Das Thema
In der Zeitarbeit gilt bekanntermaßen qua gesetzlicher Anordnung der Gleichstellungsgrundsatz hinsichtlich der wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Entgelts – und zwar ab dem ersten Tag der Überlassung (§ 8 Abs. 1 AÜG). Der Zeitarbeitnehmer ist daher grundsätzlich mit einem vergleichbaren Stammbeschäftigten im Einsatzbetrieb gleich zu behandeln (equal treatment), insbesondere bei der Vergütung (equal pay).
Ist diese Regelung bzw. die rechtliche Konstruktion, Ausnahmefälle durch Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit zu schaffen, europarechtskonform? Das BAG hat in aktuellen Verfahren diese grundsätzlichen Fragen beantwortet – allerdings so vielschichtig wie es nur geht: Ein Verfahren findet nun den Weg zum EuGH nach Luxemburg, eine Revision wurde vom BAG zurückgewiesen (kein Anspruch auf equal pay) und einer Revision wurde stattgegeben (Anspruch auf equal pay besteht).
Wie wird der Gleichstellungsgrundsatz in der Praxis ausgeschlossen?
In der Praxis wird der Gleichstellungsgrundsatz durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit regelmäßig dauerhaft ausgeschlossen (§ 8 Abs. 2, 4 AÜG). Für das equal pay gilt dies nur einschränkend: eine abweichende Bezahlung der Zeitarbeitnehmer durch Tarifvertrag ist nur für die ersten neun Monate des Einsatzes bei einem Kunden zulässig; im Anschluss gilt zwingend die Gleichstellung. Eine Rückausnahme lässt der Gesetzgeber allerdings zu, wenn ein Branchenzuschlagstarifvertrag einschlägig ist.
Die gesetzliche Regel der vorgesehenen Gleichstellung stellt also de facto die Ausnahme dar. Bereits vor diesem Hintergrund schieden und scheiden sich weiterhin die Geister an der vom Gesetzgeber vorgesehenen Möglichkeit, die Gleichstellung von Zeitarbeitnehmern de facto auszuschließen bzw. einschränken zu können.
Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz europarechtskonform?
Zuletzt wurde immer wieder in Abrede gestellt, dass die gesetzliche Konstruktion mit europarechtlichen Vorgaben aus der Zeitarbeitsrichtlinie 2008/104/EG nicht in Einklang stehen solle, da die Tarifparteien nach den dortigen Bestimmungen lediglich ermächtigt seien, „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ (Art. 5 Abs. 3) Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu vereinbaren, die vom Gleichbehandlungsgrundsatz abwichen. Dieser Gesamtschutz werde aber – so das wesentliche Argument – nicht gewahrt, da die maßgeblichen Tarifverträge nur Bestimmungen zu Lasten des Zeitarbeitnehmers vom Gleichstellungsgrundsatz oder von sonstigen gesetzlichen Regelungen vorsähen. Das sei aber gerade nicht der von der Richtlinie verlangte “Gesamtschutz” bei der Ausgestaltung des Gleichstellungsgrundsatzes. Die Tarifdispositivität bzgl. der Gleichstellung gehe nur so weit, dass der tarifliche Schutz insgesamt gleichwertig sein bzw. die Grundstruktur der Regelung, von der abgewichen werde, erhalten bleiben müsse. Das Gestaltungsmittel der Verweisung auf einen Tarifvertrag, wie im deutschen Recht vorgesehen, sei zudem nicht durch die Richtlinie gedeckt, was sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck von deren Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie sowie den dort normierten Ausnahmen ergebe.
Die bisherige Bilanz der bekannt gewordenen Entscheidungen, in denen sich die Arbeitsgerichte mit diesen europarechtlichen Erwägungen haben befassen müssen, lässt sich bislang – zumindest aus Sicht der Branche – durchaus sehen. In drei streitigen Verfahren gab es im Instanzenzug drei klageabweisende Urteile. Kurz gesprochen: die Gerichte sahen die Argumentation, der Gesamtschutz der Zeitarbeitnehmer sei durch die Tarifverträge nicht einhalten worden, nicht als überzeugend an (vgl. LAG Baden-Württemberg v. 06.12.2018 – 14 Sa 27/18; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 18/2019 Anm. 4; LAG Nürnberg v. 07.03.2019 – 5 Sa 230/18; LAG Nürnberg v. 20.02.2019 – 2 Sa 402/18).
Was sagt nun das BAG? Es gab einen “bunten Strauß Blumen”!
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit war es nur eine Frage der Zeit, wann sich das BAG mit diesen Fragen befassen musste. Gegen sämtliche der drei o.g. Entscheidungen wurde Revision angelegt. Zwei bereits im Frühjahr 2020 anberaumte Termine zur mündlichen Verhandlung wurden aus dienstlichen Gründen verschoben. Aber bekanntermaßen gilt der Grundsatz: aufgeschoben ist nicht aufgehoben!
