Das Thema
In seinen beiden Urteilen vom 6. Juli 2022 (8 Sa 1150/20 , Parallelentscheidung u.a. zu 8 Sa 1148/20) hat das LAG Niedersachsen entschieden, dass Aufnahmen einer Videoüberwachungsanlage grundsätzlich nicht geeignet sind, um die geleistete Arbeitszeit der Mitarbeiter zu kontrollieren. Solche Daten unterliegen im Kündigungsschutzprozess einem Beweisverwertungsverbot.
Anders sah es das BAG und hob die Entscheidung mit Urteil vom 29. Juni 2023 (zur Pressemitteilung) wieder auf. Das LAG müsse die entsprechenden Videosequenzen berücksichtigen. Erfreulicherweise ist das BAG demnach der Auffassung des LAG Niedersachsen nicht gefolgt. Das steht im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob das BAG die Frage, ob aus Datenschutzverstößen ein Beweisverwertungsverbot folge, noch dem EuGH vorlegt.
Die Ausgangsfälle: Arbeitszeitbetrug, vorgetäuschte Anwesenheit u.a.
In beiden Fällen, die das LAG Niedersachsen zu entscheiden hatte, stritten die Parteien um die Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen fristlosen sowie hilfsweise ordentlichen fristgerechten verhaltensbedingten Kündigung. Der klagende Arbeitnehmer war bereits seit mehr als 25 Jahren bei der Beklagten, zuletzt in der Gießerei, beschäftigt. Die Beklagte stütze die Kündigung im Wesentlichen auf den Vorwurf, dass der Kläger an mehreren Tagen die Erbringung seiner Arbeitsleistung nur vorgetäuscht habe.
Hierzu habe er seinen Werksausweis einem Kollegen übergeben, den dieser dann vor das Lesegerät des elektronischen Zugangssystems am Werktor gehalten habe. Das hatte zur Folge, dass der Kläger während seiner gesamten Schicht als anwesend geführt und hierfür auch voll vergütet worden sei. Tatsächlich habe der Kläger – so der Vorwurf der Arbeitgeberin – seinen Arbeitsplatz viel zu früh verlassen. Außerdem bestehe der dringende Verdacht, dass andere Mitarbeiter den Kläger in Anwesenheitslisten als anwesend eingetragen haben.
Die Beklagte beruft sich auf Erkenntnisse aus einer Videoüberwachungsanlage und auf die Daten des in einer Betriebsvereinbarung geregelten elektronischen Zugangssystems.
Der Kläger bestritt, in den konkreten Schichten nicht gearbeitet zu haben. Er sei vor Ort anwesend gewesen und habe seine Arbeitsleistung erbracht. Zudem bestehe hinsichtlich der erhobenen Daten ein Beweisverwertungsverbot.
Die Entscheidung des LAG Niedersachsen
Das LAG wies die Berufung der beklagten Arbeitgeberin zurück und gab dem Arbeitnehmer Recht. Sowohl die außerordentliche fristlose als auch die ordentliche fristgerechte Kündigung des Klägers seien unwirksam.
Zwar stelle der Vorwurf, dass der Kläger wider besseres Wissen vorspiegelte, dass er seine Arbeitsleistung erbracht habe, grundsätzlich einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB dar. Jedoch könne die Arbeitgeberin diesen Vorwurf nicht beweisen.
Keine Verwertung der Daten aus elektronischem Zugangssystem
Der Beklagten sei es verwehrt, Daten, die sie mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung gewonnen habe, in das Verfahren einzuführen. Die Betriebsvereinbarung über die Einführung des elektronischen Zugangssystems enthalte die ausdrückliche Regelung, dass keine personenbezogenen Daten ausgewertet werden. Diese Regelung gelte unmittelbar und zwingend und räume den betroffenen Arbeitnehmern eigene Rechte ein.
Für den Kläger bestand die berechtige Erwartung, dass die mittels des elektronischen Zugangssystems gewonnen Daten nicht verwertet werden und insofern ein Beweisverwertungsverbot bestünde. Hieran ändere auch die nachträgliche ausdrückliche Zustimmung des Betriebsrats nichts.
Beweis durch Videoaufzeichnungen?
Auch die Aufnahmen der Videoüberwachungsanlage sowie die angebotenen Aussagen von Zeugen, die diese Aufzeichnungen angesehen und ausgewertet hätten, seien nach Ansicht des LAG Niedersachsen nicht verwertbar. Die Beklagte habe sich durch das Betriebskonzept, die gewonnenen Daten nur 96 Stunden aufzubewahren, selbst dazu verpflichtet, nur auf solche Videodateien zuzugreifen, die bei erstmaliger Sichtung nicht älter als 96 Stunden sind.
