im Staatseigentum befindet. Anders als in der freien Wirtschaft treffen Arbeitskampfmaßnahmen den Arbeitgeber in diesen Fällen kaum. Damit verbundene finanzielle Einbußen trägt der Steuerzahler. Gewerkschaften und streikende Arbeitnehmer müssen sich bei überzogenen Forderungen ebenso wenig um ihren Arbeitsplatz sorgen wie bei massiven Streikschäden.
Pflicht zur Mindestversorgung
Bei Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge richtet sich der Druck gegen unbeteiligte Dritte, die auf die jeweiligen Leistungen angewiesen sind – bei der Deutschen Bahn gegen Passagiere und andere Kunden. Die können das Arbeitskampfgeschehen aber weder durch Gegenmaßnahmen noch auf dem Verhandlungswege beeinflussen. Sie sind Streiks damit hilflos ausgeliefert.
Vor diesem Hintergrund werden in dem Entwurf von 2012 verfahrensleitende Schritte vorgeschlagen, die darauf abzielen, dass die Tarifvertragsparteien ohne Arbeitskampfmaßnahmen zu einer Einigung gelangen. Sind solche Maßnahmen dennoch notwendig, soll sichergestellt werden, dass die elementare Grundversorgung der Allgemeinheit gewährleistet wird.
Die Tarifvertragsparteien werden daher unter anderem verpflichtet, gemeinsam dafür zu sorgen, dass Erhaltungs- und Notstandsarbeiten durchgeführt werden (§§ 10 und 11 des Entwurfs). Sie haben insbesondere in den Bereichen Nahrung und Gesundheit, Energie und Wasser, Verkehr, Post, Fernmeldewesen, Rundfunk und Fernsehen, Feuerwehr, Bestattung, Müllbeseitigung sowie bei der Landesverteidigung und der inneren Sicherheit eine Mindestversorgung sicherzustellen (§ 11 Abs. 2 des Entwurfs).
Aktuelle Reformvorschläge
Die genannten „Professorenentwürfe“ sind die bekanntesten Vorschläge zur Schaffung eines gesetzlichen Arbeitskampfrechts. Sie sind aber nicht die einzigen. Es gibt immer wieder Vorschläge, wie man diesen Themenbereich gesetzlich regeln kann.
So hat jüngst Alexander Zumkeller, in der Zeitschrift für Arbeitsrechtler in Unternehmen (ZAU 2024, 88ff) ein paar „Denksportaufgaben“ zum Arbeitskampfrecht gegeben. Seine Ausführungen enthalten auch Lösungsansätze „im Sinne einer Grundlage für eine Diskussion und vielleicht auch Anstoß über gesetzliche Regelungen“ nachzudenken, – so jedenfalls die Hoffnung des Präsidenten des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU e.V.)*.
Dazu gehört beispielsweise der Vorschlag, dass beim BAG eine „Kammer für Arbeitskämpfe eingerichtet“ wird, „die auf Anrufung einer Gewerkschaft, eines Arbeitgeberverbands oder eines Arbeitgebers (…) innerhalb von 48 Stunden“ feststellen soll, „ob eine durchgeführte oder angekündigte Arbeitskampfmaßnahme die Daseinsvorsorge mehr als erforderlich im Hinblick auf die Ziele des Arbeitskampfs beeinträchtigt“.
Kaum Hoffnung auf Besserung
Was Zumkeller schreibt, hat juristisch „Hand und Fuß“ und ist zugleich sehr praxisorientiert. Der Arbeitsrechtler ist aber auch Realist genug, um am Ende des Beitrags auf die von ihm selbst gestellte Frage „Wird etwas passieren?“ mit einem klaren „Nein“ zu antworten.
Er verweist auf eine Stellungnahme von Prof. Lena Rudkowsky in den RND-Nachrichten. „Gesetzliche Regelungen haben den Vorteil, dass sie transparenter sind als reines Richterrecht“, so die Gießener Rechtswissenschaftlerin. „Allerdings sind die Interessenunterschiede zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im Streikrecht so groß, dass es für den Gesetzgeber bequemer ist, die Vorgaben auch künftig den Gerichten zu überlassen.“
Genau so ist es leider! Allerdings geht es wohl eher um Angst vor der Kampagnenfähigkeit der Koalitionen bei Wahlkämpfen als um bloße Bequemlichkeit. Aber der Gesetzgeber kann nun mal seine Aufgaben nicht einfach auf die Gerichte abladen – egal aus welchen Gründen.
Gerichte sind kein Gesetzgeber
Den Gerichten fehlt die demokratische Legitimation, um verbindliche Regelungen aufzustellen. Und sie wollen diese Aufgabe auch gar nicht übernehmen.
Die Gerichte sind „grundsätzlich nicht befugt, neue, das Arbeitskampfrecht bzw. die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) einschränkende Regelungen zu erlassen, wenn und soweit der Gesetzgeber sich für ein Modell des freien Spiels der Kräfte entschieden habe“, heißt es etwa in einer Pressemitteilung des Hess. LAG (PM v. 12.3.2024 zum Urt. v. 12.3.2024 – 10 GLa 228/24; #EFAR-News v. 13.3.2024).
Wirtschaft und Bürger werden daher wohl auch künftig unter der Arbeitsverweigerung des Gesetzgebers leiden.
*Transparenzhinweis: Der Autor ist Mitglied im Beirat des BVAU.