Am 16.12.2020 war es dann soweit: vor dem 5. Senat wurde – dann über alle drei Revisionen (Az. 5 AZR 22/195, AZR 143/195, AZR 131/19) – verhandelt und entschieden. Ein Schelm, der dabei Böses denkt, dass das BAG – mehr oder weniger – taggenau 10 Jahre nach dem berühmten CGZP-Beschluss vom 14.12.2010 der Branche ein weiteres, ggf. ungleich eingriffsintensiveres “Geschenk” unter den Weihnachtsbaum legen könnte, das es bei der hohen praktischen Bedeutung der gesetzlichen Abweichungsmöglichkeit vom Gleichstellungsgrundsatz wahrlich in sich hätte, wenn diese vom BAG nicht anerkannt wird.
Soweit ist es (zum Glück, kann man festhalten) nicht gekommen, noch nicht zumindest. Ein Verfahren findet den Weg zum EuGH nach Luxemburg, eine Revision wurde vom BAG zurückgewiesen (kein Anspruch auf equal pay) und einer Revision wurde stattgegeben (Anspruch auf equal pay besteht).
Vorlage an den EuGH
In einem der Rechtsstreite hat das BAG den EuGH im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV angerufen (Az. 5 AZR 143/19 (A); Vorinstanz: LAG Nürnberg v. 07.03.2019 – 5 Sa 230/18 – zur Pressemitteilung des BAG).
In der dazu vom BAG veröffentlichten Pressemitteilung heißt es, dass es Art. 5 Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie den Mitgliedsstaaten gestatte, den Sozialpartnern die Möglichkeit einzuräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern beim Arbeitsentgelt und den sonstigen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abwichen. Eine Definition des “Gesamtschutzes” enthalte die Richtlinie nicht, sein Inhalt und die Voraussetzungen für seine “Achtung” seien im Schrifttum umstritten.
Zur Klärung der im Zusammenhang mit der von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG verlangten Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern aufgeworfenen Fragen werde das Verfahren dem EuGH vorgelegt – und davon hat der 5. Senat zahlreiche. Der Katalog ist lang und inhaltlich komplex (wie nicht anders zu erwarten) – beginnend mit der Frage, wie der Begriff des „Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ definiert wird, und endend mit der Frage, ob die nationalen Gerichte Tarifverträge, durch die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen werden kann, mit Blick auf die “Autonomie der Sozialpartner“ nur beschränkt überprüfen können.
Wie wird es weiter gehen?
Dass das BAG den EuGH einschaltet, kam aufgrund der maßgeblichen europarechtlichen Erwägungen und der rechtlichen Anbindung von § 8 Abs. 2, 4 AÜG an die Zeitarbeitsrichtlinie wenig überraschend, aber wie geht es nun weiter? Der EuGH wird sich den vom 5. Senat gestellten Fragen annehmen und diese beantworten. Wann dies geschehen wird, kann nicht sicher prognostiziert werden. Mit einer Entscheidung dürfte noch im Jahr 2021, spätestens im ersten Halbjahr 2022 gerechnet werden. Inhaltlich ist es nahezu unmöglich seriös vorherzusagen, wie der EuGH auf die Fragen des BAG inhaltlich reagieren wird. An dieser Stelle die Karten über den möglichen Ausgang des Vorlageverfahrens in Luxemburg zu legen, wäre reine Spekulation.
Der 5. Senat wird auf Grundlage der Antworten des EuGH eine Sachentscheidung zu treffen haben, die im Zweifel “schwarz” (Stattgabe der Klage bzw. der Revision) oder “weiß” (Abweisung der Klage bzw. Zurückweisung der Revision) sein wird. Bei der “weißen Variante” wäre die Welt für die Zeitarbeit (weiterhin) in Ordnung – die gesetzlichen Vorschriften nach § 8 AÜG wären europarechtskonform. Es würde sich nichts ändern. Die “schwarze Variante” bedeutet hingegen, dass die Bestimmungen nach § 8 AÜG nicht europarechtskonform ausgelegt werden können oder diese sogar europarechtswidrig sind; mangels einer wirksamen gesetzlichen Rechtsgrundlage wäre der Gleichstellungsgrundsatz durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit oder entsprechende arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf diese nicht wirksam ausgeschlossen worden. Dies hätte zunächst für den an dem Verfahren beteiligten Kläger zur Folge, dass der Personaldienstleister verpflichtet wäre, diesem das geltend gemachte equal pay nachzuzahlen. Auf dieses wären (selbstverständlich) Sozialversicherungsbeiträge abzuführen.