Indem die Beklagte auf mehr als ein Jahr alte Aufnahmen zurückgriffen habe, habe sie hiergegen verstoßen.
Verstoß gegen datenschutzrechtliche Regelungen
Auch unabhängig von einer Selbstbindung der Beklagten greife hinsichtlich der Videoaufnahmen ein Beweisverwertungsverbot, da eine Verwertung der Daten das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 verletzen würde. Nach § 26 Abs. 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses nur verarbeitet werden, wenn dies für die Entscheidung über die Begründung, die Durchführung oder Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses (Satz 1) oder zur Aufdeckung von Straftaten (Satz 2) erforderlich ist. Dies setzt voraus, dass die Verarbeitung und Nutzung der personenbezogenen Daten geeignet, erforderlich und angemessen ist.
Nach Ansicht des LAG Niedersachsen sei die Videoüberwachung bereits nicht geeignet, um den Nachweis eines Arbeitszeitbetruges zu führen: Die Aufzeichnungen dokumentieren nur den Zutritt und das Verlassen des Werksgeländes. Damit könne nur die Anwesenheit des Arbeitnehmers auf dem Betriebsgelände, nicht aber die tatsächlich geleistete Arbeitszeit nachgewiesen werden.
Außerdem sei die Videoüberwachung zur Kontrolle der Arbeitszeiten auch nicht erforderlich, da andere und mildere Mittel zur Verfügung stünden, die die Arbeitszeit verlässlicher dokumentieren. In Betracht käme z. B. eine Arbeitszeiterfassung durch Vorgesetzte oder mittels Stempelkarten.
Zuletzt sei die Videoüberwachung auch nicht angemessen. Die Intensität des Eingriffs steht nicht im Verhältnis zum Interesse des Arbeitgebers an der Überwachung. Die Auswertung von Videoaufzeichnungen, die teilweise bereits mehr als ein Jahr zurücklagen, widerspricht deutlich den Grundsätzen der Datenminimierung und Speicherbegrenzung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 DS-GVO. Danach dürfen nur so wenig personenbezogene Daten wie möglich verarbeitet und nur so lange aufbewahrt werden, wie für den festgelegten Zweck erforderlich.
BAG bewertet anders: LAG muss Videoaufnahmen berücksichtigen
Während die Vorinstanzen dem klagenden Arbeitnehmer recht gaben, hatte die hiergegen gerichtete Revision der Arbeitgeberin vor dem BAG (v. 29.6.2023, 2 AZR 296/22) Erfolg: Es hob die Entscheidung des LAG Niedersachsen auf und verwies die Sache an das Gericht zurück. Das LAG müsse nicht nur die Aussage des Arbeitgebers, dass der Arbeitnehmer das Werksgelände vorzeitig verlassen habe, sondern ebenso die entsprechenden Sequenzen aus der Videoüberwachungsanlage am Werkstor berücksichtigen. Das folge aus den einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften sowie nationalem Verfahrens- und Verfassungsrecht, so das BAG in seiner Pressemitteilung. (Anm. d. Redaktion: Nach Veröffentlichung des Volltextes der Entscheidung folgt weitere Bewertung hier im #EFAR).
Dabei spiele es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des BDSG oder der DS-GVO entspräche. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, wäre eine Verwertung der personenbezogenen Daten des Klägers nach der DS-GVO nicht ausgeschlossen. Das ist nach Ansicht des BAG jedenfalls dann der Fall, wenn es sich – wie hier – um eine offene Videoüberwachung handle und ein vorsätzliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers in Rede stehe. Hierbei ist irrelevant, wann der Arbeitgeber erstmals die Videodaten gesichtet habe.
Etwas anderes könne nur gelten, wenn die offene Videoüberwachung eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt, was vorliegend nicht der Fall sei.
Folgen für die Praxis
Trotz der für die Arbeitgeberin erfolgreichen Revision vor dem BAG, macht die Entscheidung des LAG Niedersachsen – für Arbeitgeber unerfreulich – einmal mehr deutlich, welche hohen datenschutzrechtlichen Hürden im Rahmen von Kündigungsschutzprozessen zu berücksichtigen sind. Obwohl am Arbeitszeitbetrug des Klägers keine Zweifel bestanden, waren die Kündigungen aufgrund datenschutzrechtlicher Regelungen unwirksam.