Warum die Zeitarbeitsbranche zittern muss
Brisant wäre jedoch, dass durch ein entsprechendes Urteil – über die anhängige Revision und den dort behandelten Einzelfall hinaus – feststünde, dass das von der Zeitarbeitsbranche mehr oder weniger flächendeckend gelebte Modell der Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes rechtlich nicht belastbar ist. Dies bedeutet, dass Zeitarbeitnehmer die jeweiligen Personaldienstleister auf Grundlage der Entscheidung des BAG auf die Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes ab dem ersten Tag des Kundeneinsatzes (und nicht erst nach dem vollendeten 9. Einsatzmonat) in Anspruch nehmen können (auch für Zeiträume, die vor der Entscheidung des BAG liegen); freilich werden Nachzahlungsansprüche in diesem Fall durch Ausschlussfristen begrenzt, die in jedem Arbeitsvertrag – unabhängig von der Inbezugnahme von Tarifverträgen – konstitutiv vereinbart worden sein sollten. Im Vorgriff auf eine etwaige Entscheidung des EuGH und darauf aufsetzend des BAG sollten die Personaldienstleister die verbleibende Zeit nutzen, um die verwendeten Arbeitsverträge nochmals auf deren rechtliche Belastbarkeit hinsichtlich der wirksamen Vereinbarung einer Ausschlussfrist zu überprüfen und diese im Bedarfsfall für Neueinstellungen und im Zweifel für Bestandsmitarbeiter anzupassen.
Kritischer als die jeweils geltend zu machenden individualrechtlichen Nachzahlungsansprüche von Zeitarbeitnehmern ist, dass die DRV im Rahmen von Prüfungen unabhängig davon entsprechende Sozialversicherungsbeiträge nachverlangen kann – und zwar auf die gesamte betroffene Population für mindestens die letzten vier zurückliegenden Kalenderjahre. Wie bei der CGZP wird bei einer Inanspruchnahme zu klären sein, ob die Personaldienstleister Vertrauensschutz in Anspruch nehmen können – diesmal nicht gerichtet auf einen vermeintlich wirksamen Tarifvertrag, sondern auf eine vermeintlich wirksame gesetzliche Bestimmung. Fraglich ist allerdings, wie hoch der “Verfolgungswille” sein wird. Die von der CGZP abgeschlossenen Tarifverträge waren bereits von Beginn umstritten; die Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft war von vornherein zweifelhaft. Es bestand ein hohes politisches Interesse daran, Dumpingtarifverträge von “Scheingewerkschaften” im Bereich der Zeitarbeit zu verhindern und gegen diese aktiv vorzugehen. Die Interessenlage dürfte aber vorliegend eine andere sein. In der Zeitarbeitsbranche hat sich in den letzten 10 Jahren – und zwar im positiven Sinne – viel getan. Dies gilt sowohl für die tarifvertraglichen als auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das hiesige Szenario, einen “Fehler” des Gesetzgebers in wirtschaftlicher Hinsicht den unbedarften und gutgläubigen Rechtsanwendern aufzulasten, dürfte mit der Anwendung von parteiautonom geschlossenen bzw. in Bezug genommenen “Scheintarifverträgen” kaum vergleichbar sein, so dass zumindest die berechtigte Erwartung besteht, dass der “Verfolgungsdruck” ein anderer sein wird (nämlich keiner!) als seinerzeit bei der Tarifunfähigkeit der CGZP.
Zurückweisung der Revision
In der Revision gegen das Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 06.12.2018 (Az. 5 AZR 22/19; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 18/2019 Anm. 4) hat der 5. Senat in der Sache entschieden und diese zurückgewiesen. Damit wurde die zweitinstanzliche klageabweisende Entscheidung im Ergebnis bestätigt. Laut Berichten aus der mündlichen Verhandlung standen Ausschlussfristen den equal pay-Ansprüchen entgegen; auch soll der Vortrag des Klägers zur Begründung der Klage nicht hinreichend gewesen sein. Auf etwaige europarechtliche Fragen kam es in dem Verfahren nicht mehr an, so dass eine Vorlage an den EuGH unterbleiben konnte.
Teilweise Stattgabe der Revision
In diesem Revisionsverfahren gegen das Urteil des LAG Nürnberg vom 20.02.2019 (Az. 5 AZR 131/19) wurde die zweitinstanzliche Entscheidung, in der ein equal pay-Anspruch noch abgelehnt wurde, vom 5. Senat aufgehoben und der Klage im Ergebnis teilweise stattgegeben. Das BAG hat sich – so die Berichte aus der mündlichen Verhandlung – auf die erst am 16.10.2019 vom 4. Senat entwickelte Rechtsprechung berufen, nach der vom Gleichstellungsgrundsatz nur dann abgewichen werden kann, wenn für den Überlassungszeitraum das einschlägige Tarifwerk für die Arbeitnehmerüberlassung aufgrund einer Bezugnahme vollständig und nicht nur teilweise anwendbar ist (Az. 4 AZR 66/18; ausführlich dazu: Bissels, NZA 2020, 427 ff.). Im Arbeitsvertrag waren im konkreten Fall wohl Abweichungen von den tariflichen Bestimmungen zu Lasten des Klägers vereinbart worden. Auch in diesem Zusammenhang kam es auf europarechtliche Fragen nicht mehr an, da – unterstellt die gesetzlichen Bestimmungen nach § 8 AÜG wären europarechtskonform – der Gleichstellungsgrundsatz bereits aufgrund Erwägungen zur Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts nicht wirksam abbedungen worden ist. Eine Vorlage an den EuGH konnte folglich unterbleiben.