Sofern elektronische Zugangssysteme auch Anwesenheitszeiten der Arbeitnehmer erfassen sollen, sollten hierüber verbindliche Regelungen in einer Richtlinie, bei Bestehen eines Betriebsrats in einer Betriebsvereinbarung, getroffen werden. Das dürfte nach den bekannten Urteilen des EUGH und BAG sowie des Gesetzesentwurfs des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zur Arbeitszeiterfassung ohnehin sinnvoll sein, wenngleich Bestand und Fortkommen des letztgenannten Entwurfs aus dem BMAS derzeit völlig unklar ist.
In jedem Fall unzulässig ist eine nur präventive, lückenlose und dauerhafte Videoüberwachung der Arbeitnehmer (BAG v. 28.3.2019, 8 AZR 421/17). Eine (offene) Videoüberwachung in öffentlich zugänglichen Räumen des Arbeitgebers (z.B. in Verkaufsräumen) dürfte indes zulässig sein.
Arbeitszeitbetrug: Was tun bei Verdacht?
Besteht der Verdacht des Arbeitszeitbetrugs sollten Arbeitgeber – vor der Auswertung von Videoaufnahmen oder gar der heimlichen Videoüberwachung des Arbeitnehmers – stets alle Möglichkeiten ausschöpfen, die geeignet sind, den Arbeitszeitbetrug nachzuweisen.
Bei dem Verdacht des Arbeitszeitbetrugs, und insbesondere zur Vorbereitung auf eine hierauf gestützte verhaltensbedingte Kündigung, kommt eine umfassende Kontrolle der Arbeits- und Anwesenheitszeiten durch Vorgesetzte in Betracht. Um ein gegebenfalls parallel bestehendes Arbeitsdefizit zu ermitteln, kann flankierend auch sogenanntes „Micromanagement“ in Form von konkreten Zielvorgaben und engmaschigen Kontrollen von Arbeitsergebnissen, hilfreich sein.
Vorsicht bei Betriebsvereinbarungen
Die Ansicht des LAG Niedersachsen, dass sich ein Beweisverwertungsverbot bereits allein aus der Regelung in der Betriebsvereinbarung ergebe, dürfte indes im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung stehen.
Sowohl nach dem BAG (zuletzt v. 22.9.2016, 2 AZR 848/15; bereits v. 13.12.2007, 2 AZR 537/06) als auch nach der instanzgerichtlichen Rechtsprechung (z.B. LAG Köln v. 19.7.2019, 9 TaBV 125/18; LAG Hessen v. 24.11.2010, 8 Sa 491/10) führt ein Verstoß gegen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats oder eine Betriebsvereinbarung allein nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Das BAG scheint jedenfalls nach der Pressemitteilung zum Revisionsverfahren hieran ebenfalls festzuhalten.
Nichtsdestotrotz sollten Arbeitgeber beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen zu technischen Einrichtungen, wie Zugangs- oder Zeiterfassungssystemen, auf ein Verwertungsverbot verzichten und eindeutige Situationen festlegen, in denen eine Auswertung der Daten zulässig ist. Hierzu gehört etwa der begründete Verdacht von Pflichtverletzungen oder Straftaten.
Fazit
Erfreulicherweise ist das BAG der Auffassung des LAG Niedersachsen nicht gefolgt. Das steht im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung. Jedenfalls stellte es in einer vielbeachteten Entscheidung aus dem Jahr 2018 noch fest, dass „Datenschutz kein Tatschutz“ sei (BAG v. 23.8.2018, 2 AZR 133/18) und der rechtmäßig gefilmte Vorsatztäter zur Aufdeckung und Verfolgung seiner Tat nicht schutzwürdig ist. Die Speicherung solcher Videoaufnahmen ist nur ausnahmsweise nicht angemessen.
Fraglich erscheint auch, warum das LAG Niedersachsen zu dem Schluss kommt, dass die Videoaufzeichnungen nicht geeignet wären, die tatsächlich geleistete Arbeitszeit nachzuweisen: Verlässt der Arbeitnehmer schließlich das Werksgelände, kann er faktisch nicht arbeiten.
Zu berücksichtigen ist schließlich, dass sich das BAG mit seiner Entscheidung in Widerspruch zu den Leitlinien der Datenschutzkonferenz der Schutzbehörden von Bund und Ländern (Ziffer 4.1) sowie der Leitlinien des European Data Protection Boards (Rn. 121) setzt, die in der Regel eine Löschfrist für Videoaufnahmen nach 72 Stunden vorsehen. Das LAG Niedersachsen hat sich dem zumindest angenähert.
Es bleibt daher abzuwarten, ob das BAG die Frage, ob aus Datenschutzverstößen ein Beweisverwertungsverbot folge, dem EuGH vorlegt. Jedenfalls nach der Pressemitteilung hat das BAG in diesem Fall darauf verzichtet.